Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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September 2002
Die dunklen Wanderer
von Alf Stiegler


Der Wind hatte Augen. Zweifellos. Haelwyn jedoch tat sich schwer dies zu akzeptieren. Seine Schritte federten leicht über das warme Gras und seine glitzernden Augen flogen über die Apfelbäume, die sich in dem wild bewachsenen Tal niedergelassen hatten. Er konnte Myannahs Sorge nicht nachempfinden, spürte diese aber als schwere Last auf sich ruhen.

„Was glaubst du könnte es sein?", es war ungewohnt für ihn, dem besonnen Gang des Mädchens nicht immer wieder vorauszueilen, aber das erschien ihm jetzt nicht richtig.

Myannah berührte ihn sanft an der Wange und lächelte ihn an.

„Ich glaube gar nichts, es ist nur ein Gefühl, es...lass dich davon nicht zu sehr verunsichern."

Sie wollte ihn beruhigen, er konnte es spüren. Ihre großen grauen Augen versuchten ihn aufmunternd anzusehen, doch er erblickte etwas darin was er kaum kannte, was ihn dafür um so mehr verstörte. Zu gerne wollte er losrennen, in den Wald spähen, der sich am Horizont abzeichnete um zu sehen was es dort Neues gab, welche Geschichten auf ihn warteten. Aber er konnte nicht, Myannahs Unruhe schwappte auf ihn über und er zwang sich mit ihr zu gehen.

„Dann lass uns umkehren, wir halten uns links von der Sonne und wandern in den Bärenwald!" nur von dem Gedanken begannen seine Augen zu funkeln, „Ich wollte ihn dir schon immer zeigen, Myannah, er schmiegt sich an einen sanft ansteigenden Hügel und die Kalksteinfelsen die ihn überziehen, sind von Gewächsen aller Farben umwachsen – eisige, blaue Bäche tanzen hindurch und.... hast du schonmal einen Eisvogel gesehen? Sie sind höflich und zuvorkommend und nicht halb so ungestüm wie etwa die Stare hier..."

Er verstummte als sie einfach stehen blieb. Der ängstliche Ausdruck ihrer Augen schien sich wie eine schwarze Decke über ihren zierlichen Körper zu werfen.

„Glaubst du, das würde etwas ändern?

Der Wind ist schon seit Tagen kühler als er es sein sollte und...ich mag seinen Geruch nicht." Hilfesuchend fasste sie nach Haelwyns Hand. Er erschrak als er spürte, wie sie zitterte. So hatte er sie noch nie erlebt.

„Ich glaube nicht, daß es aus einer bestimmten Richtung kommt – es wird stärker, Haelwyn, und was es auch sein mag, ich befürchte das wir ihm nicht so einfach davonrennen können."



Er schwieg. Sie hatte recht. Wenn er es sich auch noch so sehr dagegen sträubte, die Luft war anders, es war etwas in ihr – etwas, das da nicht hingehörte.



Er konnte den Ruck förmlich sehen, der Myannah durchströmte und die Angst von ihr fortzuscheuchen schien. Ihr honigfarbenes, kindliches Gesicht erstrahlte in dem weichen Lächeln, das Haelwyn so an ihr liebte – es besteht noch Hoffnung, schien es zu sagen, es wird alles wieder gut.

„Außerdem müssen wir weitergehen, ich kann die Erde atmen hören – ganz in der Nähe wartet ein neues Leben darauf die Welt zu erblicken und ich muß zu ihm – muß ihm helfen, selbst wenn Sie die ganze Welt um uns verschlingen würden."

Sie. Damit sprach sie endlich die stumme Angst aus, die sich über sie wölbte wie ein brüchiger Felshang. Sie. Haelwyn glaubte nicht an Sie, nicht wirklich, aber der bittere Geruch, den der Wind mit jeder Bö herantrug unterspülte seine Sicherheit mit jedem Schritt. Myannah aber fürchtete Sie und zwar so sehr, daß sie nichteinmal ihren Namen auszusprechen wagte. Die dunklen Wanderer.

Trotzdem war sie es, die Haelwyn Mut machen musste.

Tapfere, kleine Myannah.

Wenigstens die Erde atmete wieder. Sie waren nun schon fast zwei Monde unterwegs seit Myannah das letzte mal die Erde atmen hörte und tief im inneren hatte er befürchtet, daß ein Zusammenhang zwischen dem bitteren Wind und der stummen Erde bestehen könnte....

Düsterer Schatten von Jenseits der Zeit – Verpester der Luft und Vergifter der Erde....

Nein, er dachte den Vers nicht zuende. Die Erde atmete, also konnten sie es nicht sein, durften es nicht sein – den Hauch von Zweifel ignorierte er einfach.



Er sah sich um und erblickte die kleine Versammlung von Apfelbäumen, die sich schon von Weitem abgezeichnet hatte. Diesmal aber wollte er sich aber nicht auf den behäbigen Gang des Mädchens einlassen. Alle Sorgen vergessend ergriff er ihre Hand und zog sie einfach mit sich als er seine leichtfüßigen Schritte beschleunigte. Trotz des seltsamen Geschmacks der Luft tummelten sich darin die Düfte von Moos, Rinde und den rotbackigen Äpfeln die sich in Trauben an die Äste der Bäume klammerten. Haelwyn flog geschickt an den Blumen vorbei, die sich schüchtern im wilden Gras verbargen. Myannah jedoch tat sich sehr schwer diesem raschen Schritt zu folgen und wäre beinahe über einen kleinen Ginsterbusch gestolpert. Nichts desto trotz leuchteten ihre Wangen ebenso vergnügt wie die der dicken Äpfel als sie an der Baumgruppe angelangt waren. Haelwyn stützte sich an einem knorrigen Stamm ab und schnaufte.

„Hallo, Freund Baum!"

Freundliches Rascheln und Knarren drang aus der dicht belaubten Krone. Haelwyn lehnte sich rücklings an die vom Alter zerfurchte Rinde und grinste Myannah an.

„Komm schon, sei nicht so schüchtern – ich bin sicher mein alter Freund hier hat eine kleine Wegzehrung für uns"

Er breitete beide Arme aus und lies die offenen Handflächen nach oben sehen. Dabei wurde sein Grinsen so breit, daß Myannah unweigerlich Lachen mußte. Jetzt war er wieder ganz der vergnügte kleine Junge und die Grübchen in seinen Wangen verliehen ihm diese unbetrübliche Ausstrahlung. Ehe Myannah etwas erwidern konnte fielen zwei stattliche Herbstäpfel in die Handflächen des Jungen.

„Hab Dank Freund Baum!" er blickte zu ihr rüber und rammte sich seine apfelbeladenen Hände übertrieben in die Hüften, „Na was? Soll ich die etwa ganz alleine essen? Willst du unseren Gastgeber beleidigen?"

Ohne auf sie zu warten lies sich Haelwyn auf den Boden nieder. Als sie sich selbst am Stamm herabgleiten lies, drängte sich das Gras an der Wurzel zusammen und bereitete ihr ein weiches Polster. Dankbar schmiegte sie sich sowohl an Gras, an Rinde und natürlich an Haelwyn der schon zufrieden schmatzte als sie ihm noch den appetitlichen Apfel aus der Hand klauben musste.

Sie verzehrten die süße Frucht schweigend und dankbar. Als sie fast fertig war, bemerkte Myannah, daß der Baum immernoch raschelte und knarrte, obwohl Haelwyn gar nichts mehr zu ihm gesagt hatte. Also bat sie ihn, daß er ihr das doch übersetzen möge.

„Oh das. Nun, er sagt immer noch >Guten Tag!<"



Haelwyn hatte seine Sorgen schon beinahe vergessen. Sobald er sich in der Zwiesprache mit der Natur befand, konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen. Myannah beneidete ihn um diese Fähigkeit. Sie sah sehnsüchtig in sein verträumtes Gesicht wie er so da lag und der unendlich langsamen Sprache des Baumes lauschte. Seine Haare müßten schon lange wieder einmal geschnitten werden. Sie hingen ihm in unordentlichen Büscheln über die Ohren und in die Augen. Haelwyn war das egal, sauber mußten sie sein, nicht kurz. Trotzdem schnitt er sie sich gelegentlich, wenn auch nicht aus Gründen der Körperästhetik, er hielt es einfach für praktischer. Ein Glück, daß sich kein einziges Baarthaar auf sein Gesicht wagte und das obwohl er schon zwanzig Jahre alt war. Sie schmiegte sich an ihn, sog den Duft von Laub, Erde und Moos ein den er ausströmte und wünschte sich von Herzen dieser bittere Geschmack in der Luft möge nur eine Täuschung sein, eine Einbildung, ein Alptraum, irgend etwas. Sie wußte das Sie es durchaus sein konnten. Ja die Erde atmete wieder, aber es war nur ein schwacher Hauch von Leben, der nach ihr rief und dieser Ruf schien mit demselben bitteren Geschmack durchsetzt zu sein wie die Luft. Doch das würde sie Haelwyn nicht sagen. Er ertrug es nicht wenn sie beunruhigt war oder sich fürchtete und sie ertrug seine liebenswerten aber hilflosen Versuche noch viel weniger, mit denen er sie aufzumuntern versuchte. Ihr Herz wurde immer schwerer als sie ihn so ansah. Er hatte die Augen geschlossen. Ob er immernoch dem Baum lauschte oder schlief wußte sie nicht. Sie küsste ihn auf die Wange – er lächelte ohne die Augen aufzuschlagen. Oh, wenn sich die Prophezeiungen doch nie erfüllten... könnte die Welt nicht für immer so sein wie sie es jetzt ist? Sie dürfen nicht kommen, sie sollen für immer da bleiben wo sie jetzt sind - >Düsterer Schatten von Jenseits der Zeit...< nein das darf einfach nicht sein...

Sie zuckte zusammen als sie den Atem der Erde so plötzlich spürte...er war so kalt. Sie begann zu zittern. Die Dämmerung senkte sich allmählich über die weiten Felder mit dem spärlichen Baumbewuchs, als ihr Geist in den Boden tauchte. Sie sah die Gräser, die noch ungeboren in ihren Samen schlummerten, sah Haselnüsse, Kirschkerne und Blumenzwiebeln, erkannte den dichtbewachsenen Busch, zu dem eine schwächliche, kleine Haselnuß heranwachsen würde und ertastete all die genügsamen Käfer und Würmer, die nur darauf warteten, aus ihren Eiern zu schlüpften und zu stattlichen Larven erstarkten. An all dem flog ihr Geist vorbei, sie suchte das neue Leben. Dasjenige, das die Welt noch nicht gesehen hatte und von der Welt noch nicht gesehen wurde – sie würde es in der Erde erspüren, bevor es überhaupt da war und sie würde ihm erklären was seine Bestimmung war – wer es sein würde. Ich bin die Mutter der Welt. Der Satz aus ihrer Kindheit flog ihr beinahe zwangsläufig entgegen.

Beinahe glaubte sie schon den Atem wieder verloren zu haben, doch dann fasste es mit erfrorenen, hilflosen Händen nach ihr, so plötzlich, daß Myannah glaubte, ihr Herz würde stehen bleiben. Es war so kalt.... Allmählich tastete sie sich heran und dann hatte sie es gefunden, so schwach, daß sie die Gestalt, die es später einmal haben würde nichteinmal erahnen konnte. Ihr Geist schmiegte sich daran und erbot ihr alle Energie die sie entbehren konnte. Die Zeit um sie herum verschwamm und erst als sie selbst glaubte erfrieren zu müssen kehrte sie in ihren Körper zurück. Es war bereits mitten in der Nacht. Haelwyn schlief während er sich wärmend an sie lehnte und seine Jacke über sie geworfen hatte. Sogar das Gras schien sich dichter um sie beide zu drängen um kein bisschen Wärme entweichen zu lassen. Es dauerte noch eine Weile bis sie einschlafen konnte, aber das leise Rascheln des Baumes lies ihr dann doch die Lider zufallen – ob er mit jemandem sprach oder einfach ins nichts flüsterte wußte sie nicht zu sagen.

.

Als sie am nächsten Tag aufwachte, lag immernoch die Weste über ihr und der Platz neben ihr war warm, wenn auch leer. Noch immer zitterte sie leicht und das obwohl die Sonne auf ihre Haut schien.

„Guten Morgen Freund Baum!"

Sie wußte nicht, ob er die menschliche Sprache verstand oder Haelwyn sich aus einem anderen Grund mit allen Lebewesen unterhalten konnte – jedenfalls aber raschelte der alte Apfelbaum höflich zurück. Als sie sich umdrehte sah sie, daß Haelwyn wohl ein Stück ihres Weges vorausgegangen war und nun mit vollen Händen und Backen wieder zurückkehrte. Er strahlte sie so glücklich an, daß sie beinahe versucht war ihre Sorgen zu vergessen. Stattdessen erwachten sie um so schmerzhafter. Er wird es nicht ertragen, wenn die Prophezeiung sich erfüllen sollte. Das war ihr eigentlich schon immer klar gewesen, aber als sie seinen unbeschwerten Gang sah, seinen rastlos umherschweifenden Blick in dem diese unschuldige Neugier lag, stach ihr die Erkenntnis mitten ins Herz. Sie lächelte ihn trotzdem an und war froh, daß er den Schmerz darin nicht erkennen konnte.

„Sieh mal, Haselnüsse und Pflaumen!"

Myannah küsste ihn auf den Mund, als er sich zu ihr auf den Boden gesetzt hatte und schmeckte wie süß die Pflaumen sein mußten. Haelwyn schwieg eine Weile.

„Du hast gezittert, letzte Nacht..."

Er ist nicht so sorglos, wie ich glaube...

„Es ist das Leben, ich habe es gefunden."

Sein Blick haftete weiterhin auf ihr als ob er ihre Sorge doch sehen könnte.

„Ich war zu lange bei ihm gewesen, ich habe mich übernommen. Mach...dir keine Sorgen."

Aber er tat es doch. Still reichte er ihr eine Hand voll Nüsse und legte die duftenden Pflaumen zwischen sie beide in das warme Gras, das sofort eine Mulde dafür bildete. Er knackte eine Nußschale und blickte nachdenklich in den klaren blauen Himmel.

„Mir ist klar, daß die Luft heute bitterer schmeckt als gestern. Es zieht herauf. Und ich denke ich weiß warum du gestern Nacht gezittert hast."

Er bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln, aber seine Hand drückte die ihre nur schwach und seine Stimme zitterte in der tiefen Traurigkeit, die er zu unterdrücken versuchte. Sie hätte ihm gerne Trost gespendet, irgendetwas zu ihm gesagt, das ihn beruhigt hätte...

stattdessen nahm sie ihn in die Arme und hätte am liebsten geweint.

Dunkler Schatten von Jenseits der Zeit....

„Du musst gehen!"

Er sah sie an, aber sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten.

„Ich weis."

„Sei in einer Woche wieder zurück – dann wird es neben mir liegen....es wird kräftig und gesund sein, es wird sich schon auf dich freuen....du mußt ihm doch alles über diese Welt hier erzählen, du mußt es doch mitnehmen..."

Sie konnte spüren, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten - wenn sie es doch selber glauben könnte. Wenn Haelwyn etwas davon bemerkte, verbarg er es gut.

„Jeder wird aufatmen wenn er hört, daß die Erde wieder atmet... es werden sich alle darum streiten....so wie immer. Die Eichhörnchen schwören mir schon lange, daß es Zeit für eine neue Art von Baumbewohnern würde! Ha... Eichhörnchen wissen immer alles... Und...und die Rotschwänzchen – die werden mir so lange die Ohren vollzwitschern, bis ich ihnen erzählt habe, daß es ein großer und fröhlicher Vogel sein wird, der den mürrischen Raben endlich etwas Humor beibringt."

Trotz ihrer Traurigkeit mußte Myannah unweigerlich Lächeln,

„Wissen sie nicht, daß das Neue Leben erst Gestalt annimmt, wenn die Erde es geboren hat?"

„Doch. Schon. Sie glauben warscheinlich das es wahr werden würde wenn sie es nur oft genug behaupten."

Er sah sie ernst an und drückte sie dann fest an sich. Es dauerte einen Augenblick, bis er sich wieder von ihr löste, eine Weile zögerte und dann aufstand. Er öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus, drehte sich stattdessen zu dem Baum.

„Danke für alles Freund Baum", flüsterte er beinahe unhörbar, „pass gut auf sie auf..."

Sie winkte ihm zu und er winkte zurück, aber keiner sagte ein Wort als er langsamer als sonst den Weg fortsetzte, den sie vor zwei Monden eingeschlagen hatten. Selbst der Abschied des Baumes klang wie ein trauriges Ächzen und es verklang erst, als Haelwyn schon längst am Horizont verschwunden war.



Normalerweise hätte Haelwyn den Wald nicht erst am späten Nachmittag erreicht, aber Myannah machte ihm zu schaffen. Sie hatte versucht ihre Trauer und Befürchtungen zu überspielen, sie wollte ihn nicht beunruhigen. Und sie wußte, daß er da geblieben wäre, wenn sie ihn darum gebeten hätte. Aber sie wußte genauso, daß er ihr nicht helfen konnte, wenn sie das ungeborene Leben in die Welt geleitete. Außerdem war der Apfelbaum ein gutmütiger Kamerad, der seine Krone über sie beugen würde, wenn es regnete und immer etwas zu essen für sie hätte.

Tapfere, kleine Myannah.

Er spuckte aus, der bittere Geschmack lies sich aber dennoch nicht vertreiben. Haelwyn ignorierte es und lies seine Augen über die Landschaft wandern. Die Wiesen waren hier kräftig und grün und er blickte auf den Waldrand, der sich ausgefranst vor ihm in den Himmel hob. Die Luft, so bitter sie auch war, duftete nach Tannenadeln, Pilzen und gärendem Laub und jeder Baum der ihn sah knarrte ihm seine Grüße entgegen. Das Moos fühlte sich flauschig unter seinen Füssen an und allmählich schloss sich sich das heimelige Zwielicht des Waldes um ihn, hier und da von den Lichtlanzen des Sonnenuntergangs durchstossen. Schon sah er die ersten Kaninchen, die ihn begleiteten indem sie von Stamm zu Stamm huschten und sich nicht so recht trauten hervorzukommen. Der Wald vibrierte in tausend Sprachen, die Wipfel flüsterten in unendlich langsamen Sätzen miteinander während die Vögel wild und ungestüm umherkeckerten. Wenn er ganz genau aufhorchte, konnte er sogar die eigenbrötlerischen Monologe der Borkenkäfer hören, die unter Baumrinde ihrem behäbigen Geschäft nachgingen. Der erste aber, der ihm über den Weg lief, war ein alter Rehbock. Er war ernst wie alle Rehböcke und interessierte sich nur für das Ungemach das er selbst erdulden mußte. Für Haelwyns Geschichten hätte er kein Ohr und so lies er ihn einfach reden. Er mußte grinsen als das Tier frotzelnd von dannen trottete.

Guter, alter Rehbock.

Allmählich wurde es dunkel und Haelwyn war an einer Lichtung angelangt, die ihm sofort gemütlich erschien. Die ersten Sterne funkelten freundlich zu ihm herunter und er lehnte sich gegen einen kleinen Felsen, der nach Erde roch. Das Efeu, das sich um diesen Felsen rankte, drängte sich zusammen, damit er ein weiches Kopfkissen hatte. Er blickte gegen den Himmel und wo er früher unbekümmert eingeschlafen wäre, hielt ihn der Gedanke an Myannah wach. Ob sie sich wieder durch die Nacht zitterte?

Er seufzte tief, als ihn etwas am Ohr kitzelte.

>Du siehst traurig aus, Freund Haelwyn, traurig! Was bedrückt dich? Hast du Angst?<

„Oh, hallo Freund Eichhörnchen! Alles in Ordnung, ich bin nur..."

Es sprang ihm auf die Schulter, und vor ihm auf dem Boden, wo es ihn auf zwei Beinen stehend mit frech bebenden Schnurrhaaren musterte.

>Es ist die Luft nicht wahr, die Luft! Sie riecht seltsam, riecht sie! Bitter! Kalt! Seltsam...<

Sogar die Eichhörnchen können es spüren...

>Ich weiß, Freund Haelwyn, kann auch sehen. Die Erde, atmet wieder, wir alle sehen, spüren – kalter Atem, seltsamer Atem, seltsame Luft!<

Haelwyn lächelte es an, ihm war so schwer ums Herz, daß er geräuschvoll ausatmete. Er reichte dem Eichhörnchen seine Hand.

„Laß uns über etwas anderes reden – wie geht es dir? Wie geht es meinem alten Freund Buche? Haben seine Äste deinen Nachwuchs verkraftet?"

>Verkraftet, ja. Sind aber weiter gezogen, andere Buche. Komme viel herum, viele Freunde viel Leben, nicht nur alter Platz. Langweilig. Aber Buche ja, ich mag die Früchte, sind lecker, lecker. Hast du Hunger, auf Buche, Hunger?<

Da konnte Haelwyn nicht nein sagen, sofort verschwand der kleine Bursche raschelnd in den Büschen und kehrte einen Herzschlag später vollgepackte mit Bucheckern zurück. Es waren nicht viele, aber Haelwyn hatte schon gegessen und es war die Geste, die zählte. Das Eichhörnchen legte sich auf seine rechte Schulter und schlang seinen buschigen Schwanz um Haelwyns Hals. Er genoss den schnellen Herzschlag an seiner Wange und den Geruch von sauberem, warmen Fell. Der Mond begann aufzugehen während sie redeten und das Eichhörnchen konnte nicht genug hören von Seen, weiten Wiesen und den fremden Lebewesen die dort hausten. Haelwyn wußte wie sehr es diese Geschichten mochte und wie jedesmal versprach es ihm, daß es ihn eines Tages begleiten würde – es wollte unbedingt einmal einen Hecht sehen wie er durch die Fluten schnitt oder einer Forelle begegnen. Natürlich würde es nie mitkommen. Es war ein Eichhörnchen, schnell begeistert, aber noch schneller wieder auf den Bäumen verschwunden.



Der Mond war bereits hinter den Baumwipfeln verschwunden, als ihm endlich die Augen zufallen wollten. Das Eichhörnchen war ebenfalls sehr ruhig geworden, doch plötzlich schreckte es auf und schnupperte. Haelwyn wurde schlagartig wach. Er roch es auch. Der bittere Beigeschmack der Luft war nun beinahe fühlbar, er wogte ihm in Böen entgegen und Haelwyn verschlug es fast den Atem. Wieder spuckte er aus, wieder und wieder, aber es setzte sich auf seinem Gaumen fest und lies sich nicht vertreiben. Erschrocken stellte er fest, daß er die Natur um sich herum nur noch verschwommen wahrnehmen konnte. Das ständige und beruhigende Geflüster der Pflanzen verstand er nur noch wenn er vor Konzentration die Augen zusammenkniff, selbst die verborgenen Tiere konnte er nur noch in Schemen wahrnehmen. Die Luft legte sich wie ein Schleier aus kalter Asche darüber, schien jedes Leben ersticken zu wollen. Das Eichhörnchen stellte sich unruhig auf und blickte sich um, zuckte heftig zusammen als es das Rascheln in den Baumwipfeln hörte. Das Rascheln brachte eine weitere Bö der verdorbenen Luft mit sich. Haelwyn zwang sich nicht zu würgen.

„Geh, Freund Eichhörnchen, geh!"

Es blickte ihn nur noch an. Wenn es etwas zu ihm sagte, verstand er es nicht mehr und so setzte er es behutsam auf den Boden. Das Rascheln ertönte erneut, näher, bedrohlicher.

„Na los, ich komme schon alleine klar!"

Er schob es leicht an, das Eichhörnchen blickte zu Haelwyn auf, ob Dankbarkeit, Furcht oder etwas anderes darin war, konnte er nicht erkennen und dann sprang es schliesslich zögernd davon. Haelwyn fröstelte, Gänsehaut wogte wie Gezeiten über seine Arme und er kauerte sich zu einer Kugel zusammen, damit er der plötzlichen Kälte Herr werden konnte.

Das Rascheln verstummte.

Dann stürzte etwas ins Laub neben ihm. Haelwyn sprang sofort auf, als er jedoch die schwache und undeutliche Stimme hörte, beugte er sich wieder langsam nieder.

>Die Verdorbenen, die Verdorbenen haben sich erhoben, sie...<

„Arca? Freund Arca?"

Er konnte es nicht glauben, die Stimme, das Aussehen, war er es tatsächlich? Wenn er es war, so erkannte dieser Haelwyn nicht.

>Die Zeit ist da, unsere Welt wird sterben...<

„Arca, ich bin es, Haelwyn!"

>Haelwyn?<

Mühsam erhob sich der Vogel um Haelwyn anzusehen. Er breitete die Schwingen aus, schien aber zu schwach zum Fliegen zu sein, da er sie wieder einklappte und unsicher zu dem Jungen hüpfte. Seine Stimme klang belegt und geschwächt.

>Dich...dich suche ich...< er zögerte und sah sich um,

>Wo ist Myannah?<

„Sie ist einen halben Tagesmarsch vor dem Wald – Arca, die Erde atmet wieder!"

>Es ist fauliger Atem! Das müßte sogar ein Narr und Einfaltspinsel wie du spüren!<

Er blickte Haelwyn mit seinen trüben Augen zornig an,

>Was ist? Soll ich hier auf dem Boden sitzen bleiben? Nimm mich hoch!<

Zögernd gehorchte er. Die mürrische Art des Raben war ihm zwar bekannt, aber so scharf hatte er noch nie mit ihm gesprochen. Dieser schien seinen Ton aber schon wieder zu bereuen, er stieg behutsam auf Haelwyns Arm und sah ihn versöhnlich an.

>Verzeih mir Haelwyn, die Zeiten sind schwer. Immer wollte ich euch von den dunkelsten meiner Prophezeiungen fernhalten – sie sind unabwendbar, gewiss, aber der Zeitpunkt steht nicht fest – es hätte auch erst in hundert Generationen geschehen können..< Er krallte sich an Haelwyns Arm fest und hielt nur mit Mühe sein Gleichgewicht,

>Es tut mir so leid Haelwyn, aber sie hat sich erfüllt...hier und jetzt.<

Haelwyn wagte es kaum auszusprechen, wenn Arca es sagte, hatte es Gewissheit. Er schluckte hart, aber der Kloß in seinem Hals blieb, verwandelte seine Stimme in ein heiseres Krächzen,

„Dunkler Schatten von Jenseits der Zeit – verpester der Luft und Vergifter der Erde...."

>...Blender der Augen und Mörder der Seele. Ich fürchte ja.<

Haelwyns Knie gaben nach und er sank auf den Boden. Sie sind da. Myannah wusste es. Die dunklen Wanderer sind gekommen um unsere Welt zu verschlingen.

Er schwieg, ebenso der Rabe. Doch er wollte es nicht wahrhaben, es durfte nicht sein, Arca täuschte sich! Er war doch schon alt und halbblind, er hat sich geirrt, sicher. Myannah hatte die Erde atmen hören, sie war bei dem Leben gewesen – hat es gesehen! Es durfte nicht war sein, durfte nicht...

>Ich weiß was du denkst, alter Freund und ich wünschte das es so wäre. Der Atem der Erde ist kalt, das können alle spüren, auch du. Das Lebewesen das daraus hervorgeht wird eine Totgeburt sein. <

Es war dunkel, aber dennoch sah Haelwyn, wie schwach der Vogel geworden war. Sein einstmals pechschwarzes Federkleid war mit grauen Schlieren überzogen und um seinen Schnabel stand der sonst weiche Flaum borstig und hart ab wie Stechkraut. Seine Worte schienen ihm von mal zu mal mühsamer aus der Kehle zu dringen, und er wankte auf Haelwyns Arm hin und her, als könne er sich nicht mehr lange auf den Beinen halten.

„Dann werde ich zu Myannah gehen!", Haelwyn sprang auf, doch Arca war noch nicht fertig.

>Es gibt noch einen weiteren Grund warum ich dich aufsuchte...<

Der Rabe starrte Haelwyn so hoffnungslos an, daß ihm beinahe der Mut fehlte nach diesem Grund zu fragen. Er räusperte sich und es war nicht nur der bittere Geschmack, der ihm in der Kehle steckte.

„Welcher Grund..."

>Myannah ist die Mutter der Welt, sie spürt das ungeborene Leben in der Erde, aber ihre Zeit ist vorüber. Kein Leben wird je wieder in dieser Erde heranwachsen. Aber du mein Freund bist der Sprecher der Welt, du kannst Leben spüren, sehen wo immer es ist – du verstehst jedes Lebewesen und jedes Lebewesen versteht dich.<

Haelwyn schwieg. Er konnte die unerträgliche Bürde schon spüren, bevor sie ihn niederdrückte,

„Was immer du sagst - ich werde zu Myanna gehen, ich..."

>Es geht hier nicht um dich! Auch nicht um mich oder Myannah!<

Die Federn des Raben sträubten sich vor Verzweiflung und Wut, doch Haelwyn wendete sich von ihm ab, wollte ihm nicht zuhören. Beinahe war er versucht den Vogel von seinem Arm zu schleudern, als er einfach weiterredete,

„Nein, Niemals, das kannst du nicht..."

>HÖR MIR ZU! Eure Gemeinsame Zeit ist vorbei! Auch du wirst nicht mehr lange existieren. Daher bitte ich dich - nein! Es ist deine Pflicht, alles Mögliche zu tun um den Schwarzen Schatten zu entkräften! Die Wanderer sind da!<

Der Rabe schwieg eine Weile, knickte mit einem Bein ein und wäre beinahe von Haelwyns Arm gefallen. Die Erschöpfung überrollte ihn, so daß er einige Minuten ruhte und selbst dann nur noch flüstern konnte,

>Sie werden wie ein Unwetter über die Welt fallen, sie vergiften jede Pflanze mit ihrem schwarzen Atem, daß diese stumm und taub vor sich hin existieren müssen, auf ewig ungehört. Sie leben nur noch um neues Leben auf die Welt zu bringen. Die Tiere können nicht mehr verstanden werden, von den Menschen schon gar nicht. Alle Lebewesen taumeln durch die Welt, geblendet vom Odem der Wanderer, sie leiden von ihrem ersten Atemzug bis zum letzten unter der Undurchsichtigkeit ihres Lebens, einzig beseelt von dem ungreifbaren Verlangen nach Sinn und Eindeutigkeit. Damit aber nicht genug. Sie tragen das schwarze Herz der Wanderer in sich, haben den Drang zum Bösen und Hinterhältigen; diejenigen, die diesem Drang nicht nachgeben, werden unter denen Leiden die vollends Kinder der dunklen Wanderer geworden sind. Diese Welt wie sie hier ist, wird nie existiert haben, einzig als schwache Fantasie durch die Träume der Menschen stolpern, kränklich, blass und farblos.<

Haelwyn konnte dem Blick des Raben nicht mehr standhalten. Er drehte sich von ihm weg, biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf, während sich vereinzelte Tränen über seine Wangen stahlen.

>Und deine Aufgabe ist nicht bei Myannah...<

Arcas Worte versickerten in Haelwyns Geist wie Moorleichen, keinen Gedanken vermochte er zuende zu denken und der bittere Wind schien seinen Schmerz mit toter Hand zu unterzeichnen.

„Ich muß zu Myannah." gehetzt stand er auf, blickte von der einen Richtung in die andere als suchte er nach dem Ausweg, den es nicht gab, doch Arca sah ihn so flehentlich und voller Qual an, daß er weinend wieder auf die Knie fiel.

Der Rabe röchelte nur noch und Haelwyn mußte ihn festhalten, damit er nicht von seinem Arm fiel. Vorsichtig und zitternd legte er den Vogel auf ein weiches Mooskissen unter dem efeubewachsenen Felsen.

>Die Augen der Welt schliessen sich...und ebenso wie ihr Licht erstickt, endet mein Leben...nur noch kurz...Haelwyn..so kurz<

Arcas Stimme verlosch und Haelwyn mußte sich über ihn beugen um ihn verstehen zu können. Er rang um jedes Wort wie ein Ertrinkender nach Luft und Haelwyn wagte es nicht ihn zu unterbrechen, wenn er ihm auch nur unter Schluchzen zuhören konnte.

>Versprich mir eins, Haelwyn... Sprecher der Erde...warne die Menschen! Die dunklen Wanderer werden dieser Welt... alles Gewohnte entreissen... alles Gute... gewiss. Aber euch Menschen... wollen... sie vor allem zu ihrem Werkzeug machen. Es ist ein Unterschied ob sie euch gewaltsam... nehmen... oder... ob... ihr freiwillig zu... ihnen kommt! Vergesst in euren letzten Augenblicken niemals wer... wer ihr seid. Sie werden... eure... eure Seele in ihrer dunklen Welt verwirren können... sogar lenken – niemals aber... werden sie... w-werden Sie sie völlig zerstören können - wenn du den Menschen sagst, wer sie sind.... was ihr Ursprung ist....

Kämpfe, Haelwyn...erinnere die Welt an das was sie wirklich ist... Du...mein Freund...bist..ihre einzige...Hoffnung........<

Der Atem des Vogels wurde langsamer, flacher bis sich sein Brustkorb nicht mehr heben wollte. Bevor Haelwyn irgendetwas erwiedern konnte, rührte er sich nicht mehr. Er nahm den Vogel behutsam hoch, strich ihm über das graue Federkleid und den abkühlenden Körper darunter, weigerte sich aber, das Offensichtliche zu akzeptieren.

„Arca, Freund...lass mich nicht einfach so zurück...was...was soll ich denn tun?"

Tränen benetzten den Vogel, als er ihn wie ein Kind in seinen Armen wiegte, dieser aber blieb stumm.

Der verdorbene Wind war stärker geworden als Haelwyn sich endlich aufrappelte. Er schien sich ihm auf die Augen, die Ohren und seinen Geist zu legen, er wußte nicht in welche Richtung er ging, geschweige denn in welche Richtung er gehen mußte. Er wußte ja nichteinmal was er tun sollte.

Wenn ihm ein Tier über den Weg lief, konnte er es kaum verstehen, auch die Büsche raschelten nur sinnlos daher. Er versank in dem Wald wie in einem Fiebertraum, schien keinen Ort mehr zu erkennen und sah nur Fremdes, das ihn blind und stumm anzustarren schien. Er glaubte beinahe nicht mehr daran, je einen Ausweg zu finden aber endlich erreichte er mit schmerzenden Beinen den Waldrand. Erst als er erste Sonnenstrahlen blutrot durch den blassen Himmel stossen sah, wußte er wie lange er unterwegs gewesen war. Wo er sich befand wußte er nicht.

Die Wiese vor ihm sprach nicht zu ihm und der sich erhellende Horizont war durchsetzt von schwarzen Nebelschwaden. Nur ein kleines Grünhaus äugte vom Ende der Wiese zu Haelwyn herüber. Noch ehe er sich fragen konnte, wer dort wohl wohnte, sah er den Pfad. Vom Horizont her wälzte sich ein Band aus verwelkendem Gras auf das Grünhaus zu, langsam und kränklich wie ein sterbender Wurm. Haelwyn wußte nicht ob jemand in dem Haus war. Er wollte nicht dorthin, er wollte zu Myannah! Was sich auch immer da auf die Hütte zubewegte, sie würde in der selben Gefahr schweben! Aber er wußte nicht wo sie war, wie er sie finden konnte... er blieb stehen. Seine Beine schwankten und drängten ihn weg von der Hütte, weg vom Wald. Irgendwo jenseits dieser Wiese mußte sie sein! Er konnte sie finden, wenn er sich nur beeilte, wenn er sich nur anstrengte. Fast war er soweit, beinahe wäre er losgerannt, aber die Bitte des Raben richtete sich wie ein brennendes Schwert gegen seine Brust.

Warne die Menschen Haelwyn... es geht nicht um dich...

Haelwyn wurde schwindlig, er konnte das Unsichtbare spüren, wie es über das Gras auf die Hütte zuwandelte und ihm Schritt für Schritt das Leben aus den Halmen presste. Er nahm alle Kraft zusammen, die ihn noch verblieben war, er mußte sich zusammenreissen...

Es geht nicht um dich...

Von seinem Versprechen vorangepeitscht ging er auf die Hütte zu, jeder Schritt schien Myannah in weitere Ferne zu drängen. Trotzdem mußte er die Hütte vor dem verwelkenden Pfad erreichen. Ob die schneidende Kälte von Außen oder seinem Inneren kam wußte er nicht zu sagen. Er hielt sich seine Weste vor den Mund um den bitteren Geschmack der Luft besser zu ertragen, dieser war aber schon ebenso verdorben wie sein Schicksal. Und genauso unabwendbar.



Myannah erwachte und glaubte erfrieren zu müssen. Sie war eingehüllt von dem Gras um sie herum und der Baum schützte sie vor dem eisigen Wind, aber die Kälte durchkroch sie wie gefrorenes Blut. Sie war in der Erde gewesen und hatte versucht das Leben zu erwecken seit Haelwyn aufgebrochen war. Aber je eindringlicher sie nach ihm rief, desto tiefer versank es in der Erde, desto schwächer wurde sein Rufen. Immer wieder war sie aufgewacht und jedesmal war es kälter, bitterer um sie herum geworden. Auch die Erde bot ihr keinen Schutz mehr, sie war durchzogen von den gleichen verdorbenen Schlieren wie die Luft und sie mußte nach immer kürzerer Zeit in ihren Körper zurückkehren, wo sie ebenfalls nur Kälte erwartete.

Als sie sich ein wenig erholt hatte, sah sie auf und erkannte das die Sterne schon verblassten und den Morgen ankündigten. Und sie sah den schwarzen Nebel, der von dort auf sie zukroch, unaufhaltsam, dicht und erschreckend. Bebend umschlang sie ihre Knie und ihre Zähne schlugen vor Kälte aufeinander. Der Baum beugte sich über sie, aber seine Blätter waren schlaff und raschelten nicht mehr. Sie dachte an Haelwyn, sah beinahe wie sein einst federnder Gang vor Kummer niedergedrückt wurde und sein Lächeln auf immer erloschen war. Das darf nicht sein, schärfte sie sich ein, ich werde das Leben retten, ich werde es in diese Welt holen und die Prophezeiung verspotten, trauernd bin ich niemandem eine Hilfe!

Trotz der Kälte kehrte sie zurück in die Erde, stolperte beinahe blind hindurch und glaubte schon den schwachen Ruf nie mehr zu vernehmen, als er fast unhörbar aus dem vergifteten Schweigen emporbrach.

Sie wickelte sich darum und lies all die Hoffnung die sie noch verspürte hineinfliessen. Sie konnte fühlen wie es erstarkte, wie es sich gegen die kalten Finger wehrte, die sich durch die Erde schlichen. Es wuchs, das unsichtbare, kleine Ding, labte sich schüchtern an der letzten Kraft, die Myanna aufbringen konnte, derweil die Welt um sie herum verschwamm. So süß keimte die Hoffnung in ihr auf, als das Leben sich regte und begann Gestalt anzunehmen,

Ich werde es schaffen, ich werde es retten,

Der Mut gab ihr mehr Kraft als sie hätte haben dürfen - sie sah Haelwyns Gesicht, sein überglückliches Gesicht, wie er sie mit Küssen überhäufte und umarmte, sah ihn, wie er mit leuchtenden Augen ihren Arm nehmen würde um ihr all die Geheimnisse zu zeigen, die sie noch nicht kannte. Sie roch die Luft, rein und voller Leben, erfüllt von Stimmen und Wärme, wenn das kleine Leben nur den letzten, kleinen Schritt schaffte – sie konnte es fast schon sehen, erahnte seine Gestalt...bis eine schwarze Faust in die Erde fuhr und mit einem einzigen Hieb das Leben aus dem sich kaum wehrenden Ding quetschte.

Myannahs Körper bäumte sich auf, als ihr Geist hineinjagte. Sie öffnete die Augen, sah nur schwarz und die verpestete Luft lies sie sofort husten. Die Stimme bohrte sich wie ein Eiszapfen in ihren Schädel, kalt, scharf und klar verständlich. Sie sah noch, daß sich eine verschwommene Gestalt auf sie zuwälzte.

>Wir< ,zischte sie, >sind die Mörder der Welt.<



Die Büsche hatten ihre Arme miteinander verwoben und eine Öffnung freigelassen, die von hellgrünen, stachligen Ranken verdeckt wurde. Haelwyn trat vorsichtig auf das verwelkte Gras davor und sackte auf die Knie als er auf einen Ast stieg, der mit dicken Dornen bewehrt war.

Er sprach ihn nicht an. Er würde Haelwyn nicht antworten, ihn warscheinlich nichteinmal verstehen.

Haelwyn ging weiter. Als er sich den Kopf an der Türöffnung des Grünhauses sties, wurde ihm erst klar, wie sehr er mit der Natur verbunden gewesen war, wie sehr er mit ihr kommuniziert hatte. Er ging voran, fühlte sich wie in einem Leichenhaus. Die Räume, welche die Äste einstmals liebevoll gewoben hatten, waren allesamt stumm und weigerten sich Licht von Außen hereindringen zu lassen. Schemel und Sitzmulden aus Immergrün wechselten sich ab mit Betten aus Frühlingsgras und ehemals duftenden Mooskissen. Heckenrosen, Sanddorn, und Hagebutten schlängelten sich als Wandschmuck durch die verschlungenen Wände, aber alle starrten ihn nur an und schwiegen in der Dunkelheit, die sie sich selbst geschaffen hatten.

Dann fand er den Mann.

Er saß in dem größten Raum und vereinzelte Ranken mit blauen Blüten hingen von der eng verflochtenen Decke auf ihn herab. Der Mann schien es jedoch nicht zu spüren. Seine Augen hatten einen fiebrigen Glanz und huschten in dem Zimmer umher als betrachte er ein Schauspiel, daß nur er sehen könne. Seine fleischigen Wangen sahen unappetitlich aus, wie sie so wabbelten und Haelwyn konnte sehen, wie er sich ständig seine blauen Lippen leckte. So einen Ausdruck hatte er noch nie bei einem Menschen gesehen.

Vorsichtig ging er auf ihn zu. Ohne Zweifel stimmte hier etwas nicht. Er hatte die Hütte ganz knapp vor dem welkenden Pfad erreicht – Viel Zeit würde er nicht haben, bevor dieser ebenfalls das Grünhaus erreicht hätte. Langsam und ängstlich tappte er auf den Mann zu, sein Gezappel und Gestotter behagte ihm nicht.

„Freund!",

Haelwyns Stimme war leise und schüchtern,

„Freund! Ich...ich... Erkenne wer du bist! Lasse dich nicht verführen..."

Er kam sich töricht vor, töricht und hilflos als er die Phrasen seines gestorbenen Freundes nachplapperte, aber er wußte nicht was er sonst hätte tun sollen....

Der fette Mann beachtete ihn nicht, schien ihn nichteinmal zu sehen, als er sich erhob und auf die Wand des Raumes zuging. Seine Arme fischten in der Luft umher, als müße er darin etwas fangen. Haelwyn zwang sich trotz der Furcht die er spürte auf den Mann zuzugehen. Je näher er ihm kam, desto mehr ekelte er sich vor ihm, aber er war zu weit gegangen um nun klein bei zu geben. Außerdem näherte sich das Unsichtbare Ding, welches das Gras zum verwelken brachte. Nun konnte es wirklich nicht mehr weit sein...

„Freund! Hör mir zu! Das ist..."

Er zuckte zurück, als er seinen Arm berührte. Trotz der Kälte um sie herum brannte der Mann förmlich und war von übelriechendem, klebrigen Schweiß bedeckt. Jetzt jedoch bemerkte er Haelwyn wenigstens. Der Dicke fuhr herum und in seinen Augen glühte ein Ausdruck, der Haelwyn sofort rückwärts zur Tür taumeln lies. Bevor er sie aber erreichen konnte, stolperte er und stieß sich den Kopf an einem harten Weidenast. Während er sich noch hochkämpfte, bückte sich der Mann und griff nach einem hässlichen, toten Wurzelstück das er grimmig umklammerte. Er schlich auf Haelwyn zu, blieb aber kurz vor ihm stehen. Seine Fäuste erschlafften und das kantige Ding fiel zurück in den Staub. Er drehte sich zurück zur Wand und fing wieder an zu plappern, stellte Fragen und wartete nickend ab als ob ihm tatsächlich jemand zuhörte. Haelwyn gab nicht auf, brüllte hustend auf ihn ein, während die Luft immer unerträglicher wurde,

„Ich sagte hör mir zu!"

Keine Reaktion, nur Geplapper,

„Ich werde eine Stadt unter mir haben sagt ihr? Orte in denen sich Menschen versammeln wie es die Bäume im Wald tun? Und sie werden machen was ich ihnen sage? Ich verstehe nicht, warum sollten sie das tun? Erzählt mir mehr, jaja, erzählt mir mehr, bitte, jajaja!"

Ein eisiger Wind durchfuhr die Wand vor der der Dicke stand und schnürte Haelwyn den Atem ab. Ihm folgte ein dünner Arm aus schwarzem Nebel der das dichte Astwerk durchdrang als wäre es nicht da. Der fette Mann leckte sich einmal mehr die Lippen als er es in diesem Arm gelb glänzen sah – grell und unheilvoll. Seine wässrigen Augen schienen ihm aus den Höhlen fallen zu wollen und sein Doppelkinn vibrierte wie im Fieber, als er die Hand danach ausstreckte,

„Gold sagt ihr? Welch ungewohntes, welch herrliches Wort jaja! Wie es glänzt jaja, jaja..."

„Nein!"

Haelwyns Stimme überschlug sich, als er sah wie der Mann nach dem Trugbild griff, doch er hörte nicht auf ihn, verstand ihn warscheinlich nicht einmal,.

Es war umsonst, alles umsonst...

Doch er gab nicht auf, die Verzweiflung trieb ihn weiter voran, immer weiter. Er griff nach dem Wurzelstück, daß der Fette fallengelassen hatte und schleuderte es auf ihn, doch noch immer drehte er sich nicht um. Bevor Haelwyn irgendetwas anderes unternehmen konnte, hatte die fleischige Hand des Mannes den Nebelarm berührt,

„Gold, Macht, jaja, ich bin der König der Welt, jaja, jaja....",

Das waren die letzten Worte, die er von ihm hörte.

Der Nebel kroch ihm in Nase, Mund und Ohren, der Fette stürzte zu Boden und trat um sich während sich seine Finger in die staubige Erde krallten. Plötzlich erschlaffte er. Und dann stand er auf.

Der Blick den er Haelwyn nun entgegenschickte hatte nichts menschliches mehr. Ebensowenig wie seine Stimme.

>Nicht König...<, zischte sie, >Wir sind die Mörder der Welt<



Myannah kauerte weiterhin auf dem Boden und zitterte vor Kälte. Sie versuchte nichts zu hören, nichts zu sehen, nichts zu fühlen, aber die Worte der Schwarzen Gestalt explodierten dumpf hinter ihrer Stirn. Dennoch lies sie diese Worte nicht an sich heran, zwang sich dazu ihren Sinn nicht zu verstehen.

Es sind nur Worte. Nur Worte, die blenden sollen....

Die Luft um sie herum war schwarz wie die Nacht, nichteinmal den Baum konnte sie erkennen, den guten, freundlichen Apfelbaum. Nur dieses Scheusal thronte über ihr, ein Schatten, nein, ein blinder Fleck, der grob die Form eines Menschen hatte, obwohl er größer und viel dünner war. Kein Licht durchdrang ihn, alles Dunkle schien aus ihm zu quellen und sein Atem bestand nur aus Bitterkeit und Kälte. Er durchbohrte sie mit seinen grellweißen Augen. Die Stimme in Myannahs Kopf wurden lauter, drängender, in der einen Sekunde lockte sie in aller Süße dieser Welt, nur um im nächsten Augenblick Drohungen von Trauer, Tod und Untergang auszuspeien.

Myannah versuchte den Schwarzen nicht anzublicken, hörte seinen Worten noch immer nicht zu, doch sie spürte wie seine Wut wuchs und eiskalt aus ihm heraussickerte. Ihre Lungen schienen sich mit totem Wasser zu füllen, als er sich zu ihr niederbeugte. So sehr sie auch nach Atem rang, spürte sie nur bitteren Geschmack im Hals, Luft bekam sie keine.

>Lästiges, taubes Geschöpf!<

Myannah krallte sich in den Baumstamm, spürte wie ihre Fingernägel nachgaben, aber sie würde nicht zuhören. Blender der Augen, Mörder der Seele – lieber ersticke ich als mein Schicksal in die Hände dieses Scheusals zu legen.

Der Schatten war ganz nahe vor ihrem Gesicht, seine Kälte lies ihre Füße und Arme sofort taub werden. Ihre Lungen schrien nach Luft, doch alle Versuche zu atmen waren vergeblich. Der Schwarze starrte sie aus den zwei grellen Schlitzen an, die sich ständig wandelten. Sie wurden heller und dunkler, wobei Blitze von aggressiver Farbe darüberhuschten.

Sterne zerplatzten vor ihren Augen, aber sie hielt dem Blick des Ungeheuers stand. Er war der Mörder des neuen Lebens, er hatte den letzten Atem der Erde erstickt, vor ihm würde sie niemals winseln. Dessen Wut steigerte sich indes spürbar, legte sich wie eine zusätzliche Klaue um ihre Kehle. Seine Augen funkelten heller, wilder und dann plötzlich zerplatzte diese Helligkeit, begann sie zu umgeben während der Baum und der Nebel um sie herum verblasste. Die Kälte wich wärmerer Luft und der bittere Pfropfen in ihrer Kehle hatte sich aufgelöst. Gierig atmend stützte sie sich am Boden ab. Dann lies sie ihren Blick schweifen, sah verflochtene Wände und düstere Zimmer eines Buschhauses.

Trotz ihrer Verunsicherung stand sie auf und tastete sich durch die dunstige Luft. Sie mochte etwas an den Räumen nicht, aber ehe ihr klar wurde, was es war, sah sie ihn schon in einem Durchgang stehen. Sie eilte auf ihn zu, wollte Haelwyn an der Schulter berühren, aber dann sah sie den Fetten Mann. Er streckte seine Hände aus und seine Finger bohrten sich in den Hals des Jungen. Als sich der Schock von Haelwyn löste, wehrte er sich verzweifelt. Er sackte auf die Knie, aber der Fette Mann drückte zu als wolle er einen Stein zerquetschen. Die Befreiungsversuche des Jungen schien er nichteinmal zu spüren.. Myannah war ausser sich vor Entsetzen, blickte sich um und fand ein Wurzelstück am Boden. Es war zersplittert und hatte scharfe Kanten, sie stürzte sich in den Staub um danach zu greifen – aber ihre Finger griffen ins Nichts. Sie konnte Haelwyn sterben hören, versuchte es nocheinmal -.vergeblich. Trotzdem stürmte sie auf den fetten Mann zu. Das Röcheln des Jungen erfüllte den düsteren Raum, und sie versuchte die Hände des Mannes aufzubiegen. Haelwyn war schon dunkelviolett angelaufen, aber auch hier griff sie einfach ins Leere. Der Junge strampelte wie ein Ertrinkender und Myannah schluchzte vor Verzweiflung. Durch ihre Tränen konnte sie fast nichts mehr erkennen, aber trotzdem sah sie wie sich der fette Mann vor Lachen schüttelte. Dann wurden die Räume dunkler und Myannah kauerte wieder unter dem starren Apfelbaum.



Haelwyn stolperte aus den Buschhütte heraus und hielt sich sein schmerzendes Handgelenk. Er hatte noch nie jemanden geschlagen, aber der fette Mann hätte ihm sonst seine Klauen um den Hals gelegt und er wußte nicht, ob er dem entkommen wäre.

Draußen war die Luft undurchsichtig von dem schwarzen Nebel, aber wie Fieber brannte das Verlangen in ihm Myannah zu finden, wenn auch nur um ihr ein letztes mal in die grauen Augen zu sehen.

Er hatte versagt, war machtlos gegen die dunklen Wanderer. Arcas Hoffnung war umsonst gewesen. Tränen rollten ihm über die Wangen, aber er konnte ohnehin nichts sehen, stolperte von einer Richtung in die andere und hatte bald völlig die Orientierung verloren.

Er gab nicht auf, taumelte, fiel, rappelte sich wieder hoch, irrte umher und fand sich schliesslich wieder von schweigendem Wald umschlossen. Umdrehen, weiter, er mußte aufpassen nicht gegen die Baumstämme zu rennen, die wie Mauern aus dem undurchsichtigen Nichts hervorschnellten. Sein Körper schüttelte sich in der Kälte und seine Lunge quälte sich in der schlechten Luft, aber Haelwyn rannte mit der Kraft eines Totgeweihten weiter, weiter und weiter. Er würde das so lange tun, bis er entweder Myannah oder den Tod gefunden hatte.

Er wischte sich über die Augen, für einen kurzen Moment schien sich die Schwärze gelichtet zu haben, aber das war sicher nur ein Trugbild seiner Hoffnung. Ehe er diesen Gedanken zuende gedacht hatte, wehte ihm eine Bö warmer Luft entgegen. Wieder schien sich der Dunst ein wenig zu lichten und trotz seines Argwohns blieb Haelwyn stehen. Der warme Wind schwoll so plötzlich an, daß der Junge sich erschrocken abwandte. Als er seinen Blick wieder hob, sah er, daß der Wind eine Bresche in das schwarze Nichts schnitt, das ihn umgab. Er blies den bitteren Nebel fort und Haelwyn erkannte das ihn diese Bresche aus dem Wald herausführen würde. Rechts und Links von ihm erhob sich der dunkle Dunst wie lebendige Friedhofsmauern bis in den Himmel. Er wogte wie ein sturmgepeitschtes Meer und schien voller Grimm wieder in die Lücke schwappen zu wollen, die der warme Wind geschaffen hatte, löste sich in der sauberen Luft aber sofort in Nichts auf. Haelwyn stand da wie vom Donner gerührt, er glaubte zu wissen, wohin ihn dieser Pfad führen würde. Der warme Wind atmete ihm in den Nacken als wolle er ihn ermutigen und so rannte Haelwyn über den moosigen Waldboden hinaus auf die Wiese, lies die dicht gewachsenen Bäume hinter sich und trank sich an der Euphorie satt, die in ihm aufloderte.



Myannah traute der plötzlichen Wärme nicht. Wenn es nun wieder ein Trugbild der dunklen Wanderer war? Es würde jedoch keine Rolle spielen, Haelwyn war tot und selbst das Rascheln des Apfelbaums klang seltsam leblos in der warmen Brise. Sie weinte nicht mehr, hatte schon alle Tränen vergossen, für Haelwyn, für sich selbst und für diese Welt. Jetzt, da alles vorbei zu sein schien spürte sie die Erschöpfung wie Grabeserde auf sich lasten. Ihr Körper war erschlafft und ihr Geist auch, jeden Gedanken, den sie zu fassen versuchte endete unweigerlich im Nichts. Sie sah eine Bewegung am Horizont, aber obwohl sie erkannte, daß sich da etwas rasch auf sie zubewegte, fühlte sie noch immer keine Angst. Sie fühlte gar nichts.

Es wurde rasch größer. Einen Augenblick glaubte sie etwas vertrautes daran zu erkennen....

Nein, das war unmöglich. Was für ein dummes, naives Mädchen sie doch war. Dennoch verfestigte sich ihr Eindruck von Augenblick zu Augenblick, der federnde Gang...sah sie einen hellbraunen Haarschopf? Wider alle Vernunft erhoben sich ihre begrabenen Hoffnungen wieder und brannten so sehnsuchtsvoll als wären sie nie gestorben. Tatsächlich glaubte sie schon seine hellgrünen Augen funkeln zu sehen, sah das Lächeln und die Grübchen in seinen Wangen... ohne jeden Zweifel, er mußte es sein! Sie sprang auf, ihre Glieder schmerzten, aber das spürte sie nicht mehr. Er flog auf sie zu, aber trotzdem dehnte sich sein Nähern wie eine Ewigkeit. Er wurde nur langsam größer, immer wieder glaubte Myannah einem Trugbild erlegen zu sein, aber ebensoschnell war sie dann wieder vom Gegenteil überzeugt. Schon hörte sie ihn ihren Namen rufen und dann endlich, endlich fiel er in ihre Arme. Er bedeckte sie mit Küssen und sie vergrub ihr Gesicht in seinem wilden Haar. Aber irgendetwas stimmte nicht.



Haelwyns Füße setzten kaum auf dem Boden auf, als er den Windungen des Weges folgte. Der Nebel ragte noch immer drohend an dessen Rand auf, schien nach Haelwyn greifen zu wollen, doch er achtete nicht auf ihn. Er spürte keine Erschöpfung mehr, war berauscht von der Gewissheit, die Prophezeiung umgangen zu haben. Er verschwendete keinen Gedanken an die Frage, wer oder was sein Helfer sein mochte. Dazu war später wohl noch genug Zeit. Plötzlich sah er das Ende des Weges. Die Bresche endete und die schwarze Nebelmauer ragte vor ihm in die Höhe, aber das war Haelwyn egal. Immerhin konnte er den Apfelbaum sehen, der von dem warmen Wind ebenso schützend umweht wurde wie er selbst.

Er sah wie Myannah sich am Baum abstützte um aufzustehen, es schien fast so als spürte sie sein Kommen. Gleich, dachte er, gleich wird sie mich bemerken, mich sehen. Der Weg verbreiterte sich zusehends, die schwarzen Mauern wurden immer weiter zurückgedrängt und der bittere Geschmack der Luft verflüchtigte sich zusammen mit ihrer Kälte. Wenn Arca doch hier wäre...

Haelwyn hatte nun fast den Baum erreicht, doch Myannah drehte ihm noch immer den Rücken zu. Zweifel begann an dem Jungen zu nagen, sie stand aufrecht da und schien nach etwas Ausschau zu halten. Seine Lungen pumpten schmerzhaft, als er versuchte seine Schritte noch weiter zu beschleunigen, aber plötzlich begann auch Myannah zu rennen – fort von dem Baum, fort von ihm, blindlings auf die sich zurückdrängende Nebelmauer zu. Er konnte nicht noch schneller werden, so sehr ihn die erwachende Angst auch anstachelte. Er begann sie einzuholen. Wenn er sie nur erwischte, bevor sie geradewegs in den schwarzen Nebel rannte... Er hörte sie etwas rufen, einen Augenblick glaubte er seinen Namen gehört zu haben, verwarf diesen Gedanken aber sofort wieder. Ihr rabenschwarzes Haar tanzte im Wind, er mußte schneller werden, sie einholen, bevor... die Mauer wuchs immer höher vor ihr auf, jeder Atemzug stach Haelwyn wie ein Messer in die Brust und mit jedem weiteren Stich wuchs die Gewissheit, daß sie von der Nebelwand verschluckt werden würde, ehe er sie erreichen konnte. Sie trennte nur noch wenige Schritte davon als sie ruckartig stehen blieb. Ein Nebelarm wuchs aus der Mauer, kroch auf Myannah zu, derweil sie anfing vor sich herzuplappern.

„Nein! NEIN!"

Sie drehte sich dem Nebelarm zu, Haelwyn erkannte ihr glückliches Gesicht, sah eine Freudenträne darin glitzern, während sie sich zärtlich auf den Nebelarm zubewegte.

„Das ist ein Trugbild, hier bin ich...HIER!"

Sie hörte ihn nicht, war gefangen in der Vision, die ihr von den dunklen Wanderern in den Geist geschickt wurde. Er war nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt als der Nebel in sie fuhr und sie zuckend zu Boden stürzte. Die Kraft verlies ihn und er sank in den Staub des Weges.

Arca hatte Recht. Was für ein gutgläubiger Narr ich doch bin. >Blender der Augen, Mörder der Seele<, wie konnte ich nur glauben, daß der warme Wind etwas anderes ist als eine Falle der Wanderer....sie verspotten mich... es ist ihre Rache dafür, daß ich mich ihnen entgegenstellte......

Geblendet vom Schmerz nahm er nur noch am Rande war, wie sich die schwarzen Mauern um ihn schlossen und seine Welt zusammen mit seiner Vergangenheit einfach verschluckten.



Epilog

Manche Menschen spuckten nach ihm und manche versuchten ihn zu berühren. Das Gewicht auf seiner Schulter drückte sich tief in sein Fleisch, doch war es nichts gegen den Schmerz in seinem Inneren. Seine einstmals rundlichen und fröhlichen Wangen hingen schlaff und ausgemergelt von ihm herab, gelächelt hatte er schon lange nicht mehr. Der Gestank von Kot und Dreck stieg ihm in die Nase als er sich durch die menschengesäumten Gassen schleppte. Wo er hinsah, erkannte er entweder Lumpen oder Uniformen, die auf Hochglanz poliert waren. Er hatte sie lehren wollen wieder zu sehen, die Welt zu erkennen, sich selbst zu verstehen, aber er war gescheitert. Die Erinnerung an sein früheres Leben war dumpf und verwaschen, aber die vollkommene Harmonie der damaligen, der verlorenen Welt war ihm noch immer so klar, als wäre er dort. Er erinnerte sich an den Sinn in diesem Leben, den Sinn, der so selbstverständlich war, wie die Luft zum atmen.

Er brach zusammen, ob von dem Gewicht auf seinen Schultern oder seinen Erinnerungen, wußte er nicht zu sagen. Nur mühsam konnte er sich aufrappeln und noch mühsamer wurde ihm jeder Schritt, der ihn an den spärlicher werdenden Menschen den Hügel hinaufführte. Er wußte nicht, warum er als einziger noch eine Erinnerung an die Welt vor dieser Welt hatte, vielleicht lag der Grund in den verblassenden Worten eines Freundes,

>Es ist ein Unterschied, ob sie euch gewaltsam nehmen, oder ob ihr freiwillig zu ihnen kommt.<

Endlich hatte er den Hügel erklommen und ihm wurde das Gewicht von den Schultern genommen. Der fette Mann mit den blauen Lippen sties ihn beiseite während sich seine Soldaten um die Last kümmerten, die sie neben ihn in den Staub legten.

Ihn stierten unzählige Augenpaare an, manche hasserfüllt, manche traurig. Doch welches Feuer auch in ihnen brannte, er konnte die graue Patina aus Hilflosigkeit und verlorenem Sinn sehen, die sich darüber legte. Manche hatten versucht ihm zuzuhören und jedes Wort aufgesaugt, das er vor seiner Verurteilung gesprochen hatte. Ob sie seine Botschaft wirklich verstanden hatten, wußte er nicht. Aber es gab eine Chance, eine kleine zwar, aber sie war da.

Die Soldaten des fetten Mannes kamen auf ihn zu und legten ihn auf das Ding, das er den Hügel hinaufgeschleppt hatte. Er schloß die Augen. Erst durchstach der Schmerz sein linkes Handgelenk, dann sein rechtes, bevor seine Füße an der Reihe waren. Sie zogen ihn nach oben und sein eigenes Gewicht zerrte an den Verletzungen, bis er fast die Besinnung verlor.

Der fette Mann mit den blauen Lippen stand unter ihm. Er war es, der ihn verurteilt hatte und der Triumph glitzerte in seinen wässrigen Augen. Manche seiner Anhänger versuchten zu ihm ans Kreuz zu gelangen. Sie weinten und redeten auf den fetten Mann ein, doch dieser lies sie verscheuchen wie Vieh. Er leckte sich über seine Lippen, badete in seiner Macht und wurde nicht müde seinen Namen über den Platz zu plärren,

„Pontius Pilatus irrt sich nie! Falls es noch jemand wagen sollte mein Urteil anzuzweifeln, werden auch seine Knochen auf Golgatha verrotten!"

Er ignorierte das Gefasel des Fetten, dachte stattdessen an das Mädchen. Sie war den Dunklen in die Arme gelaufen, sie, die immer die Vernünftige und Tapfere gewesen war. Nun war sie ebenfalls in der Hoffnungslosigkeit dieser Welt versunken. Er blickte hinab auf die weinenden Menschen zu seinen Füßen. Sie spüren es, dachte er, sie spüren, daß es einen richtigen Weg gibt, einen Weg, der die Dunklen wieder aus den Herzen der Welt vertreiben würde.

Das Licht um ihn herum wurde schwächer und er erkannte nur noch Schemen,

Sie werden die Erde wieder zum atmen bringen und sie werden die Sprache der Welt neu erlernen. Sie werden ihre Bestimmung begreifen und alles Schlechte wird wieder in den Schleiern der Unendlichkeit verschwinden.

Sie werden die dunklen Wanderer besiegen...bald werden sie vergessen sein, ganz bestimmt....

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