Ganz schön bissig ...
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Oktober 2002
Einsam
von Klaus Eylmann


Sanfte Hügel mit blauen Wiesen. Rote Wälder, die sich in der Unendlichkeit verloren. Vögel vom nahen Meer, mit Riesenschwingen in der Brise, wie Gold glänzend unter den zwei Feuerbällen am Horizont. Ein Mann auf einer Veranda, mit Blick auf die Idylle, so fremd und doch vertraut.

Als die Düsen aufflammten, die silbernen Schiffe sich von der Schwerkraft lösten, um alle anderen noch lebenden Kolonisten zur Erde zurück zu tragen, hatte er ihnen nachgeblickt, bis auch der letzte Transporter nicht mehr zu sehen gewesen war. Ein halbes Jahr her, und noch lange auf dem Weg in die stinkende, verseuchte, elende, doch heimatliche Welt.

Vorbei der Traum von endlosen Räumen und Freiheit, dahin die Illusion eines Neubeginns. Strahlen des Doppelgestirns machten zunichte, was einst Hoffnung war, zerstörten die Haut der Menschen, und als die ersten Kolonisten zu Grabe getragen wurden, war Manfreds Frau unter ihnen gewesen.

Tote, deren Angehörige auf der Erde zurückgeblieben waren, wurden eingeäschert, ihre Urnen mit heimgenommen. Alle anderen lagen auf dem kleinen Friedhof am Hügel vor dem Ort, eingerahmt vom blauen Gras der Wiesen, und jeden Tag machte sich Manfred auf den langen Weg dorthin.

"Wie kommt es, Linda," fragte er, "dass ich noch lebe? Was macht es für einen Sinn?" Dann verharrte er stumm vor ihrem Grab, eine einsame Gestalt inmitten der Toten und wartete auf ihre Antwort, während der Wind über den Friedhof pfiff.

Lange hatte es gedauert, bevor man herausfand, dass es Strahlen der Sonnen waren, welche die Kolonisten dahinrafften und es nur eine Möglichkeit gab, ihnen zu entkommen. Manfred selbst spürte keine Anzeichen körperlichen Verfalls, und dann erzählten ihm die Ärzte, er sei immun.

Häuser, Lagerhallen, Wirtschaftsgebäude, Werkstätten, Spielplätze, die Bücherei, hydroponische Gärten, das Rathaus, die Schule, das kleine Theater, sie ließen alles hinter sich. Neu Terra, eine tote Siedlung, durch die der Wind jagte, wo der Boden erodierte und sich als rötlicher Staub auf die hölzernen Schindeln, Veranden und Bürgersteige legte, über denen blecherne Schilder trunken in der Brise des nahen Meeres tanzten.

Es war Lindas Wunsch gewesen, auf Neu Terra ihre letzte Ruhe zu finden.

Nur widerwillig wandte sich Manfred vom Grab seiner Frau. Oft träumte er, er sei mit den anderen Siedlern auf dem Weg zur Erde, auf dieser langen Reise, in Stasis, und er wachte schweissgebadet auf. Dann wurde er gewahr, dass seine Frau nur wenige Kilometer entfernt auf dem Friedhof lag, und Ruhe kehrte in ihn ein. Doch Traurigkeit ließ sich nicht verscheuchen.

Manfred verließ die einstige Oase der Stille, denn ruhig war es jetzt fast überall, und ging auf die Dünen zu. In der Ferne sah er einen Oris.

Die Siedler hatten sie immer nur von weitem zu Gesicht bekommen. Sobald sich jemand ihnen genähert hatte, waren sie in die Wälder geflohen. Sie gingen aufrecht, besaßen Arme, Beine, spitze Köpfe, die sich mit den schlanken, runden Rümpfen schlangenartig hin und her bewegten. Wie schienen sie voller Leben, tanzten auf den Wiesen, als Neu Terra aus den Nähten platzte. Es war, als seien sie empathisch, hätten an der Aufbruchstimmung teilgenommen.



Manfred stapfte eine Düne empor, hörte das Rauschen der Wellen, das helle Geschrei der Vögel. Rot war der Sand, die Vögel hatten goldene Schwingen, doch war es sonst nicht wie an der Nordsee, auf der Erde? Zu einer Zeit, als die Umwelt dort natürlich und an den Stränden keine elektrischen Grenzzäune gegen anbrandende Flüchtlingshorden errichtet, keine Laserkanonen installiert worden waren?

Sträucher rieben sich an seinen Beinkleidern. Er beugte sich hinab und pflückte ein paar rötliche Beeren, steckte sie in den Mund, dann rannte er zum Strand hinunter. Tief atmete er die Seeluft ein. Der Oris kam mit schleppendem Gang die Düne herunter. Es schien, als habe er alle Last der Welt zu tragen.



Als die Siedlung noch voller Leben war, hatten sie Hunderte von ihnen gesehen, dann erkrankten die ersten Kolonisten. Die Oris wichen zurück, als könnten sie die Schmerzen der Siedler nicht ertragen, und sie verschwanden in den Wäldern, als die silbernen Schiffe sich in die Lüfte erhoben.

Nun dieser eine. Vor ein paar Tagen war er aufgetaucht und folgte Manfred, in sicherer Entfernung. Später betrachtete Manfred die Spuren im Sand. Sechs Zehen an jedem Fuß.

Er stieg durch die Dünen und kehrte in die Ortschaft zurück. Die Tuer der hölzernen Kirche pendelte knarrend im Wind, wartete auf Besucher, die sich nicht einstellten. Neben dem Gotteshaus der Maschinenschuppen. Manfred ging hinein, hörte das Brummen der Generatoren. Er prüfte die Anzeigen, dann trat er auf die Straße zurück. Energie für die Siedlung, dachte Manfred. Der Nukleartreibstoff reicht ein ganzes Leben und darüber hinaus.

Sein Gang führte zu den hydroponischen Gärten. Das Gemüse stand in dichten Reihen, wuchs unter künstlichem Licht, geregelter Temperatur und Bewässerung zur Reife heran. Die Anzeigen innerhalb der erlaubten Grenzen.

"Wer soll das jetzt alles essen?", murmelte er. Erbsen und Gurken mussten geerntet werden.

Durch die Fenster drang das Licht der beiden Sonnen. Auf dem Boden bewegte sich ein Schatten. Blitzschnell drehte Manfred sich um und erstarrte. Drei große Augen blickten ihn durch ein Fenster an, dann verschwand das Gesicht.

Als er am nächsten Tag auf der Veranda saß und ihn die Traurigkeit übermannte, war es, als setzten sich die sanften Hügel mit den blauen Wiesen, die roten Wälder, die großen Vögel des Meeres mit ihren goldenen Schwingen zu einem Gemälde der Verzweiflung zusammen. Dann wanderte der Oris in das Bild hinein. Schleppend war sein Gang, sein Kopf zu Boden gebeugt, als er sich langsam den Hügel hoch bewegte und in Richtung Wald verschwand.

"Du nicht auch noch," murmelte Manfred bedrückt. Das einzige Zeichen von weiterem intelligentem Leben, das sich in Nichts auflöste.

"Du nicht auch noch!" Er sprang auf und rannte auf den Hügel zu. Keuchend stieg er die Anhöhe empor und blickte zum nahen Wald hinüber. Dort stand der Oris und hielt seinem Blick stand. Kaum war er zwischen den Bäumen zu erkennen, dann drehte er sich um und ging langsam in den Wald hinein.

Manfred lief hinter ihm her. Keine ausgetretenen Pfade, wie er es von den Wäldern auf der Erde kannte. Riesenbäume mit dunkelroten Blaettern. Wo waren die anderen Oris? Wo waren sie? Er holte den Fremden ein und sah ihn von der Seite an. Die Gestalt des Oris hatte sich gestrafft, als er gemessenen Schrittes weiterging. Er trug keine Kleider, seine Gestalt war beinahe menschlich, jedoch ohne Geschlechtsmerkmale. Die Haut war leicht geriffelt und schillerte grünlich. Blaue, kurze Haare wuchsen auf seinem Kopf. Sein Gesicht mit der hohen Stirn, den hochstehenden Wangenknochen und vollen Lippen schien das eines Menschen, wenn nicht die drei Augen gewesen wären.

Es raschelte im Unterholz, Zweige bogen sich zur Seite. Grüne Riesenwürmer, mit faltiger Haut, schoben sich hervor, krochen über den bemoosten Waldboden, blickten kurz aus ihren drei Augen zu ihm hoch und verschwanden zwischen den Bäumen. Verblüfft blieb Manfred stehen und sah ihnen nach, dann drehte er sich um. Der Oris war verschwunden.

Bedrückt ging Manfred in die Ortschaft zurück. Er sehnte sich nach Gesellschaft, und war sie noch so fremd. Er dachte an die Würmer, die im Wald herumkrochen. Sie hatten drei Augen, die gleiche Hautfarbe wie der Oris. Ihm kamen diejenigen in den Sinn, die auf den Wiesen tanzten, als die Kolonisten in der Ortschaft wohnten, mit ihren spitzen Köpfe, so spitz wie die der Würmer. Dieser hingegen, und Manfred blickte in die Richtung, in der er verschwunden war, war fast menschlich.



In den hydroponischen Gärten erntete er Gemüse für den täglichen Bedarf und trug es nach Haus.

Während die Erbsensuppe im Topf kochte, und er die Gurken für den Salat schnitt, blickte er durch das Küchenfenster. Gut hundert Meter entfernt stand der Oris und sah in seine Richtung, dann entfernte er sich Richtung Strand. Manfred schaltete den Herd aus, rannte aus dem Haus und folgte ihm. Er sah erstaunt, dass der Fremde in einem der Gebäude verschwand. Manfred blickte durch die Fenster des Drugstores, ging in das kleine Theater. Dann sah er ihn in der Bücherei. Der Oris saß an einem Tisch und hatte ein Buch vor sich.

Als er nach seinem Friedhofsbesuch am Strand entlang ging, sah Manfred Spuren am Wasser, die vom Meer noch nicht beseitigt waren. Fünf Zehen an den Fueßen. Manfred stutzte. Am Tag zuvor waren es noch sechs gewesen.



Den Tag darauf stürmte es. Die Brandung des Meeres war bis ins Haus zu hören. Gischt flog vom Wasser herüber, dunkle Wolken jagten über den Himmel und verdeckten beide Sonnen. Nachts wachte Manfred durch das Klappern der Fensterläden auf, dann hörte er ein lautes Pochen. Er sprang aus dem Bett und öffnete die Tür. Der Oris stand vor ihm. Nein, es war eine Frau, eine junge Frau mit grüner Haut, vom Wind zerzausten blauen Haaren, die mit niedergeschlagenem Blick vor ihm stand. Tränen rannen ihre Wangen hinab, und sie schluchzte, als sie sagte:



"Wer sich der Einsamkeit ergibt,

ach, der ist bald allein;

ein jeder lebt, ein jeder liebt

und läßt ihn seiner Pein."

Goethe, dachte Manfred verwundert. Sie hat es aus der Bücherei.

"Aus Träumen in Ängsten bin ich erwacht;

was singt doch die Lerche so tief in der Nacht….."

"O Nacht der Trauer, Nacht April,

die ich im Feuerdunst durchschwamm…."

Manfred holte Lindas Morgenrock hervor und zog ihn der Frau über, ging mit ihr auf die Veranda und hielt sie in seinem Arm, spürte, wie sie sich schluchzend an ihn schmiegte.

"Es ist der Tag im Nebel völlig eingehüllt,

Entseelt begegnen alle Welten sich -…."



Manfred drehte ihr Gesicht zu sich und verschloss ihren Mund mit einem Kuss.

Linda, dachte er, was hältst du davon? Kann ich es wagen? Einen Neuanfang?

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