'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespürt.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Monique Lhoir IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Oktober 2002
Geisterstadt
von Monique Lhoir


"Hannah, bist du soweit?"

Klaus schaute zu ihr hinüber, während er an dem alten Wagen rumhantierte, der nur stotternd ansprang.

"Ja, ja!", rief sie, packte ihre Taschen und stürmte zum Auto.

"Wie gut, dass das Ding noch läuft", grummelte er. "Ich hätte nicht gedacht, dass er nach zwanzig Jahren noch so gut in Schuss ist."

"Ja, dein Freund Jean-Pierre, Gott hab ihn selig. Er hat für alles vorgesorgt. Sogar genug Benzin haben wir. Und alles so gut konserviert, dass es noch funktionsfähig ist." Sie streichelte seine wettergegerbte Wange, schmiegte sich an ihn und flüsterte: "Und du bist auch noch ganz gut in Schuss. Genau wie unser altes Auto."

"Hannah, schau dir mal den Hafen an. All die schönen Segelyachten liegen vermodert im Wasser. Ich habe La Rochelle und die Atlantik-Küste sehr geliebt. Und nun? Aber ich habe es geahnt."

"Alles verwüstet und menschenleer." Hannah blickte traurig auf das Wasser.

"Bist du sicher, dass wir nach Hamburg wollen?" Klaus schaute sie fragend an.

"Ganz sicher. Wir haben es uns damals vorgenommen. Es wird unsere letzte Reise sein."

Energisch startete er den Wagen. "Wir werden ein paar Tage unterwegs sein. Es wird eine schwere Reise werden", erwiderte er besorgt. "Meinst du, dass du diese Strapazen überstehst? Und wir wissen nicht, was uns dort erwartet."

"Ich schaffe das schon", erwiderte sie zuversichtlich.

Klaus und Hannah hatten vor zwanzig Jahren unverhofft in einem Lotteriespiel ein paar Millionen gewonnen.

Kurz darauf fiel ihr ein Prospekt eines Maklerbüros in die Hände. Sie boten Grundstücke auf abgelegenen, unbebauten Inseln in der Karibik an. Sie schwieg erst, doch ein paar Tage später legte sie es morgens Klaus hin, beobachtete ihn still und sah, wie er es durchblätterte.

"Was hältst du davon? Ich meine, ein solches Grundstück zu kaufen?" fragte sie zaghaft.

"Das ist ja am Ende der Welt," erwiderte er. "Dort gibt es keine Einkaufszentren, Modegeschäfte und Cafes. Bist du sicher, dass du das nicht vermissen wirst?".

Nein, sie vermisste es nicht. Nachdem alle Formalitäten abgeschlossen waren, machten sie sich auf den Weg, nahmen nur den neuen Wagen mit und deponierten ihn bei ihrem französischen Freund Jean-Pierre in La Rochelle. Dann segelten sie mit ihrer Yacht, die sie im Hafen liegen hatten, zu ihrer Insel. Dort bauten sie sich ihr kleines Haus, richteten sich mit Hilfe der Einheimischen ein und lebten ein bescheidenes, aber ausgefülltes, ruhiges Leben.

Jetzt waren sie seit drei Tagen unterwegs, für eine Strecke, die man früher locker an einem Tage geschafft hätte. Die ehemaligen Straßen befanden sich in einem katastrophalen Zustand. Als sie an Paris vorbeifuhren, stellten sie fest, dass die sonst immer verstopfte Peripherique völlig autofrei und ebenfalls verkommen war. Gleichwohl die sonst so lebhafte Stadt. Menschenleer. Die einst prachtvollen Gebäude waren schmutzig und vergammelt, der Eiffelturm hatte seine Spitze verloren und ragte wie ein altes, verrostetes Metallgerüst hervor.

Hannah war von der anstrengenden Reise erschöpft und schlief, als sie plötzlich von Klaus Schimpfen aufgeschreckt wurde: "Verdammt, was haben die denn hier mit den Straßen gemacht? Tut hier den niemand mehr irgend etwas? Gibt es keine Menschen mehr?" Hannah sah erstaunt aus dem Wagenfenster.

"Bist du sicher, dass du noch auf der Autobahn bist?" fragte sie.

"Nach meinen Erinnerungen müsste es die A1 sein." Er umfuhr ein riesiges Schlagloch.

"Merkwürdig", sann sie nach. "Alles mutet wie eine Wildnis an." Klaus umfuhr einen Baum, der mitten auf der Autobahn wuchs.

"Verdammt, so furchtbar hatte ich es mir nicht vorgestellt", sagte er. "Dass sich die Welt nachteilig verändert würde, hatte ich mir damals schon gedacht. Aber so schlimm? Das hier ist ja der reinste Urwald."

Er versuchte, sich auf die zerklüftete Straße zu konzentrieren, als Hannah plötzlich aufschrie: "Brems, brems!" Klaus trat in die Bremsen. In letzter Sekunde. Sie standen direkt vor einer Kuhherde, die quer über die Autobahn trabte und beide stumpfsinnig anstarrte. Ihm tropfte der Schweiß von der Stirn.

"Das war knapp", stöhnte Hannah.

"Meinst du, wir sollten nicht doch lieber wieder umkehren?"

Sie schüttelte energisch mit dem Kopf. "Nein. Nicht so kurz vor dem Ziel. Wir haben es so beschlossen und so soll es sein."

Klaus hatte den Wagen abgewürgt und es dauerte eine Weile, bis er wieder ansprang. Langsam fuhren sie in Richtung Norden weiter.

Kurz vor Hamburg erkannten sie das Autobahnschild "Elbtunnel", völlig verrostet und von Sträuchern überwuchert. Es zeigte halbschräg noch oben und Hannah schaute instinktiv in Richtung Wolken. Die Abfahrt war zugewachsen.

"Hier kommen wir nicht durch", sagte Klaus ärgerlich. "Wir müssen die alte A1 weiterfahren und schauen, dass wir von außen in die Stadt reinkommen."

Die restliche Strecke mutete eher wie eine Wildnis als eine Autobahn an, die Straße war völlig zugewachsen, und sie kämpften sich um Bäume und Sträucher. Nur noch Reste der ehemaligen Leitplanken waren zu erkennen. Rechts und links grasten Tiere friedlich miteinander, Kühe, Schafe, Rehe und auch Ziegen. Hasen hoppelten ungeniert über die Autobahn und Katzen dösten in der Sonne. Beide hatten das Gefühl, durch einen Zoo zu fahren und nicht durch eine Großstadt.

Als sie an den Landungsbrücken vorbei kamen, stieß sie Klaus in die Rippen.

"Schau dir mal das Feuerschiff an. Das ist völlig zerstört und hängt halb im Wasser. Kannst du dich noch erinnern, als wir hier vor Jahren zu Abend gegessen haben?" Hannah sah traurig auf das Schiff.

"Ja, es sieht fürchterlich aus." Klaus streichelt beruhigend ihren Arm und warf aufmunternd ein: "Aber dafür schwimmen jede Menge Enten und Schwäne im Hafenbecken. Schau doch nur mal. Ich würde mich schon gar nicht mehr wundern, wenn es in der Elbe auch Nilpferde geben würde."

Klaus bremste hart, als plötzlich eine Elefantenfamilie die nur noch undeutlich zu erkennende Hafenstraße überquerte und in Richtung Speicherstadt marschierte

"Ob die von Hagenbecks Tierpark kommen?"

Die Hochhaussiedlung, in der sie damals gewohnt hatten, konnten sie von weitem erkennen, und Vorfreude erfüllte Hannah. Gott sei Dank, das Haus stand noch. Ob hier wohl noch einige alte Nachbarn wohnten?

Hannah hielt den Atem an, schaute erwartungsvoll die achtzehn Stockwerke hoch.

"Klaus", sagte sie leise. "Ich glaube, Gardinen sind nicht mehr in Mode. Schau dir mal die kahlen Fenster an. Es sieht alles sehr unbewohnt aus."

"Willst du wirklich hineingehen?", fragte er sie. Hannah nickte energisch.

"Ja", sagte sie fest. "Vielleicht finden wir hier doch noch alte Bekannte."

Zaghaft stieg sie aus und Klaus folgte ihr. Vereinzelt gab es noch Balkonkästen, in denen entweder das Unkraut wucherte oder aus denen meterlange Ranken herauswuchsen und andere Fenster verdeckten.

Langsam schlichen sie den Plattenweg entlang, der mit Gras und Gänseblümchen übersät war.

"Wie ruhig es hier ist", flüsterte sie. "Wo sind denn all die Kinder hin, die sonst auf dem Spielplatz gespielt haben?"

Beide schauten rüber. Es gab keinen Spielplatz mehr. Die Gerüste waren verrostet und in sich zusammengefallen. Sie bemerkten, dass die Haustür nur angelehnt war. Langsam stieß er sie auf. Sie knarrte, als wenn sie lange nicht mehr bewegt worden wäre. Rechts im Hausflur waren noch alle Briefkästen vorhanden. Hannah schaute nach, ob sich noch bekannte Namen darauf befanden. Viele Schilder waren verschwunden, nur an vereinzelte Namen konnte sie sich erinnern.

"Das Haus scheint völlig verlassen zu sein" sagte sie entsetzt. Die Flurtreppe war mit Unrat und dicken Staubflocken übersät, bei jedem Tritt wirbelten sie hoch.

"Fahren wir mit dem Fahrstuhl?", fragte sie zweifelnd. Klaus drückte auf den Knopf. Nichts tat sich.

"Hier scheint es keinen Strom zu geben", sagte er und zuckte mit den Schultern. "Dann müssen wir eben laufen."

Sie stiegen bis zum vierten Stock hinauf und blickte den langen Flur entlang. Langsam gingen sie vorwärts. Absolute Stille, nur ab und zu war ein merkwürdiges Klicken zu hören. Die Türen waren alle verschlossen, die Klinken waren entfernt worden. Sie blieben vor ihrer ehemaligen Haustür stehen.

"Sollen wir?", fragte Hannah und zeigte auf den Klingelknopf. Klaus nickte. Sie drückte drauf. Es war nichts zu hören.

"Hm, die Klingel hat man wohl abgestellt", sagte Klaus und klopfte. Nichts rührte sich. Er klopfte noch einmal lauter. Nichts.

Klaus drückte etwas fester gegen die Wohnungstür und bemerkte, dass auch diese nur angelehnt war. Er öffnete sie ein wenig, so dass er durch den Spalt schauen konnte. Der Wohnungsflur war leer, kein Möbelstück, kahle Wände. Er drückte die Tür noch ein Stück weiter auf und sie schlichen hinein. Die Wohnung sah unbewohnt aus. Klaus ging langsam vorwärts, Hannah zaghaft hinter ihm her. Und wieder - dieses Klicken. Woher kam es? Sie lauschten und Klaus wies mit dem Kopf in Richtung des ehemaligen Schlafzimmers. Die Tür stand offen, so dass beide hineinsehen konnten. Auch dieser Raum war fast leer, in der rechten Ecke stand ein Feldbett, in der linken Ecke, kurz hinter der Tür, eine Art Schaltpult mit mehreren Bildschirmen. Davor saß ein junger Mann, bewegte sich kaum. Er schien die Eindringlinge nicht zu registrieren.

"Hallo?", rief Klaus, um sich bemerkbar zu machen. Der junge Mann rührte sich nicht. "Hallo", rief er noch einmal. Immer noch keine Reaktion. Klaus trat hinter ihm und tippte ihm auf die Schulter. Jetzt zuckte dieser entsetzt zusammen und wäre beinahe vom Stuhl gekippt. Dann starrte er die beiden Fremden an, als wären sie aus einer anderen Welt gekommen.

"Guten Tag. Wir wollten eigentlich nicht so ungebeten eintreten, aber niemand öffnete." Der junge Mann blickte Klaus angsterfüllt an, gab aber keine Antwort. Klaus grinste wissend und deutete auf dessen Ohren. Der junge Mann griff sich an den Kopf und entfernte ein paar Kopfhörer.

"Wer ... wer sind Sie?" stotterte der junge Mann. "Sind sie gekommen, um mich abzuholen?"

"Abholen?", fragte Klaus irritiert. "Nein. Aber auf unser Klopfen hin hat sich niemand gerührt und da haben wir einfach aufgeschlossen und sind hineingegangen. Wissen Sie, wir haben vor zwanzig Jahren einmal hier gewohnt."

"Gewohnt?" Sein Blick war immer noch voller Angst.

"Ja, in diesem Haus, in dieser Wohnung. Hier haben viele Menschen gewohnt, aber jetzt scheint es leer zu sein," versuchte Klaus zu erklären.

"Nein, nein, nicht ganz leer", sagte der junge Mann hektisch. "Hier gibt es noch Personen. Aber wir sehen uns nie – besser gesagt, wir dürfen uns nicht sehen. Das ist strengsten verboten. Wir kommunizieren nur über diese Bildschirme miteinander."

"Ãœber diese Fernsehapparate?" fragte Hannah staunend und zeigte auf die Monitore.

Klaus schaute sich interessiert die Apparaturen an.

"Und wie funktioniert das? - Aber vielleicht sollten wir uns erst mal vorstellen. Das ist Hannah, meine Frau, und ich heiße Klaus."

Klaus reichte dem jungen Mann die Hand herüber, der diese zögernd ergriff.

"Man nennt mich ... ." Er schien nachzudenken.

"Also, heute nennt man mich Einstein336. Aber ich kann mich erinnern, dass meine Mutter mich früher mit ... Paul angeredet hat." Dann schwieg er und schaute betreten zu Boden.

"Also, Paul. Erklär uns doch mal diese Geräte. Mich interessiert das wahnsinnig. Vor ungefähr zwanzig Jahren arbeitete ich in dieser Stadt als Programmierer." Klaus war ganz in seinem Element und Paul schien überrascht.

Er wandte sich eifrig seinen Bildschirmen und Schaltknöpfen zu.

"Wir haben hier die unterschiedlichsten Programme. Mein Job ist es, für die "Firma" Programme zu entwerfen, die die Überwachung der User vereinfachen und statistisch besser und schneller darstellen sollen. Daran arbeite ich täglich ungefähr acht Stunden. Anschließend werde ich automatisch abgeschaltet. Feierabend. Das hat die "Firma" so geregelt, und dann habe ich Freizeit."

Paul schalte ein neues Programm ein und erklärte: "Hier kann ich zum Beispiel meine Freizeit gestalten. Auf diesem Sender habe ich die neuesten Spiele, hier kann ich Reisen in die Welt unternehmen und hier gibt es Bücher, Filme und Nachrichten. Somit sind wir Tag und Nacht mit der "Firma" verbunden und jederzeit erreichbar. Phantastisch organisiert, nicht wahr?"

Er drückte begeistert wie ein Kind auf den Knöpfen herum.

"Firma?" fragte Klaus. "Welche Firma?"

"Ja, eben die "Firma". Über dieses internationale Netz, an dem wir täglich ununterbrochen angeschlossen sind, erhalten wir unsere Anweisungen. So ist die "Firma" jederzeit informiert, verteilt direkt Aufgaben und regiert unseren Staat. Alle Geschäfte, Aktionen und politische Maßnahmen laufen über die "Firma" und über das Netz."

"Aha, aber dadurch seid ihr auch jederzeit kontrollierbar", warf Klaus ein. "Habe ich es doch gewusst. Dieses verdammte Internet! Und durch die Vernetzung aller Personen beherrschen sie alles und jeden."

"Sie sind immer nur an diesem Computer angeschlossen?", warf Hannah ein. "Treffen Sie sich denn nicht mit richtigen Partnern oder Partnerinnen?"

"Richtige Partner?", fragte Paul und blickte sie an, als ob sie vom Mond käme.

"Neeein", sagte Paul langgedehnt und schüttelt lachend den Kopf. "Hier gibt es keine realen Partner. Persönliche Kontakte mit anderen Usern sind strengstens verboten. Wenn wir uns abschalten würden, wären wir ja nicht mehr erreichbar. Und sollte jemand dabei erwischt werden, wird er sofort von der "Firma" abgeholt und taucht nie wieder auf. Aber man kann sich jederzeit per Knopfdruck seine Partner aussuchen, das ist sehr praktisch." Er hantierte herum und auf dem Bildschirm erschien eine Person.

"Das ist zum Beispiel Einstein276. Er hat den gleichen Job wie ich und mit ihm kommuniziere ich öfters." Hannah schaute interessiert auf den Bildschirm. "Der sieht ja aus wie Sie?", sagte sie ungläubig.

"Ja". Paul schien begeistert. "Wir wurden geklont. Deshalb verstehen wir uns auch so gut."

"Geklont?", fragte Hannah fassungslos und schaute Klaus an.

"Mensch, Hannah". Klaus grinste sie unverschämt an. "Damit hatte die Menschheit doch schon vor zwanzig Jahren begonnen. Kannst du dich nicht mehr erinnern?"

"Irgendwie schooon", gab sie zu. "Aber ich hätte nie gedacht, dass man es auch machen, und dass vor allem die Menschen sich das gefallen lassen würden."

Von Klaus schweifte ihr Blick zu Paul, denn plötzlich schossen ihr erschreckende Gedanken durch den Kopf.

"Paaauuuul?", fragte sie leise. "Hast du überhaupt eine Freundin? Ich meine so eine richtig lebendige, mit der man auch Sex hat und die man liebt?"

"Sex? Was ist das? Und Liebe? - Nein". Paul machte eine Pause und senkte traurig seinen Kopf. Dann flüsterte er: "Ich kenne zwar eine Frau, mit der ich mich gut verstehe. Sie wohnt auch hier in diesem Block, aber ich habe sie noch nie real gesehen. Nur auf dem Monitor. Aber wir unterhalten uns öfters."

"Und? Was ist mit Gefühlen? Liebst du sie?" fragte Hannah weiter.

"Ich weiß nicht", erwiderte Paul. "Wir dürfen keine Gefühle zeigen. Aber wir verstehen uns sehr gut, mit Blicken, aber das darf die "Firma" nie erfahren. Ich weiß nicht genau, was Liebe ist."

"Was Liebe ist?", fragte Klaus und schaute nun Hannah an. "Hast du nicht manchmal das Gefühl, diese Frau im Arm halten zu wollen, sie zu fühlen und zu spüren?"

Paul blickte verschämt zu Boden, als wenn man ihn ertappt hätte. "Doch, manchmal denke ich daran. Aber es ist verboten. Ich würde sie in Gefahr bringen und verlieren."

Plötzlich leuchtete eine Lampe auf und ein Piepton war zu hören.

"Oh". Paul sprang auf. "Zeit zum Essen. Darf ich euch einladen?"

Hannah war gespannt, was nun kommen würde. Paul ging in die ehemalige Küche. Dort stand eine Art Kühlschrank. Er öffnete ihn und reichte beiden eine Tablette.

"Die müsst ihr im Wasser auflösen", erklärte er, als er merkte, dass sie damit nichts anzufangen wussten, und reichte Gläser rüber. "Sie enthält alles, was wir zum Leben brauchen, alle Vitamine, Mineralien und Proteine."

Hannah probierte und verzog angeekelt ihr Gesicht. "Das ist ja scheußlich. Schmeckt nach nichts, eher sogar nach Kalk."

"Hast du noch nie etwas Richtiges gegessen? Ich meine so etwas wie Spaghetti mit Tomatensoße, einen schönen frischen Salat dazu und ein Glas Rotwein?"

Paul lachte sie aus.

"Nein", erwiderte er. "Wir bekommen monatlich einmal unsere Essensration in dieser Form. Aber ich kenne die Eßgewohnheiten der früheren Generation. Wir haben die Möglichkeit, dies über unsere Programme abzurufen. Ehrlich gesagt, kann ich mir gar nicht vorstellen, dass solche Mengen in einen Magen hineinpassen würden."

Paul begab sich wieder hinter seine Monitore. Ein Bildschirm in der rechten oberen Ecke ging an. Das Bild eines jungen Mädchens erschien: "Hallo, Einstein336, hast du schon Feierabend?"

Paul blickte Hannah und Klaus mit leuchtenden Augen an. "Das ist sie. Sie heißt Maja220. Ist sie nicht schön?"

"Ein nettes Mädel." Klaus grinste und Hannah stupste ihn empört in die Rippen.

"Ja, sie ist süß." Paul blickte verträumt auf das Mädchen.

Klaus schaute Hannah an, nahm ihre Hand in die seine, zog sie an sich und küsste sie auf den Mund. Paul staunte beide an.

"Paul", sagte Klaus dann ernst. "Wir werden dich jetzt wieder verlassen. Dies hier ist nicht mehr unsere Welt. Wir gehen zurück in eine Welt, die noch menschlich ist. In eine Welt, wo Gefühle und körperliche Nähe zählen, in der man noch leben kann."

Er wandte sich langsam ab und grinste den verdatterten Paul an: "Und vor allem, wo ich Spaghetti mit Tomatensoße und Parmesankäse essen kann. Nicht zu vergessen, ein schönes Glas Rotwein."

Dann ergriff er Hannahs Hand. "Komm, Hannah, lass uns schnell verschwinden. Ich glaube, wir haben alles richtig gemacht in unserem Leben und hier gehören wir nicht mehr hin."

Als die beiden gerade die Tür hinter ihre ehemalige Wohnung zuziehen wollten, rief Paul aufgeregt: "Hey Klaus, Hannah ...". Dann blickte er traurig zu Boden und sprach leise weiter: "Ich würde auch einmal gern Spaghetti essen."

"Dann komm doch einfach mit", rief Hannah freudestrahlend, froh, endlich dieser Einöde zu entkommen.

"Wirklich?" Paul wurde hektisch. Drückte Knöpfe und setzte sich wieder seine Kopfhörer auf.

"Einen Moment noch." Auf dem Bildschirm erschien das Mädchen, das plötzlich fassungslos schaute und dann wild nickte.

Paul riss sich den Kopfhörer runter.

"Na dann los!", schrie er. "Wir müssen uns beeilen, sonst kriegen sie uns. Ich habe erst einmal alles auf "Automatik" gestellt. Das gibt uns ein paar Stunden Zeit, weil "sie" dann annehmen, wir würden schlafen. Maja macht das auch."

Er rannte auf den Flur hinaus, zog uns an den Händen hinter sich her. "Wir treffen uns alle unten."

....

Nach einer halsbrecherischen Fahrt quer durch Deutschland und Frankreich näherten sie sich wieder der Küste von La Rochelle. Im Font des Wagens saß ein engumschlungenes Liebespaar.

"Wie kocht man Spaghetti mit Tomatensoße?", fragte Maja und Paul sah sie liebevoll an.

"Das zeige ich euch", rief Hannah übermütig und sie wusste, dass sie demnächst auf der Insel zu viert leben würden und die Zukunft noch einiges an Nachkommen und mit Sicherheit noch mehr glückliche Tage schenken würde.

Sie schmiegte ihren Kopf an Klaus und war sich nun ganz sicher, dass sie damals alles richtig gemacht hatten, als sie vor zwanzig Jahren diese Welt verließen.

© Monique Lhoir

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 19324 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.