Der Tod aus der Teekiste
Der Tod aus der Teekiste
"Viele Autoren können schreiben, aber nur wenige können originell schreiben. Wir präsentieren Ihnen die Stecknadeln aus dem Heuhaufen."
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Oktober 2002
Eingefroren
von Silvia Both


Es war die perfekte Liebe. Alle sagten das. Sonja und Markus waren seit drei Jahren zusammen. Bis zu jenem Novemberabend. Markus lachte noch über den Kinofilm, den sie sich angesehen hatten. Lachend starrte er in das grelle Fernlicht des Lastwagens, der ihnen auf ihrer Spur entgegenraste.
Als Sonja erwachte schien grelles Licht in ihre Augen. "Können Sie mich hören?" hörte sie und meinte zu antworten. Noch einmal "Können Sie mich hören?" Sonja strengte sich an. "Ja", flüsterte sie. "Wie geht es Ihnen?" fragte die Person, gekleidet in Krankenhausweiß. "Gut", antwortete Sonja. Gleich würde ihr Kopf auseinanderspringen, so sehr schmerzte er. Und sie nickte ein.
Als sie wirklich erwachte hörte sie Vögel zwitschern. Seltsam im November. Sie öffnete ihre Augen und blickte durchs Fenster. Grüne Bäume. Frühling. Etwas stimmte hier nicht. Mit großer Mühe richtete sie sich auf. Ein Krankenhausbett. Ein Stuhl davor. Darüber eine Kostümjacke und eine schwarze Handtasche. Ihr Körper schmerzte. Ihre Beine und ihr linker Arm steckten in Gips. Um ihren Kopf Verbände. Jemand näherte sich ihrem Bett. Ihre Mutter, sie weinte, umarmte sie. Später unterhielten sie sich. "Du hast fünf Monate im Koma gelegen. In den letzten Tagen wurdest du unruhiger. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben. Ich freue mich ja so." "Was ist mit Markus? Ist er ...?" Ihre Mutter sah sie traurig an. "Er liegt noch im Koma. Aber die Ärzte haben wenig Hoffnung. Bei dir war es anders. Du hattest nicht so viele Kopfverletzungen wie er." Sonja erinnerte sich. "Da war ein Lastwagen ..." "Der Fahrer hatte getrunken. Er hat euch von der Straße geschoben und hat sich überschlagen. Er war sofort tot." Sonjas Mutter weinte wieder. Sonja schloss die Augen.
Wochen später durfte sie das Krankenhaus verlassen. Sie besuchte Markus täglich, redete mit ihm, half bei seiner Pflege. Er reagierte nie. Lag schlafend in seinem Bett. Monate, Jahre. Seine Ärzte erklärten es ihr. Irreparable Hirnverletzungen. Selbst wenn er aufwachen würde ... Eines Tages nahm Markus Bruder Klaus sie beiseite. "Es hat keinen Sinn mehr. Markus ist tot." "Aber er atmet doch", entgegnete sie. "Die Maschine atmet für ihn", korrigierte er sie. Klaus hielt sich an dem Metallrahmen des Bettes fest. "Wenn wir sie abstellen, ..." "Kommt nicht in Frage", unterbrach ihn Sonja. "Ich hätte das Recht dazu, weil ich der einzige Familienangehörige bin. Aber wenn du nicht willst ..." "Nein." Als Klaus zehn Jahre später einem Krebsleiden erlag, wurde ihr die Vormundschaft für Markus übertragen.
Im folgenden Jahrzehnt entwickelte sich die medizinische Technik weiter. Nur Markus Zustand veränderte sich nicht. Tief deprimiert stand Sonja wie so oft an seinem Bett. Wieviele Jahre hatte sie schon hier verbracht? Vorsichtig strich sie Markus ergrauende Haare aus seiner bleichen Stirn. "Ich habe mich zu etwas entschlossen, Markus", erklärte sie ihm leise, "und ich muss es für dich mitentscheiden. In diesem Leben sehe ich keine Hoffnung mehr für uns, Lieber. Deshalb werde ich uns beide einfrieren lassen. Wir werden eine Reise in die unbekannte Zukunft antreten. Vielleicht werden wir eines Tages zu einem gemeinsamen Leben erweckt." Sie küsste zum Abschied seine weichen Lippen. Dann verließ sie den Raum.
"Können Sie mich hören?" hörte sie. Das hatte sie doch schon einmal erlebt. Wann war es? Lag sie immer noch im Koma? Ein beißender Gestank nach verschmortem Plastik. Jemand fluchte. Das Licht flackerte, fiel aus, ging wieder an. "Zum Kuckuck! Können die Idioten den Generator nicht stabilisieren?" Eine männliche Stimme. Nicht Markus. Ihr Herz klopfte plötzlich stark als sie begriff. "Herzaktivität", rief eine Frauenstimme. Mühsam öffnete sie die Augenlider, wollte sich erheben, wurde zurückgehalten. "Langsam", beruhigte sie ein Mann in einem grünen Kittel. "Lassen Sie sich Zeit." Wieder Herzrasen. Die Frau gab ihr eine Spritze. Durch den beruhigenden Nebel erkannte Sonja den Kühlraum wieder. Ihr Bett war geöffnet worden. Markus Bett war geschlossen. Das Display leuchtete blau.
Sie erkannte ihre Stimme kaum wieder. "Welches Jahr haben wir jetzt?" Der Mann schaute sie prüfend an. Er hielt ein Messgerät an ihren Kopf und gab Daten ein, während er sich mit der Antwort Zeit ließ. "Erinnern Sie sich an Ihre Einfrierung?" Sie nickte matt. "Seitdem ist einige Zeit vergangen. Sie werden sich wundern. Erschrecken Sie nicht aber wir befinden uns im Jahr 2120. Die Welt wie Sie sie kannten hat sich wahrscheinlich sehr verändert, meine liebe Frau ....", er schaute auf sein Gerät, "Sonja. Ich bin Daniel und das ist meine Assistentin Kira." Kira lächelte. Daniel gähnte. "Entschuldigen Sie bitte, ich bin seit sechsunddreißig Stunden im Dienst. Wir haben ständig Stromausfälle und Sie sind die Dritte, die wir in meiner Schicht aufwecken mussten." Kira half ihr vom Bett aufzustehen. Kraftlos wankte sie auf einen Rollstuhl zu. Man brachte sie in ein Krankenzimmer. So müde sie war, wehrte sie sich gegen den Schlaf. Hundert Jahre hatte sie geschlafen wie Dornröschen. Aber kein Prinz hatte sie wachgeküsst. Sie brauchte mehrere Tage um zu begreifen, dass sie jetzt hundert Jahre älter war.
Ein Tellerklappern weckte sie. Sie sah einen Suppenteller neben ihrem Bett. "Guten Appetit!" Der Arzt, wie hieß er noch, Daniel, stand im Zimmer. Hungrig griff sie nach dem Löffel. "Ich wollte sie eigentlich nicht beim Essen stören", sagte er, "aber ich muss etwas Dringendes mit Ihnen besprechen. Sonja nickte und löffelte die Suppe in sich hinein. Seit hundert Jahren nichts gegessen. "Es geht um Ihren Mann. Aus unseren Unterlagen geht hervor, dass er nach einem Unfall ins Koma fiel und etwa sechzehn Jahre darin blieb. Dann ließen Sie sich gemeinsam einfrieren." Sonja schaute kurz auf: "Meine Hoffnung war, dass es der Medizin eines Tages gelingen würde ihn wieder zum Leben zu erwecken und dass wir dann zusammen weiterleben könnten. Wie weit sind Sie? Werden Sie es schaffen?" Daniel war es sichtlich unangenehm ihre Frage verneinen zu müssen. "Leider nein, Sonja. Es tut mir leid." Sonja ließ den Löffel sinken und schob den Teller beiseite. Etwas Suppe lief über. "Aber warum haben Sie mich dann geweckt? Ich dachte, ... ich hoffte ..."
Daniel zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihr Bett. Seine braunen Augen blinzelten müde. "Schauen Sie Sonja, Sie haben sich Ihre Zukunft wahrscheinlich sehr schön vorgestellt. Als sei dann alles möglich, was Sie vor hundert Jahren noch nicht geschafft haben. Das ist aber nicht so. Ganz und gar nicht." "Aber der Blick aus meinem Fenster? Ich sehe viele Hochhäuser. Grüne Parkanlagen. Fußgänger und Fahrradfahrer", sagte sie. Daniel entschloss sich deutlicher zu werden. "Wir hier im Jahr 2120 haben riesige Probleme mit der Umweltverschmutzung und mit der Energieversorgung. Es gab diese Kernkraftwerke ... die müssen sie noch benutzt haben." "Sie sollten zu meiner Zeit langsam ausgeschaltet werden." "Leider sind drei in die Luft geflogen. Sie haben zu lange mit dem Abschalten gewartet. Eins in Amerika, zwei in Russland und dem früheren Polen. Es gibt dort verbotene Zonen, die völlig verstrahlt sind. Aber ich wollte etwas anderes mit Ihnen besprechen, Sonja, und das fällt mir nicht leicht, das müssen Sie mir glauben."
Sonja setzte sich auf. Daniel erklärte ihr, es gäbe einen Beschluss der Weltregierung alle Eingefrorenen aufzutauen. Der Grund dafür sei der Energiemangel. "In Ihrem Fall hat es wie bei einigen hundert anderen auch geklappt. Das allein ist schon ein kleines Wunder. Sie müssen beim Einfrieren noch ziemlich gesund gewesen sein. Aber die Menschen mit schwereren Krankheiten sind bisher alle gestorben. Vielleicht würde es die Medizin in weiteren hundert Jahren schaffen, aber leider haben wir nicht so viel Zeit. Wir haben noch vier Wochen, dann wird uns der Strom abgestellt. Er wird woanders dringender benötigt."
Sonja weinte. "Ich möchte meinen Mann sehen",forderte sie. Daniel bot ihr an sie zum Kühlraum zu begleiten, da er ohnehin wieder zurückmusste. Nachdem sie einen Bademantel aus einem ihr unbekannten flauschigen Stoff angezogen hatte, hielt sie sich an seinem Arm fest. Zusammen gingen sie langsam zu den Treppen. Der Aufzug war schon lange außer Betrieb.
Daniel öffnete im Kühlraum das kleine Fenster über Markus Gesicht. Wie immer schien er zu schlafen. Winzige Eiskristalle klebten an seinen Augenbrauen. Ach, Markus ... Daniels Stimme riss sie aus ihrer Versunkenheit. "Sonja, würden Sie bitte Ihr Einverständnis zu seinem Auftauen geben. Hier müssten Sie unterschreiben." Er hielt ihr ein Blatt Papier entgegen. "Nein", sagte sie laut. Die Schwester, die die Geräte eines anderen Kühlbettes überprüfte, schaute sie neugierig an. "Nein, ich bin nicht einverstanden. Wenn Sie ihn auftauen stirbt er." "Das stimmt. Aber in vier Wochen, wenn die Abteilung aufgegeben wird, stirbt er auch. Ich brauche Ihr Einverständnis als Vormund." "Ich warte lieber die vier Wochen ab."
"Ach ja?" Daniels heftige Reaktion überraschte sie. "Wissen Sie, wieviele Kinder da draußen sterben, weil sie die kalten Nächte nicht überleben? Kommen Sie, ich zeig´ es Ihnen." Sein Griff an Ihrem Arm war gar nicht mehr hilfsbereit. Fast rannte er mit ihr aus dem Raum. Sie hatte Mühe nicht zu stolpern. Ihre Beine schmerzten von der schnellen Bewegung. "Langsam", keuchte sie. Erst in der überfüllten Eingangshalle des Krankenhauses kam sie wieder zu Atem. Er ließ sie an der Rezeption stehen und holte aus einem Fach zwei dicke Thermojacken und Winterstiefel. "Die brauchen Sie dreiviertel des Jahres. Die Außentemperatur beträgt meistens 5 Grad. Zu Ihrer Zeit war es wahrscheinlich wärmer in Europa." "Kommen Sie." Zum Glück ging er jetzt langsamer.
Von oben, aus ihrem kleinen Zimmer im achten Stock, hatte die Welt da draußen so schön ausgesehen. Doch die vielen grünen Bäume waren aus Plastik. Die Hochhäuser des Zentrums wirkten verfallen, wenig bewohnt. Von den Fassaden war oft die Verkleidung abgefallen. Teilweise lag sie noch am Boden. Die Menschen eilten durch die Straßen. "Gibt es keine Autos mehr?" fragte Sonja. Daniel überlegte. "Sie meinen künstliche Transportmittel? Nein, sie verbrauchen zuviel Strom." Je mehr sie sich vom Zentrum entfernten desto slumartiger wirkte die Stadt. Sonja sah viele Hütten, aus allen möglichen Materialien zusammengezimmert. Viele zerlumpte Kinder. Die meisten schleppten Wasserkanister mit sich.
Daniel betrat mit ihr eine Hütte. "Hier wohnt Eri mit seinen fünf Geschwistern und seinen Eltern." Sonja sah sich in dem einzigen Raum um. Auf einem einfachen Bett lag ein kleiner Junge. Sein Kopf war hochrot und er schien stark zu fiebern. Seine Geschwister waren alle mit irgendetwas beschäftigt. In einer Ecke stand ein kleiner Ofen, der wenig Wärme verbreitete. "Wo sind die Eltern?" flüsterte Sonja. "Entweder im Arbeitsdienst oder auf Nahrungssuche." Daniel zog eine Schachtel mit Tabletten aus seiner Jackentasche. Er steckte eine davon dem Jungen in den Mund und ließ ihn aus einem verschmierten Becher trinken. Die anderen Tabletten gab er der ältesten Schwester mit der Anweisung, sie ihm dreimal täglich einzuflößen. "Der Kleine muss mehr trinken, Ariana", sagte er eindringlich. Ein anderer Bruder Eris verließ sofort mit zwei Wasserkanistern die Hütte.
"Wissen Sie, Sonja", erzählte ihr Daniel als sie zurückgingen, "was ich hier mache, ist eigentlich illegal. Wir Ärzte haben in den Krankenhäusern genug zu tun, Sie haben ja gesehen, wie voll es bei uns ist. Hausbesuche sind Energieverschwendung heißt es. Aber nicht alle können ihre kranken Kinder ins Krankenhaus bringen." Sonja dachte auf ihrem Zimmer lange nach. Schöne Zukunft - jetzt ihre Gegenwart! Dann hatte sie sich entschieden. Was blieb ihr auch anderes übrig. Sie ging zu den Kühlräumen. Daniel war immer noch dort. Schlief er denn nie? "Wo ist das Blatt?" fragte sie, "ich unterschreibe." Daniel legte eine Hand auf ihre Schulter. Plötzlich umarmte sie ihn und begann zu weinen.
Markus Kühlbett summte.

(c) Silvia Both

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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