Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Oktober 2002
Aus der Zeit gefallen
von Ingeborg Restat


Commander John Bitfield sitzt an seinem Platz auf der erhöhten Kommandozentrale in der Forschungshalle der Raumstation Skymaster. Soeben hat er das geglückte Andocken der Raumfähre Overdrive zur Terrastation 10 auf der Erde gemeldet. Die Fähre bringt eine neue Besatzung für die Skymaster, welche die alte ablösen soll. Noch sind sie in der Druckschleuse, aber gleich wird sich das Portal öffnen und Commander Mirko Rohan wird mit seinen Technikern und Wissenschaftlern die Raumstation betreten. Die Zeitangabetafel über dem Portal zeigt MEZ-Zeit an, Sie befinden sich über Südeuropa. Es ist 11 Uhr, am 7. August 2077.

Morgen, wenn die Übergabe erfolgt ist, wird die Fähre John und seine Besatzung nach vier Monaten zur Erde zurückbringen. John kann es kaum erwarten, seine Frau Mary und seine kleine Tochter Nancy wieder zu sehen.

Viele, die sich jetzt vor dem Portal einfinden, haben schon ihre Sachen gepackt. Jeder ist mit seinen Gedanken schon zu Hause. Ungeduldig erwarten sie die neue Mannschaft. Da sitzt kaum einer noch an den Computern oder den Geräten in der Halle. Aus den Schlafkojen kommen sie; der Koch mit seinen Gehilfen unterbricht seine Arbeit in der Küche; niemand hat jetzt noch Lust, sich im Illusionsraum auf die Erde ans Meer oder in Wald und Wiese versetzen zu lassen. Lachen und fröhliches Gemurmel dringt zu John herauf. Er erhebt sich und geht auch hinunter in die Halle. Einen Moment tritt er noch ans Fenster und betrachtet den blauen Planeten, der sich ganz langsam zu drehen scheint.

„Was machst du zuerst, wenn du unten bist, John?" Max Neureuter, sein Freund, ist zu ihm getreten.

John dreht sich um. Da steht er, breitbeinig, dieses Urgestein mit den Stoppelhaaren, grob, aber herzlich. John streicht sich über seinen ergrauten kurzen Bart. Er weiß, was Max hören will, doch er zwinkert mit seinen blauen Augen und antwortet: „Ich nehme mein Fahrrad und fahre durch Wiese und Wald."

„Sonst nichts?", fragt Max und grinst breit. „Auf mich wird Moni schon warten."

Unruhig drängen alle vor. Das Portal der Schleuse bewegt sich, öffnet sich. Als Erster tritt Mirko Rohan heraus. Groß, schlank, mit federnden Schritten geht er auf John zu. „Melde mich bereit zur Übernahme des Kommandos auf der Skymaster!", sagt er kurz und steif.

„Willkommen an Bord. Wünsche der neuen Besatzung Glück und Erfolg", antwortet John ebenso kurz.

Doch dann machen sie einen Schritt aufeinander zu, sie kennen sich. Mirko ergreift fest und herzhaft Johns Hand. „Tut gut wieder Boden unter den Füßen zu haben, nach dem schwerelosen Zustand während des Fluges mit der Raumfähre."

„Ja, der Boden hier hält uns so fest wie die gute alte Erde. Fast alles ist hier schon so, als wären wir gar nicht so weit von unserem Planeten entfernt. Nur auf unseren zwei Beinen vor die Tür gehen, das können wir nicht. Dafür aber hat man von hier aus eine herrliche Aussicht wie sonst nirgendwo."

Die Neuen drängen längst zu den Fenstern. Sie können sich nicht satt sehen, an dem wunderschönen blauen Planeten, der ihrer aller Heimat ist. Doch plötzlich staunt einer: „Was ist da los? Was blitzt und raucht da so gewaltig? Das sieht aus, als würde in Afrika der Krater eines neuen Vulkans aufbrechen."

Mirko und John drängen sich durch die aufgeregten Menschen zum Fenster vor.

„Verdammte Rebellen, die sprengen noch alles in die Luft", knurrt Max neben ihnen.

„Ach was, Max! Das wird niemand wagen. Zu unberechenbar ist die neu entwickelte Möglichkeit der Vernichtung mit ihrer verheerenden Wirkung. Viel zu schwer zu begrenzen sind die unterirdischen glühenden Lavaströme, wenn sie aktiviert, gelenkt und in bestimmten Gebieten zum Ausbruch gebracht werden."

„Und wenn es doch jemand wagt?"

„Der würde sich wahrscheinlich selbst umbringen. Es besteht immer die Gefahr zu einer Kettenreaktion, die auch vor dem Auslöser nicht Halt macht. Das überlegt sich jeder."

Max sieht ihn skeptisch an. „Du warst schon immer ein Optimist. Aber wenn nun doch jemand glaubt, er kann das?"

„Ja, was, wenn er sich irrt und die Wirkung den Erdkern erreicht?", wirft Mirko ein.

John stutzt. „Das wäre eine Katastrophe für unseren Planeten, vielleicht sogar für das ganze Sonnensystem. Aber eben weil es so ist, können alle Konflikte und Streitigkeiten auf der Welt nur noch in Verhandlungen gelöst werden. So hat das Schlechte auch noch sein Gutes."

„Dein Vertrauen ehrt dich, John! Glaubst immer noch an das Gute im Menschen", spottet Max.

„Noch haben nur wenige Staaten das Wissen um die Möglichkeit dieser Vernichtung, aber fast alle streben danach. Sie versprechen sich Macht davon. Wie ich gerade hörte, soll sich auch der rebellische Diktator des kleinen Staates Branggawe in Afrika darum bemüht haben", meint Mirko besorgt.

„Nicht auszudenken, wenn es ihm gelungen ist", murmelt Max.

Da geht ein Aufschrei durch die Menschen. Afrika scheint zu explodieren. „O Gott!" – „Was wird das?" – „Das Meer kocht!" – „Es verdampft!" – „Ja, gleich können wir nichts mehr sehen, die Wolke schiebt sich immer höher" – „Aber was geschieht da?" – „Was ist los?"

„Die Erde explodiert." Laut und unnatürlich ruhig sagt es Max.

„Max, bist du wahnsinnig?" John will Panik verhindern.

Aber schon zucken grelle Blitze durch die Wolke, die Raumstation wird erschüttert. Panikschreie, einige stürzen, andere halten sich fest, stehen, als könnten sie sich nicht mehr rühren. Dann liegt die Raumstation wieder ruhig, aber sie entfernen sich von der Wolke.

„Wir treiben aus der Bahn!", schreit Mirko und läuft zur Kommandozentrale. „Alle auf ihre Plätze!", befiehlt John und folgt ihm.

Sie kommen nicht bis dahin.

„Die Sonne! Die Sonne!", kreischt einer. Schweigen, vor Entsetzen erstarrtes Schweigen. Alle sehen es, die Sonne spuckt Feuer, wird dunkler, dunkelrot, bläht sich auf, bis sie zu zerbersten scheint. Zugleich packt ein gewaltiger Stoß die Raumstation und treibt sie dem Rand des Sonnensystems entgegen.

Menschen, lose Dinge, Geräte werden durch die Halle geschleudert und alles an eine Wand gepresst. Ihnen bleibt der Atem weg, sie verlieren das Bewusstsein.

John schlägt die Augen auf. Wie immer erhellt indirektes Licht die Raumstation. Er wendet den Blick zu einem Fenster. Dahinter ist alles schwarz, nein, ein paar Sterne sieht er. ‚Sind wir auf der Nachtseite der Erde?’, fragt er sich. Dann versucht er mühsam sich zu erinnern. Gibt es die Erde noch? Aber die Sonne? War das nur eine kurze Veränderung oder ist sie wirklich zerborsten? Wo sind wir jetzt? Er hebt seinen Arm – er kann sich bewegen, er lebt. Und die andern? Kreuz und quer liegen sie um ihn herum. Er schiebt die Beine eines andern von seinem Körper und steht auf. – Mary, Nancy – was ist aus ihnen geworden? Wird er sie wieder sehen? Der Gedanke bringt ihn fast um den Verstand. Tränen der Verzweiflung laufen ihm über das Gesicht, als er zum Fenster geht. Suchend blickt er hinaus, sonst war da der blaue Planet. Nichts mehr, auch nicht in weiter Entfernung, absolut nichts. Er beginnt es zu ahnen, sie sind aus dem heimatlichen Sonnensystem ins Universum gestoßen worden. Was wird das bedeuten, wenn die Regeln der Erde, der kreisenden Planeten um die Sonne nicht mehr gelten?

Wimmern, Weinen, Aufschluchzen hört er hinter sich. Die Stimmen klingen seltsam blechern, wenn einer verzweifelt den Namen eines Angehörigen ruft. „O Gott, hilf!" jammert eine Frau. „Wenn es ihn gibt", antwortet bitter ein Mann. „ Ein verdammter Gott, wenn er das zulässt!", schluchzt eine Stimme, die John erkennt, trotz der Verzerrung. Er dreht sich um. Max steht hinter ihm. „Was nun?", ist alles, was er zu sagen weiß.

Ja, was nun? John schaut sich um. Frauen und Männer erheben sich, kommen zum Fenster, finden den blauen Planeten nicht mehr und begreifen. Miriam, seine hübsche Assistentin, auf die Mary manchmal eifersüchtig war, fleht: „John, oh, John, was wird jetzt? Wo sind wir? Müssen wir sterben? Können wir nie mehr zurückkehren?"

Alle drängen zu ihm, erwarten von ihm eine Antwort. „Wie lange können wir so noch überleben?" – „Ja, wie lange noch?"

„So lange wie der Sauerstoff reicht. Dann ist Schluss", sagt Max ergeben mit leerem Blick.

John mustert seinen Freund. Das Urgestein gibt auf?

„Ich will noch nicht sterben", schreit einer. Voller Panik stimmen die andern zu.

„John, tu etwas!", bettelt Miriam.

Alle Augen wenden sich ihm zu. Hoffnung erwarten sie von ihm. Eigene Ängste, Verzweiflung und Trauer muss er verdrängen. „Wartet! So lange wir leben, ist noch nichts verloren", versucht er, sie zu beruhigen. Dann sieht er Mirko Rohan oben auf der Kommandozentrale stehen, hoch aufgerichtet. Weder Angst noch Verzweiflung ist ihm anzumerken, nur der Blick seiner dunklen Augen ist starr. „Wie viel Sauerstoff haben wir noch?", fragte er ihn.

„Der reicht noch eine Ewigkeit!", schallt seine Antwort laut durch die Halle zurück.

John ist überrascht, was meint er damit? Aber egal. „Na bitte, wir habe viel Zeit, uns etwas zu überlegen", teilt er den andern mit. Dann fragt er:. „Haben alle überlebt oder gibt es Tote?"

„Da liegen noch welche zwischen den Geräten. Aber sie atmen nicht, sie sind wohl tot", antwortet einer.

John stutzt, sieht ihn an, sieht Max an, fasst sich selbst an die Brust.„Wir atmen auch nicht", stellt er fest. ‚Ja wie reden wir überhaupt, es macht ja keiner den Mund dabei richtig auf und doch höre ich sie’, wundert er sich. Da ahnt er, weshalb Mirko von der Ewigkeit gesprochen hat.

Verblüfft blickt einer prüfend zum andern. „Dann sind wir alle tot!", schreit Miriam auf. Sie kann sich nicht wieder beruhigen. „Miriam, Miriam! Reiß dich zusammen!" Schnell geht John auf sie zu und nimmt sie in die Arme.

„Aber wie können wir reden, ohne zu atmen?" Max sieht John fragend an und Tränen rollen ihm aus den Augen. John hat Max noch nie weinen sehen. Er lässt Miriam los und geht zu ihm, schlägt ihm auf die Schulter und bemüht sich, launig zu sagen: „He, altes Haus! Das ist doch egal. Alles können wir doch nicht wissen. Schließlich sind wir zum ersten Mal im Universum."

Langsam kommt Mirko von der Kommandozentrale herunter. „Wir müssen uns keine Sorgen um Sauerstoff oder Energie machen, das reicht ewig, so lange, wie niemand denken kann", erklärt er ruhig.

„Aber die Sonne hat die Energie gespeist, jetzt ist sie nicht ..."

„Dazu brauchen wir die Sonne nicht mehr", fällt ihm Mirko ins Wort und schaut John vielsagend an.

John beginnt zu begreifen. Er weiß zwar auch eine Menge über das Universum, aber sein Spezialgebiet sind die Roboter für den Mars gewesen, während Mirko sich eingehend mit dem Universum befasst hat und an der Entwicklung eines Universumgleiters beteiligt war. Sie werden den Männern und Frauen jetzt einiges erklären müssen. „Es ist die Erdenzeit unseres Sonnensystems, aus der wir gefallen sind, das hat alles verändert, nicht wahr?", fragt er Mirko.

Alle, die schon wach sind, kommen näher heran. Sie wollen hören, dass alles gut wird. Es tut John weh, in ihre Augen zu sehen.

„Ja, wir sind aus der Zeit gefallen, die durch die Umkreisung der Erde um die Sonne in unserem Sonnensystem bestimmt wird. Im Universum gilt das nicht mehr. Eine neue Bahn die wir in der Unendlichkeit eingeschlagen haben bestimmt jetzt die Zeit. Hier wird nicht nach Stunden gemessen, sondern nach Ewigkeiten. Und alles, auch unsere Körper unterliegen dem neuen Zeitgesetz, nur die Energie unseres Geistes nicht."

„Wie lange ist eine Ewigkeit?" – „Ja, wie lange können wir so am Leben bleiben?" – „John, sag du doch mal was!"

„Es ist so, wie Mirko sagt. Wenn unser Körper auf der Erde um ein Jahr gealtert ist, so kann das hier erst in Ewigkeiten so sein."

„Aber das heißt ja ..." – „Ich will hier nicht alt werden, eingesperrt auf Ewigkeit!", lehnt sich jemand schockiert auf.

„Du wirst nicht alt werden. Für unsere Begriffe bleibt hier alles ewig so, wie es jetzt ist. Weder Sauerstoff noch Energie wird verbraucht." Mirko schaut jeden eindringlich an.

Da schallt ein höhnisches Lachen durch den Raum. Max, der abseits saß, den Kopf in die Hände gestützt, wirft die Arme hoch und runter und schüttelt sich vor Lachen dabei. „Das ewige Leben, was? Das ist doch alles Quatsch! Da, ich hebe die Arme und nehme sie runter, wie viel Zeit brauche ich dazu, doch keine Ewigkeit!"

„Das stimmt!" – „Richtig!", rufen alle durcheinander.

„Und doch ist es so!" Mirko muss seine Stimme heben, damit man ihn hört.

„Nun seid doch mal ruhig!", versucht John, sich Gehör zu verschaffen. „Wir wissen nicht, warum wir unseren Körper benutzen können wie immer, warum wir reden können, ohne ständig zu atmen, warum wir uns bewegen wie auf der Erde. Es muss mit der Energie unseres Geistes zusammenhängen, die Kraft und Gewalt über Materie hat. Nur, dass die Zeit, die dabei vergeht, eine andere ist, als auf der Erde, das wissen wir."

Max steht auf, kalkweiß sein Gesicht unter den Stoppelhaaren. „Bedeutet das, wir können gar nicht sterben?", fragt er.

Mirko und John sehen sich an und bleiben die Antwort schuldig.

„Leben, hier - so, wie jetzt - immer?" Miriam ist ratlos.

„Das ist Blödsinn! Wir verhungern doch. Unsere Vorräte reichen keine Ewigkeit", behauptet einer.

„Eure Körper haben sich auf die Ewigkeitszeit eingestellt. Sie brauchen nichts mehr. Ihr werdet weder Hunger noch Durst verspüren", erklärt Mirko.

„John, John, ihr müsst euch irren! Das kann doch nicht sein, dass wir hier in diesem Gefängnis leben müssen, in unseren Körpern gefangen, nur dahinvegetieren, weil wir nicht sterben können", bettelt Miriam. Sie hat seine Hand gepackt, sieht ihn flehend an.

John will sie tröstend an sich ziehen, da bemerkt er, wie Max mit hängenden Schultern zum Portal der Druckschleuse geht. „Wo willst du hin, Max?"

„Ich will raus! Schluss, aus! Ich will die Ewigkeit nicht, das muss ein Ende haben." Er steht schon an dem Portal zur Schleuse und hantiert an dem Öffnungscomputer.

Alle drehen sich nach ihm um. „Ich komme mit" – „Ich will auch lieber sterben, als auf ewig hier zu bleiben." Einige versuchen sich durchzudrängen und ihm zu folgen.

Andere befällt Panik. „Haltet ihn zurück. Er darf die Schleuse nicht öffnen, dann kommen wir alle um." Sie stellen sich den Fortstrebenden in den Weg, wollen sie mit Gewalt zurückhalten. Einer reißt am andern. Die einen wollen festhalten, die andern sich befreien. Sie schlagen um sich. Max steht wie ein Fels an das Portal gelehnt, als ginge ihn das alles nichts an. Er wartet nur darauf, dass das Portal sich öffnet. Er will da durch und dann hinaus in die Unendlichkeit, von der er erwartet, dass sie ihn vernichtet, befreit aus einer ausweglosen Situation.

John bahnt sich einen Weg zu ihm. Miriam verkriecht sich unter einem Gerät, hockt am Boden, die Hände über dem Kopf, und wimmert vor sich hin. Mirko schreit so laut er kann: „Hört auf, keine Tür kann sich mehr öffnen. Kein Gerät, keine Materie reagiert mehr wie in unserem Sonnensystem, alles dauert eine Ewigkeit."

Und die Tür bleibt verschlossen. Max bricht davor zusammen, schlägt mit seinen Fäusten dagegen und brüllt gegen das Schicksal an. John richtet ihn wieder auf, nimmt ihn in die Arme und weint mit ihm.

Stille, nur Schluchzen ist um sie herum. „Dann können wir wohl gar nichts mehr tun", resigniert einer.

„Doch! Auch wenn wir jetzt noch nicht wissen, was. Wir dürfen nicht aufgeben, darüber nachzudenken." Entschlossen geht Mirko mit großen Schritten zur Kommandozentrale zurück.

John bewundert Mirko, der nicht einen Moment in dieser Situation die Fassung verloren hat. „Jetzt wissen wir, woran wir sind. Es wird Zeit, uns darauf zu besinnen, was zu tun ist", ruft er entschlossen den andern zu und wischt sich die Tränen aus dem Gesicht.

„Was können wir schon tun?", schalt es zurück.

„Erst einmal aufräumen", antwortet er. „Max, du sorgst dafür, dass alle Geräte wieder an ihren Platz kommen." Er hält ihn noch immer am Arm gepackt. Zwingend schaut er ihn an, erhoben das Haupt, Kinn mit Bart energisch vorgeschoben. „Hörst du?!" Er rüttelt ihn sacht. Max hebt den Kopf. In den Augen unter zotteligen Augenbrauen hängen noch Tränen, aber schon erkennt John darin seine ihm bekannte Ungeduld und Gereiztheit, mit der er ihn sicher am liebsten abschütteln würde.

„Bin ja nicht taub!", brummt Max, reißt sich von John los, wendet sich ab und geht mit schweren Schritten durch die Halle.

John sieht ihm hinterher. ‚Er schafft es! Wir müssen es ganz einfach schaffen!’, denkt er und fordert alle auf, wie gewohnt den Anordnungen von Max zu folgen und alles einzusammeln, was umhergeflogen ist. Dann fragt er: „Ist jemand noch nicht zu sich gekommen?"

„Ja, drei liegen hier in der Ecke", wird ihm zugerufen.

„Bringt sie in ihre Kojen!", bestimmt John und geht hoch zur Kommandozentrale. Mirko sitzt schon vor den Schaltgeräten und notiert sich ihre Anzeigen. „Ich will kontrollieren, ob und wie sie sich verändern", erklärt er.

Reges Treiben ist jetzt in der Halle. „Erst mal haben wir sie beschäftigt, aber was machen wir später mit ihnen?", sorgt sich John.

„Das wird sich finden. Wir müssen nach einer Möglichkeit suchen, auch in dieser Situation Beobachtungen zu machen. Alles kann für uns wichtig sein", meint Mirko.

Da werden sie von Max unterbrochen. „Verdammt, John! Wie sollen wir die drei in die Kojen bringen? Die Türen sind zu."

John schaut hinunter. Da steht er wieder wie immer, der alte Max, breitbeinig, ungeduldig. Er hält einen Bewusstlosen auf seinen kräftigen Armen. Ungewollt gleitet zum ersten Mal ein Lächeln über Johns Gesicht. „Hoch lebe die moderne Technik!", ruft er ihm zu. „Aber zuletzt ist nur noch Verlass auf die einfache Mechanik. Nehmt den Schlüssel aus dem Kasten für den Notfall; damit sollte es euch auch in der Ewigkeitszeit möglich sein, die Ersatzmechanik zu betätigen und die Türen zu öffnen." Dann wendet er sich wieder Mirko zu: „Was meinst du, bewegen wir uns durch das Universum?"

„Ja. In rasender Geschwindigkeit durch den Stoß, mit dem wir aus unserem Sonnensystem geschossen wurden. Nur weil wir immer noch in unserer Erdenzeit befangen denken können, sieht es so aus, als würde alles stehen bleiben."

„Entfernen wir uns dabei gradlinig vom Standpunkt unseres Sonnensystem weg? Wo ist dann die Grenze, an der wir ankommen?"

„Nein. Alles im Universum bewegt sich in Umlaufbahnen, mal kleinere mal größere. Auch wir jetzt. Nur manchmal überschneiden sich welche."

Nachdenklich streicht sich John über seinen Bart. Er blickt hinunter zu Frauen und Männern, die da jetzt emsig alles wieder richten, und hört seinen Freund Max wie immer polternd Anweisungen geben. Hoffnung, eine ganz kleine Hoffnung beginnt in ihm zu keimen. „Wenn wir uns in einer Umlaufbahn bewegen, die sich irgendwann mit einer anderen überschneiden kann, dann könnten wir doch theoretisch in ein anderes Sonnensystem gezogen werden, wenn wir ihm nahe genug kommen", spricht er seine Gedanken aus.

„Du sagst es! Darin sehe ich auch eine Chance", bestätigt Mirko und John ist, als leuchteten seine dunklen Augen auf.

„Und theoretisch, nur rein theoretisch, wenn wir uns im Kreis bewegen und unsere Erde noch besteht, dann könnten wir ja sogar an dem Punkt ankommen, wo unser Sonnensystem ist und vielleicht zurückkehren", spinnt John seinen Gedanken weiter. Er beginnt zu lachen, zu schön ist der Gedanke.

Mirko lacht auch. „Mit ein bisschen Glück! Aber das ist nur eine Chance von einer Milliarde zu eins!", dämpft er gleich den Optimismus.

Still wird es in der Halle. Alle halten mit der Arbeit inne, einer stößt den andern an und macht ihn aufmerksam auf die lachenden Kommandanten. Fragend schauen sie zu ihnen hoch.

Gerade will John ihnen die frohe Erkenntnis verkünden, da zeigt Mirko auf die Messgeräte, die Anzeigen vibrieren. Noch ehe er ein Wort sagen kann, vibriert die ganz Raumstation. Von Schreck erstarrt hält sich jeder fest, wo er gerade ist. Miriam, einen kleinen Computer im Arm, lässt ihn fallen und schreit auf. John rennt zu ihr hinunter, packt sie bei den Armen, schüttelt sie, dass sie zu sich kommt. Dann sieht er, wie die sonst schwarzen Fenster milchig hell werden.

„Legt euch auf den Boden! Bedeckt euer Augen! Wir streifen ein Sonnensystem", befiehlt Mirko von oben. Dann scheint sich die Raumstation zu drehen. Die schon am Boden liegen rutschen zu einer Wand. Ein mächtiger Sog erfasst die Station. Diejenigen, die sich nicht festhalten, werden hochgehoben, schweben. John zieht Miriam unter ein Gerät und hockt da mit ihr. Niemand ist eines Tones fähig, ohnmächtig, in Angst erstarrt verharren alle in dem unheimlichen Geschehen.

Dann gleitet die Raumstation wieder in ihr normale Lage zurück. Angenehmes Licht dringt durch die Fenster, Sonnenlicht. Einige stehen auf und holen tief Luft. Andere sehen es, versuchen es selbst. Ein Jubel bricht aus „Wir können wieder atmen!"

John springt auf und läuft hoch zur Schaltstelle. Da hantiert Mirko schon an den Geräten. „Sie arbeiten wieder", ruft er ihm entgegen. „Komm schnell, wir müssen reagieren, wenn wir nicht in eine Laufbahn um diese Sonne kommen wollen, sondern in die Anziehungskraft eines ihrer Planeten."

„Alle an eure Plätze!", brüllt John in die Halle. Und er hört den alten gewohnten Klang seiner Stimme.

Schlagartig bricht der Jubel ab. Viele Füße trampeln eilig zu den Geräten. Miriam kommt zu John und setzt sich neben ihn. Plötzlich weist sie zum Fenster: „Da ... da ..." Sie ist kaum fähig zu reden. Dann springt sie auf, wirft die Arme in die Luft. „Die Erde! Da ist die Erde", schreit sie wie von Sinnen.

Einige springen auch auf, rennen zum Fenster.

„Hinsetzen!" Johns Stimme schalt gewaltig durch die Halle. Er zieht Miriam auf ihren Platz zurück.

„Verdammt noch mal! Konzentriert euch! Jetzt wird es kritisch. Fahrt das Notprogramm an!", fordert auch Mirko lautstark.

Die kleine blaue Kugel im Fenster wird größer und größer, kommt immer näher, bis sie fast das ganze Fenster füllt.

„Achtung! Gleich Eintritt in eine Atmosphäre. Vorsorge aktivieren!", befiehlt Mirko.

„Max, die Außenhaut vom Rumpf lösen und aufblähen ... Achtung ... jetzt!"

Max folgt Johns Anweisung auf die Sekunde. Ein Knall, ein Aufglühen, ein Stoß, ein Erzittern der Skymaster. Die eben noch glühende Haut der Raumstation wird zu einem durchsichtigen Ballon, der sie tiefer und tiefer trägt.

„Wir leben!" Irgendjemand ruft es in die Halle.

„Wir haben es geschafft, ohne Schaden in die Atmosphäre dieses Planeten einzutreten", stellt Mirko erleichtert fest.

„Das ist die Erde! Bestimmt das ist die Erde!" Miriam ist nicht mehr zu halten. Sie rennt zum Fenster.

Andere folgen ihr.

John lehnt sich zurück. „Mirko, wo wir auch sind. Ein Glück, dass wir zu zweit waren. Wer weiß, ob ich das allein so geschafft hätte."

„Dafür hättest du mir bei einer Landung auf den Mars helfen müssen. Dafür wärst du besser geeignet", erwidert Mirko und drückt ihm die Hand

„Ich sehe Land!" – „Ja, Kontinente, Flüsse" – „Das Meer, da ist Wasser" – „Hab ich einen Durst!" Alle lachen befreit. „Und wir kommen doch nach Hause. Es gibt sie noch, unsere gute alte Erde", so reden sie durcheinander.

„Wer hat gedacht, sie sei explodiert?", fragt Max frech grinsend, schaut in die Runde und herausfordernd zu John hoch. „Moni wird schon fragen, wo ich so lange bleibe."

Fröhlichkeit umgibt ihn. Vergessen, verdrängt ist in diesem Moment, dass er aufgeben, sterben wollte; vergessen bei allen ihre Angst und Verzweiflung. „Wir sind wieder sterblich!", sagt einer laut. - Stille – nachdenkliches Schweigen.

Aber nur für einen Moment. Nicht mehr lange, dann würden sie sanft aufsetzen, auf der Erde, dem wunderschönen blauen Planeten, den es immer noch gibt. Nur leise kommt die Sorge in ihnen hoch, was die Katastrophe wohl angerichtet hat, die sie aus dem Sonnensystem warf. Aber alle hoffen – bis einer ruft: „Wo ist Afrika?"

Ja, was ist das für ein Kontinent, den die Erde ihnen zuwendet? Wenn das Europa ist, wo ist dann Afrika? Oder ist das doch ein fremdes Sonnensystem, ein fremder Planet? Jeder versucht sich jetzt so dicht wie möglich an eins der Fenster zu drängen.

„Ach, Blödsinn! So kann nur unsere Erde aussehen!"

„Aber wo ist dann Afrika?"

„Auf der uns abgewandten Seite der Erde."

„Und was ist das hier für ein Kontinent? Kannst du mir das sagen? Schau, da ist England, da die Ostsee, unten der Stiefel von Italien – und dann nichts mehr ..."

Max steht unter ihnen. Seine dunkle Stimme rollt laut über ihre Köpfe hinweg: „Stimmt! Die haben Afrika tatsächlich in die Luft gesprengt. Da ist nur noch Wasser und ein paar Inseln."

Drei Schwarzafrikaner der Mannschaft drängen vor. Scheu weichen die andern zurück, bilden eine Gasse für sie, damit sie ans Fenster treten können. Alle empfinden Mitgefühl mit ihnen, keiner wagt ein Wort.

Die drei schauen stumm dahin, wo einmal ihre Heimat war auf dem blauen Planeten. Einer von ihnen wirft seinen Kopf zurück, seine Augen flackern irre. Er schreit Entsetzen und Verzweiflung heraus. Die beiden andern greifen ihn, wenden ihn vom Fenster ab, führen ihn durch die Gasse, die sich wieder bildet, weg von denen, deren Freude über die Heimkehr sie nicht mehr teilen können. Abseits, in eine Ecke, setzen sie sich in ihrem Leid und klammern sich aneinander.

Noch wagt niemand etwas zu sagen, bis Max brummt: „Verdammtes Pack in Branggawe! Die Menschen werden nicht klug. Immer gibt es jemand, der sich lieber selbst mit umbringt, statt die Verständigung zu suchen. Irgendeiner schafft es wirklich noch mal, unser ganzes Sonnensystem zu vernichten, was wir schon befürchtet hatten."

Es gibt keinen Zweifel mehr, sie senken sich sacht auf die Erde nieder, die diesmal das Inferno, welches da gewütet haben muss, wohl überlebt hat.

„Eine Milliarde zu eins, war die Chance zu unserem Sonnensystem und Planeten zurückzukommen, John! Ich kann es beinahe nicht glauben, dass wir bei dieser geringen Möglichkeit gewonnen haben." Mirko erhebt sich.

„Es ist ein Wunder!", antwortet John und steht auch auf.

Alles, was nun noch zur Landung nötig ist, erledigt das automatische Notprogramm. Sie können die Kommandozentrale verlassen.

Zusammen gehen sie hinunter. Zuerst zu den drei Schwarzen. Sie wissen, es gibt keinen Trost, aber sie geben ihnen das Gefühl, nicht allein zu sein. Dann wenden sie sich den Menschen zu, die erst leise, dann wieder lauter ihre Freude über die glückliche Heimkehr äußern. Sie stehen am Fenster. Kein Zweifel mehr, es ist ihre Erde, auf die sie hinabgleiten.

Plötzlich dreht sich einer zu ihnen um. „Wie viel Zeit im Vergleich zur Ewigkeitszeit ist hier eigentlich inzwischen vergangen?", fragt er.

„Darauf bin ich auch neugierig", antwortet Mirko.

Nachdenklich sieht John ihn an. Wenn er in der Ewigkeitszeit nicht gealtert ist, und hier inzwischen Jahre vergangen sind, dann wäre er jetzt jünger als Mary?

Schon sind Häuser zu sehen, das Ufer, das Wasser des Meeres, Menschen, die zusammenlaufen und zu ihnen zum Himmel hoch weisen.

„Verdammt, ich kann nicht schwimmen. Wir landen ja mitten im Meer", poltert Max.

„Keine Angst, ich rette dich!", ruft John zurück.

Dann setzt der Ballon mit der Skymaster sanft halb auf dem Land und halb im Meer auf.

„Zu Hause! Wir sind Zu Hause", flüstert Miriam und drückt John die Hand.



© Ingeborg Restat – Oktober 2002

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