Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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Oktober 2002
Die Zeitmaschine
von Birgit Erwin


P_last_llee, flackerten die gelben Neonbuchstaben des Straßenschildes über ihr. Heute hieß die Straße nur noch Müllallee. Die Paläste waren eine Erinnerung aus der Zeit vor dem Krieg. Wie so vieles. Wie der blaue Himmel, von dem die Alten ständig schwärmten. Wie Bäume. Wie die Demokratie.
Nur die Sonnenuntergänge waren prachtvoller als damals, weil der Smog sie in unvorstellbarem Glanz aufleuchten ließ.
Die Müllallee verlor sich grau in grau in einer Asphaltwüste aus Häuserruinen und vereinzelten Müllhalden. Es gab wenige Leistungen, die die Krankenkassen noch übernahmen – das Entfernen des Geruchssinss gehörte dazu. Bella warf einen letzten Blick auf den schmutzigen Zettel, den der Mann ihr zugesteckt hatte, und schob das Kinn trotzig vor. Einen Augenblick dachte sie an die Geschichten, die ihre Mutter ihr über die Müllallee erzählt hatte, seit sie ein kleines Mädchen war. Aber heute war sie kein kleines Mädchen mehr. Sie war Reporterin.
Ein zerbrochener Roboter hinkte klappernd aus einer Seitenstraße und musterte sie aus einem brennenden Auge. Bella ging schneller. Der kleine Punkt ihrer Navilandkarte hüpfte nach rechts. Bella schluckte und starrte in eine Seitenstraße, die kaum breit genug schien, um sich darin umzudrehen. Dahinter lag bleierne Schwärze.
“Verfluchte Scheiße!” murmelte Bella und betrat die Gasse. Vereinzelte Hausnummern glühten schwächlich.
Eine Ratte huschte durch den Unrat auf der Straße und quiekte schmerzerfüllt, als Bellas Stiefel sie mit einem gezielten Tritt gegen die Mauer beförderte.
Nummer 66. Sie war da, und sie hatte es überlebt.
Mit klammen Händen drückte Bella die Türe auf und trat in den unbeleuchteten Hausflur. Der Schein ihrer Lampe suchte vergeblich nach einem Fahrstuhl, und fiel dann auf eine Treppe. Das Mädchen tastete sich an der unverputzten Wand entlang, während sie sich gleichzeitig wunderte, wie sauber dieses Treppenhaus nach der Verwahrlosung der Straße erschien. Von den fünf Treppen fehlten nicht mehr als eine Handvoll Stufen. Trotzdem keuchte sie im Dachgeschoss angekommen war.
“Scheiße”, wiederholte sie, “Scheiß-Asthma!” Sie zog eine Puderdose aus der Tasche und legte eine dünne Schicht Latex-Puder auf. Nur die Superreichen konnten sich eine Behandlung der zahlreichen Allergien und Hautkrankheiten noch leisten.
Hier oben gab es nur eine einzige Türe. Bella klopfte.
“Bürger A/22539-92? Ich bin von der Presse. Bitte machen Sie auf.”
“Kommen Sie rein. Die Türe ist offen.”
Eine junge, gepflegte Stimme. Eine offene Türe. Bella zögerte, aber es war zu spät zum Umkehren. Wenn dies eine Falle war, würde sie sich zu verteigigen wissen. Sie folgte der Aufforderung und betrat die Wohnung.
“Hier entlang”, hörte sie die Stimme vom Ende eines schmalen dunklen Flures. Sie sah Licht und folgte.

Der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß, hob den Kopf und lächelte, als Bella eintrat. Sie fühlte, wie sein Blick über ihre Doc Martens, ihre Jeans und ihre durchsichtige Bluse glitten, und fühlte sich plötzlich unbehaglich.
“Sie sind wirklich nicht von der Staatspolizei”, sagte er mit einem Anflug von Überraschung. Bella starrte ihn groß an.
“Wenn Sie das erwartet haben, warum haben Sie mich reinkommen lassen?”
“Aber was hätte ich denn tun sollen?”
Plötzlich fiel ihr auf, dass sie seine Hände nicht sehen konnte. Sie waren hinter der riesigen Schreibtischplatte verborgen. Sie machte eine heftige Bewegung, bei der ihr die Handtasche von de Schulter glitt.
“Verfluchte Scheiße!” Sie bückte sich und zerrte den kleinen Revolver hervor. Als sie sich aufgerichtet hatte, sah sie, dass Bürger A/22539-92 nicht mehr hinter seinem Schreibtisch saß. Seine Hände lagen auf den Rädern eines altmodischen Rollstuhls. Er zog eine blonde Augenbraue hoch und lächelte.
“Den brauchen Sie nicht. Wollen Sie nicht Platz nehmen?”
Unter ihrem Latexpuder wurde Bella rot. Sie murmelte etwas unverständliches, während sie auf einen freien Stuhl plumpste.
“Ich entschuldige mich, Bürger A/....”
Er hob eine abwehrende Hand. “Gerald, bitte. Was kann ich für Sie tun?”
“Ich sagte schon, ich bin von der Presse. Ich möchte Ihre Geschichte bringen.”
“Meine Geschichte?” Er sah sich demonstrativ um. Seine Augen waren unwahrscheinlich blau. “Ein verkommenes Zimmer in der Müllstraße. Kahle Wände und eine Küche, die kaum noch funktioniert. Ein Rollstuhl. Das ist die ganze Geschichte. Wenn Sie das interessiert...”
“Ich meine Ihre Zeitmaschine.”
Sie beobachtete ihn genau. Ein seltsames Zucken lief um seine Mundwinkel. “Wer...”
“Ich verrate meine Quellen nicht.”
“Sehr lobenswert”, nickte Gerald.
“Also?”
“Also was?”
“Ist es wahr? Haben Sie wirklich eine Zeitmaschine?” Sie klang nicht wie eine abgebrühte Reporterin. Sie klang wie ein kleines Mädchen mit Träumen in der Stimme. Gerald musterte sie lange.
“Ich sollte das wirklich nicht tun”, murmelte er und blickte sekundenlang aus dem Fenster. Sie konnte die trostlosen Ruinen im Nebel des Smogs sehen. Endlich schien er eine Entscheidung zu treffen. Das Lächeln kehrte zurück.
“Ja”, sagte er, “ja, so könnte man das nennen.”
Bella stieß den Atem aus. “Wow! Sie haben wirklich eine Zeitmaschine erfunden.”
“Nicht erfunden. Gefunden trifft die Sache besser.”
“Stört es Sie, wenn ich das Band mitlaufen lasse?”
Er schüttelte den Kopf, während sie den kleinen Recorder aus der Tasche holte. Flüchtig wurde ihr bewusst, in welcher Armut dieser Gerald lebte. Ein Tonband wie dieses war ein unerreichbarer Luxus für ihn. Bella zuckte die Achseln. Die Geschichte würde auch ihn reich machen. Vielleicht.
“Erzählen Sie.”
“Die Zeitmaschine... ja... ich habe sie auf dem Speicher meines Vaters gefunden, als er starb. Ich werde den Tag nie vergessen an dem... ich sie zum ersten Mal benutzt habe. Es war... unbeschreiblich.”
“Wohin sind Sie geflogen?”
“Weit fort”, sagte er sofort. “Durch die Jahrhunderte. In eine... schöne neue Welt.”
“Und?”
Er zuckte die Achseln. “Was wollen Sie hören?”
“Wie war es?”
Seine Augen brannten als stünde er unter dem Einfluss von Drogen. In seiner Stimme zitterte eine Leidenschaft, eine Bitterkeit, die sie beinahe erschreckend fand.
“Der Moment, als ich zurückmusste, war... grausam.”
“Warum sind Sie nicht geblieben?”
“So funktioniert das nicht.”
“Sie müssen vieles gesehen haben.”
“Ja.”
“Aber Sie leben immer noch hier. Sie könnten ein Vermögen verdienen!”
Er sah sie lange an. Das Lächeln war aus seinem Gesicht gewichen und hatte einem anderen Gefühl Platz gemacht. Bella zuckte zusammen: Mitleid.
“Sie verstehen das nicht. Ich wollte nur fort.”
“Sie klingen wie meine Mutter!”
Gerald seufzte leise. “Ich sagte es schon: Sie verstehen das nicht. Sie kennen nichts anderes”, sagte er leise. “Ich beneide Sie darum.”
Plötzlich streckte Bella die Hand aus und betätigte den Off-Schalter des Tonbandes. Gerald blickte sie überrascht an. Sie hielt seinem Blick stand. Ihre Stimme war leise und klar akzentuiert, als sie fragte: “Kann man auch in die Zukunft reisen?”
Ihre Blicke begegneten sich. Er nickte, wie ein Mann, der sagen will: “Das ist es also.”
“Ja. Man kann auch in die Zukunft reisen.”
“Und könnte ich... hören Sie, Gerald, ich kann es verstehen. Aber ich möchte nicht zurück, ich will vorwärts. Könnte ich... es auch?”
“Oh Mädchen...” Er schloss die Augen. Ohne ihren blauen Blick wirkte sein Gesicht krank und verhärmt. “Ich hätte das nicht tun sollen. Ich bin kein guter Mensch.”
“Ich kann bezahlen.”
Er zuckte zusammen, als habe sie ihn geschlagen. “Sie können für die Freiheit nicht bezahlen, verstehen Sie das denn nicht. Nein, das verstehen Sie nicht. Aber versuchen Sie es. Vielleicht finden Sie, was Sie suchen..”
Er drehte sich um und rollte mühsam zu einem kleinen Schrank. Bella reckte den Hals, aber sie konnte nichts erkennen. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper. Als er zurückkam, hielt er einen flachen Gegenstand in den Händen.
“Was... was ist das?”
Gerald lächelte traurig. “Das ist die Zeitmaschine, die ich vor Jahren im Speicher meines Vaters gefunden habe. Sie wird Sie in die Zukunft bringen, wenn Sie das wollen.”
Er hielt ihr das Buch hin.
H.G Wells, Die Zeitmaschine

(c) Birgit Erwin

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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