Mainhattan Moments
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Oktober 2002
Jörg "Josh" Hofmann
von Jörg Hofmann


Es war im Mai 2566, als eine kurze Mitteilung aus einem namenlosen Sonnensystem am Rand der 6. Galaxie, die gesamte Tonharmonieforschung der letzten 200 Jahre in ihren Grundfesten erschütterte. Ein Bautrupp der Regierung war zum äußersten Planeten des Systems geschickt worden, um eine Relaisstation für die Lichtfunkstrecke nach Gamma 7 zu bauen. Bei den Bauarbeiten entdeckte man Überreste einer Siedlung, die Experten auf die Zeit des 4. Rubidiumkrieges, aus damaliger Sicht vor etwa 200 Jahren, datierten. Nichts Besonderes, darüber war man sich schnell einig. Einige einfache Schutzbauten und ein paar primitive Sauerstoffgeneratoren, nur ein weiteres Beispiel, welche Fortschritte die Menschheit in den letzten Jahren gemacht hatte. Die ganze Siedlung sollte dematerialisiert werden, und das Fundament für die Relaisstation verwendet werden. Ein Glücksfall, denn so konnten ca. fünf Millionen Credits gespart werden, die Baukosten lagen damit bei nur noch 180% der ursprünglichen Planung. Doch wie so oft kam alles ganz anders. In einem der Quatiere entdeckte man eine Art Museum für antike Tonlehre. Neben mechanischen und halbmechanischen Geräten zur Schwingungserzeugung fand man auch eine vollständig erhaltene Sammlung kleiner silberner Datenträger, sowie ein voll funktionsfähiges Lesegerät. Die Experten der Kulturtechnischen Fakultät der Universität auf Alpha 5 brauchten drei Tage um die Funktionsweise des alten Lesegerätes zu entschlüsseln, und auf ihren Frequenzeinheiten nachzubilden. Doch die eigentliche Sensation war: Auf diesen Silberscheiben entdeckte man Daten, die eindeutig als Werke des legendären Schaga Rizar identifiziert wurden.
Lieber Unbekannter, wer du auch sein magst, und wann immer du diese Botschaft lesen wirst, bitte entschuldige daß ich mich erst jetzt vorstelle. Mein Name ist Radolph, eigentlich Radolph 432-6278-209, doch mein Name ist so selten, daß auf Alpha 5 Radolph zur eindeutigen Identifikation genügte. Ich war wissenschaftlicher Assistent an der Kulturtechnischem Fakultät auf Alpha und Leiter eben jener Expertengruppe, die diese aufregende Entdeckung machte. Noch heute, 123 Jahre später, beginnt meine Hand zu zittern, wenn ich an diesen Tag, der mein ganzes Leben verändern sollte, zurückdenke. Dies ist meine Geschichte.
Die neuzeitliche Tonharmonielehre ging aus dem hervor, was in alten Quellen als Musik bezeichnet wurde. Eine Art Metaphysik, die trotz aller Anstrengungen nie zu einer Wissenchaft werden konnte, weil sie es immer versäumte, sich durch eine klare Zweckbestimmung eine Existensberechtigung zu schaffen. Doch in den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts setze eine Entwicklung ein, welche die altertümlich Musik von ihrem metaphysischen Ballast befreite, und schließlich zur wissenschaftlichen Klarheit der heutigen Tonharmonielehre emporführte. Musik, heute sprechen wir von Tonharmonien, bekam einen Zweck, eine Aufgabe. Sie sollte den Vorteil bestimmter Industrieerzeugnisse unterstreichen, in systematischer Arbeit wurden Kombinationen aus Personen und Tonharmonien geschaffen, in denen die Personen als Identifikationsobjekte dienten. Über die Personen ließen sich dann nicht nur Produkte verkaufen, indem ihnen einen Charakter mit vielen wünschenswerten Eigenschaften gegeben wurde, konnte sogar Erziehungsarbeit geleistet werden. Im Zuge einer weiteren Demokratisierung der Gesellschaft wurde die Auswahl der Personen öffentlich gemacht, und auf vielen Kommunikationskanälen übertragen. Damit einhergehend gab es auch in der Wissenschaft einen Paradigmenwechsel. Theologie, Literatur, Kunst und Musik, die letzten metaphysischen Inseln verschwanden, und gingen in anderen Fakultäten auf. Die Theologie wurde ein immer bedeutungsloserer Teil der Rechtslehre, und da es in Literatur und Kunst ähnliche Entwicklungen gegeben hatte wie in der Musik, wurden sie als Wort-, Farb-, Form- und eben Tonharmonielehre in der Kulturtechnik zusammengefaßt, und ihrem Zweck entsprechend dem Fachbereich Wirtschaftslehre angegliedert. Eine gute und folgerichtige Entwicklung, so dachte ich damals.
Doch es gab auch ein paar Quertreiber, die gegen diese Entwicklung anredeten. Weltfremde Spinner, die sich nie auf eine einheitliche Argumentation einigen konnten, und deshalb zur Bedeutungslosigkeit verurteilt waren. Wesentlich bedeutender waren da schon die Sagen und Legenden von jenem Schaga Rizar, einem Tonschaffenden der alten, metaphysischen Art, dessen Musik - hier paßt das alte Wort wieder - nur einem Zweck gedient haben sollte, die eigene Agressivität und Triebhaftigkeit zu verkünden. Doch niemand kannte Werke dieses angeblichen Genies, und alle ernstzunehmenden Wissenschaftler waren sich einig, daß es diesen Schaga Rizar nie gegeben hatte. Doch soviel man auch schrieb, soviele begründete Zweifel geäußert wurden, gerade bei den primitiven Menschen wie den Reinigungskräften und Minenarbeitern hielt sich dieser Irrglaube besonders hartnäckig.
Und dann diese Entdeckung. Ich war damals in der Mitte meiner Assistenszeit und suchte noch nach einem Thema für meine Habilitation. Hier war meine Chance, und ich beschloß, die Legende Schaga Rizar zu erforschen und zu entmystifizieren. Doch es kam alles ganz anders. Schon bald spürte ich die ganz eigenartige Anziehungskraft, die von dieser Musik ausging, und die mich trotz aller akademischer Distanz immer mehr in ihren Bann zog. Mein erster Gedanke, dies muß sich doch erklären und dann systematisch nutzen lassen. Doch selbst die neuesten Analysealgorithmen waren nicht in der Lage, Sequenzen mit ähnlicher Wirkung zu erzeugen. Ich forschte weiter, vertiefte mich immer mehr in das Werk Schaga Rizars, doch schon die erste Beurteilung der Arbeit durch meinen akademischen Lehrer Prof. Dr. Pedro 0935 endete in einer Katastrophe. Mangelhafte wissenschaftliche Ausdrucksweise wurde mir bescheinigt. Und in der Tat, ohne es zu merken war ich immer stärker in die antike, metaphysische Ausdrucksweise verfallen, schrieb von Musik statt von Tonharmonien, von Musikern statt von Tonschaffenden. Ich erkannte, wenn meine akademische Laufbahn nicht mit einem Absturz in die Rubidiumminen enden sollte, mußte ich jetzt die Notbremse ziehen. So erklärte ich die Legende Schaga Rizar als eine Art tonschaffenden Dinosaurier, des zweifellos seine Hochphase hatte, der aber trotzdem ausgestorben sei, weil er sich einfach überlebt hatte. Die Arbeit wurde überall in den höchsten Tönen gelobt, und erhielt zusätzlich den Sonderpreis für treffende akademische Ausdrucksweise. Unmittelbar im Anschluß an meine Assistenszeit wurde ich kulturtechnischer Berater des Senators, und schon fünf Jahre später rief mich die Universität Alpha 5 als Nachfolger Prof. Dr. Pedro 0935 auf den Lehrstuhl für Tonharmonielehre. Ich jedoch hatte schon bei Abgabe der Arbeit das Gefühl Leichenschändung zu begehen, und mein Verhältnis zur Tonharmonielehre war nachhaltig gestört.
Die Musik Schaga Rizars ließ mich auch als ordentlicher Professor nicht los, und ich begann weiter zu forschen. Schaga Rizar hatte auch wirtschaftlichen Erfolg stellte ich fest, weil die Menschen seine Musik immer wieder hören wollten, und deshalb Datenträger mit seinen Werken kauften. Doch als ich mich darüber mit dem betriebswirtschaftlichen Dekan der Universität unterhielt, wollte der von dieser Idee nichts wissen. Das würde doch nur funktionieren, wenn die mit den Tonharmonien kombinierten Personen unverwechselbar wären, und damit einer jahrhundertelangen Entwicklung entgegenlaufen. Er hatte Recht, der oberste Grundsatz der Tonharmonie-/Personenkombinationen lautete: Halte Personen und Harmonien austauschbar, um z.B. bei Änderungen des Geschmacks nie die ganze Investition zu verlieren. Wie konnte ich so etwas übersehen. Doch ich verstrickte mich immer wieder und immer häufiger in solche Widersprüche, worunter mein akademischer Ruf immer mehr litt. Schließlich war ich für die Universität nicht mehr tragbar. Doch weil meine erste Arbeit über Schaga Rizar noch immer zu den Aushängeschildern, und durch die vielen Zitatgebühren auch zu den Haupteinnahmequellen der Universität zählte, ermöglichte mir der Präsident einen ehrenvollen Abschied. Der Dekan der medizinischen Fakultät attestierte mir eine sehr seltene Stoffwechselkrankheit, die eine weitere Forschungs- und Lehrtätigkeit zu einem unkalkulierbaren gesundheitlichen Risiko machen würde. Wie in solchen Fällen üblich wurde ich mit vielen Worten des allergrößten Bedauerns und einer angemessen Pension von meinem Lehrstuhl abgerufen.
So konnte ich mich frei von allen akademischen Fesseln und allen materiellen Nöten ganz der Erforschung Schaga Rizars und seiner Musik widmen. (Inzwischen hatte ich mir auch die antiken Begriffe wieder angeeignet.) Denn für mich war diese Musik weit mehr als ein Forschungsobjekt, sie war ein Teil meines Lebens geworden. Erstaunliche Dinge kamen dabei ans Licht. Doch inzwischen spüre ich, daß meine Kraft nachläßt und mein Leben wohl bald zu Ende gehen wird. Deshalb packe ich alle meine Aufzeichnungen, die silbernen Datenträger und das Lesegerät in diese Sonde, und da du dies liest ist der erste Teil meines Traums in Erfüllung gegangen. Auf der folgenden Seite findest du eine Anleitung, wie das Lesegerät zu bedienen ist. Nimm dir Zeit die Musik Schaga Rizars zu hören, vielleicht kannst du mich dann verstehen. Ach ja, bitte verzeihe einem eitlen alten Mann, daß er dir die wichtigste seiner Erkenntnisse bis jetzt vorenthalten hat. Schaga Rizar hat tatsächlich nie existiert, er ist eine Legende. Doch die Musik ist echt. Es waren zwei Männer, Jagger und Richards, die diese Musik schrieben, deren Kernsatz seit über dreißig Jahren über meinem Arbeitsplatz hängt: It's only Rock'n Roll, but I like it!

© Jörg Hofmann, 10/2002

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