Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Oktober 2002
Zwei Sonnen am Zenit
von Jörg Luzius


Ruhig und gleichmäßig wogten die Wellen des Ozeans an den weißen Strand. Sanft ansteigend reckte dieser sich den entfernt baumähnlichen Pflanzen entgegen, die sich ihrerseits wiederum, gebogen von einem leichten Wind, vor dem Meer zu verneigen schienen.
Das weiche Licht beider Sonnen, welche sich in den Augen des Betrachters gerade anschickten in die Wasser einzutauchen, warf ein langgezogenes, blaurotgoldenes Band dem Land entgegen. Der Schimmer brach sich in den Wellen und auch in der kristallinen Struktur des feinkörnigen Sandes. Ein natürliches Kaleidoskop das in stets neuem Farbenspiel zu tanzen schien, zum Takt einer eigentümlichen, unhörbaren Melodie.
Das hochgewachsene Wesen mit der im Abendlicht leicht violett schimmernden ledrigen Haut, dem gedrungenem, wie mühsam nach vorne gebeugten Körper, dem langen Hals auf dem ein vergleichsweise kleiner Kopf saß, der in einer langgezogenen Mundöffnung endete, stand unbeweglich da. Der Blick seiner kleinen dunklen Knopfaugen verlor sich in den Weiten des Meeres. Kein Gesichtsmuskel regte sich.
Das Wesen war alt – sehr alt.
Immer wieder umspülten die letzten kraftlos gewordenen Ausläufer der Wellen seine großen Füße. Sie benetzten die knollenartigen Zehen mit den langen krallenähnlichen Nägeln daran, die sich leicht aufwärts wölbten, so wie die Auswüchse verkümmerter Daumen an den Außenseiten der Fersen und zogen sich dann wieder zurück in die Tiefen des Ozeans.
Die kleinere der beiden Sonnen, eigentlich vor Äonen ein gewaltiger Gasplanet, der die kritische Masse überschritten und mit der Kernfusion begonnen hatte, zog weit draußen im System seine Bahn. Dies sorgte auf dieser Welt für einen äußerst widersinnigen Wechsel von Tag und Nacht, an dessen seltsamen Rhythmus sich alles Leben – ob intelligent, ob Tier oder Pflanze – im Laufe der Jahr Milliarden perfekt angepasst hatte. Jahreszeitlichen Wechsel gab es auf diesem Planeten, zumindest in diesen Breiten, kaum.
Selten aber war ein Schauspiel wie dieses zu bewundern. Beide Sonnen verschwanden nahezu gleichzeitig hinter dem Horizont. Während die kleinere wie ein Reiter auf ihrer großen Schwester zu sitzen schien – halb verdeckt von dieser – warf sie ein kühles blaues Licht, das sich harmonisch einfügte in das kraftvolle Leuchten des roten Riesen.


Allmählich kam Leben in das Wesen. Leise zuerst nur – kaum wahrnehmbar – doch dann immer kraftvoller und eindringlicher fingen Bauchdecke und Kehlkopf an zu vibrieren. Bald schon begann es sich leicht zu wiegen, im Takt einer vertraut anmutenden Melodie. Einer Melodie die sich einzufügen schien, in den Tanz des Lichtes auf dem Sand, dem Rauschen der fleischigen, fächerartigen Blätter im Winde und dem Wogen der Wellen.
Das Wesen selbst ließ sich tragen von diesem Zusammenspiel. Es brachte sich ein und ging darin auf. Es wurde durchflutet von einer Kraft die es empfing von dieser Welt – und ihr auch zu geben hatte.
Es sang das Lied des Lebens.
Langsam wandte es sich schließlich um und ging mit mühsamen Schritten landeinwärts.


Obgleich die Stadt von einer hochstehenden Kultur zeugte waren keinerlei Fahrzeuge auf ihren Straßenzügen zu sehen, als das Wesen sich ihrem Zentrum näherte. Fast wie ausgestorben wirkten die Schluchten zwischen den Gebäuden. Und dennoch, hinter den Fenstern der Häuser pulsierte das Leben. Allerorts ertönte der ruhige gleichmäßige Gesang. Das Wesen konnte ihn hören - ihn fühlen – in all seinen Nuancen. Verschieden von Persönlichkeit zu Persönlichkeit und dennoch eins in der Harmonie seiner Gesamtheit.
Der Teilchensturm beider Sonnen war ungewöhnlich stark in dieser Nacht und erhellte den Himmel mit einem für diese Breiten ungewöhnlichen Farbenspiel.
Und selbst das Tanzen des Polarlichtes schien getragen von dieser alles durchdringenden Melodie.


Das Wesen hatte den riesigen Platz im Zentrum der Stadt erreicht. Der gewaltige Obelisk in seiner Mitte erstrahlte im weißen Licht unsichtbarer Quellen. Wie ein weisender Finger deutete er in die dichten Konstellationen eines funkelnden Sternenhimmels.
Eine unüberschaubare Ansammlung seiner Artgenossen hatte sich hier zusammengefunden. Gemeinsam singend, wie in Trance und doch zugleich auch von gespannter Erwartung erfüllt.
Langsam teilte sich die Menge um dem Ankommenden Durchlass zu gewähren.
Bedächtig trat das alte Wesen auf den Obelisken zu.
Die drei Auserwählten hatten sich bereits am Fuße des gigantischen Bauwerkes eingefunden. Völlig im Lied des Lebens versunken, drehten sie sich im Takt der Melodie.
Der Ankömmling übernahm nun die Führung des Gesanges. Er korrigierte kleinste Abweichungen und Misstöne. Einfach nur durch die Kraft seines Geistes, der auf alle Anwesenden abstrahlte – sie durchdrang.
Nur noch wenige Augenblicke, dann würde eine neue Reise beginnen. Eine Reise wie auch das alte Wesen selbst sie vor langer Zeit angetreten hatte.
Immer aufbrausender wurde der Rhythmus; immer schneller die Drehungen der Auserwählten. Immer kräftiger der Puls des Lebens. Immer fordernder der Gesang.
Schließlich berührten sich die drei tanzenden Körper und begannen sich zu umschlingen. Immer intensiver wurde ihre Umarmung. Immer fließender die Bewegungen.
Dann plötzlich – auf dem Höhepunkt der Melodie – brach der Gesang ab.
Schlagartig hatte sich Stille gelegt über die Welt. Die Tanzenden waren erschlafft und ließen von einander ab.
Es war eine friedvolle, eine erfüllte Stille. Glückliche Entspannung legte sich auf die Gesichtszüge der Wesen.
Es war vollbracht!
Neues Leben war gezeugt – und es ward zugleich auf eine lange Reise geschickt. So wie schon unzählige Male zuvor.
Das alte Wesen blickte bedächtig empor in das funkelnde Licht weit entfernter Sonnen.
Irgendwo dort draußen war ebenfalls Leben gezeugt worden; im gleichen Augenblick.
Irgendwo dort draußen würde die Vereinigung stattfinden – mit dem Seelenzwilling.


***


Auf einer Welt Gedankenjahre weit:


Das Wasser reichte mir bereits bis an die Brust.
Bei jedem weiteren Schritt musste ich meinen Körper zwingen den Automatismus außer Kraft zu setzen, welcher ihn unwillkürlich zu Schwimmbewegungen veranlassen wollte.
Ein Saxophon! Eigentlich sollte jetzt irgendwo in der Ferne der melancholische Klang eines Saxophones erklingen. Dire Straits’ „Your latest trick“ – oder irgendetwas in der Art. Zumindest hatte ich mir das für meinen Abgang immer so vorgestellt.
Komisch – was für Gedanken einem da so durch den Kopf schießen.
Die Wellen schlugen nun schon gegen meinen Kehlkopf. Ich begann heftig zu schlucken. Das Wasser war angenehm kühl. Die Hitze des Tages hatte sich auch jetzt – spät nachts – kaum gemildert.
Über mir leuchtete der Sternenhimmel. Hier, ein gutes Stück entfernt von der Dunstglocke der Stadt, die mit ihrem Gemisch aus Licht und Abgasen den Blick trübt, waren die Sterne heller - irgendwie näher.
Das Licht des Vollmondes brach sich funkelnd auf der Wasseroberfläche.
Tausend Augen! Tausend leuchtende Kinderaugen! Sie warteten gespannt auf meinen finalen Gag.
Nun, ich würde sie nicht enttäuschen!

Plötzlich hatte ich wieder dieses fremde Gefühl. Das Gefühl beobachtet zu werden. Von innen heraus. Gerade so als säße jemand direkt in meinem Kopf. Jemand der sich in den hintersten Windungen meines Gehirns verborgen hielt und jeden meiner Schritte - jeden meiner Gedanken - neugierig verfolgte.
Oft als Kind hatte mich dieses Gefühl gepackt. Und ich hatte Angst gehabt. Große Angst. Zeitweise war ich fast wahnsinnig gewesen vor Angst. Jeder, dem ich davon erzählt hatte, hatte mich für verrückt erklärt. Hinzu kamen starke Schübe von Depressionen, die immer wieder abgelöst wurden von Phasen eines euphorischen Hochgefühls. Auf diese dann aber war stets zwangsläufig wieder der freie Fall gefolgt. Der Fall ins Bodenlose – in dieses unermesslich tiefe Loch.
Meine Mitschüler hatten mich ausgelacht; meine Lehrer mich behandelt wie einen Aussätzigen. Meine Eltern hatten mich von einem Psychiater zum anderen geschleppt.. Jahrelang hatten sie mich mit Psychopharmakeas vollgepumpt. So lange bis ich geglaubt hatte mein Hirn würde zerspringen.
Das Gefühl eines Fremden in meinem Kopf wurde als Symptom meiner manischen Depression abgetan. Meine seelischen Probleme wurden in jahrelangen Therapien behandelt. Das Gefühl jedoch war geblieben.
Allmählich aber hatte ich gelernt es zu unterdrücken, es einfach zu ignorieren. Schließlich war es im Laufe der Zeit auch immer seltener in den Vordergrund meiner Gedanken gerückt. Und irgendwann konnte ich es – zumindest zeitweise – ganz vergessen.
Zu einem normalen Leben aber habe ich nie wirklich gefunden.
Nun jedoch war es wieder da. Und es wurde stärker. Stärker und mächtiger – von Gedanken zu Gedanken. Kraftvoller denn jemals zuvor.
Ich brachte all meine Willenskraft auf es aus meinem Bewusstsein zu verbannen.
Einem plötzlichen Impuls folgend wollte ich mich unwillkürlich umwenden; der Lichterglocke der Stadt noch einen letzten Blick zuwerfen. Doch ich zwang mich es bleiben zu lassen.
Verfluchtes Tel Aviv!


Tausend Augen. Tausend leuchtende Kinderaugen.
Trommelwirbel!
Tino hatte mir gerade den Blecheimer mit Wasser über den Kopf gestülpt. Ich sollte anfangen schwer zu atmen und mit einen Besenstil bewaffnet, den ich zu führen hatte wie ein Laserschwert, begleitet vom Star Wars Thema aus der Manege stolpern. So zumindest sah es unsere Nummer vor. Dies war unser Abgangsgag. Begleitet vom Gelächter des Publikums.
Seit vier Wochen gastierte der CIRCUS GRANDIOSO in der Stadt. Mit mir – dem „Grossen Imbecille“ als Star. Dies wäre unser letzter Abend gewesen. Unsere Abschiedsvorstellung. Morgen in aller Frühe schon, hätten wir abgebaut und bereits am Abend mit den Aufbauarbeiten in Haifa begonnen. Das Vorauskommando hatte bereits die Anker für das große Zelt geschlagen. Jedoch es sollte nie mehr dazu kommen.
Ich stand in der Mitte der Manege. Erwartungsvolle Stille.
Dann plötzlich dieser gewaltige Knall.
Ich hatte geglaubt der Schädel würde mir zerspringen.
Ich stand einfach nur so da.
Stille!
Dann allmählich erstes Wimmern. Vereinzelte Schreie. So wie fernes Donnergrollen, das zuerst leise, dann immer weiter anschwellend, sich schließlich in einen alles beherrschenden Sturm verwandelt.
Ich weiß nicht mehr wie lange ich so dagestanden hatte, regungslos, den Eimer über dem Kopf. Irgendwann hatte ich ihn schließlich abgenommen. Ich wünschte ich hätte es nicht getan!
Zuerst sah ich nur Rauch. Starr stand ich inmitten des Chaos; unfähig mich zu rühren. Unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Unfähig zu begreifen!
Im gleichen Maße jedoch wie sich allmählich der Rauch verzog, lichtete sich auch der Nebel der sich um meinen Verstand gelegt hatte.
Ich sah die Trümmer. Und zwischen den Trümmern hasteten Leiber blind umher.
Schreiend. Hysterisch. Hilflos – panisch. Nahezu reflexartig. Ich sah Verletze und Verstümmelte umherirren. Andere wiederum lagen einfach nur da und wimmerten leise vor sich hin.
Ich hätte irgendetwas tun sollen. Helfen – schreien – irgendwas! Jedoch ich war nicht im Stande, auch nur zur kleinsten Regung.
Ich stand einfach nur da und starrte gebannt auf all das Blut, all die Trümmer – all das Entsetzen um mich herum.
Wie lange? Ich weiß es nicht mehr.
Irgendwann traf erste Hilfe ein. Ich sah Männer und Frauen in Uniform die verzweifelt darum bemüht waren die Körper zu bergen. Sanitäter hasteten umher.
Irgendjemand stieß mich plötzlich an.
Dies löste mich auf einmal aus meiner Starre. Meine Beine setzten sich in Bewegung. Ich begann zu laufen. Schneller und immer schneller – so schnell wie es die riesigen Schuhe an meinen Füßen nur zuließen. So wie ein Huhn dem man den Kopf abgeschlagen hat, der Motorik seiner Nerven folgend noch eine Weile umher rennt, bis es schließlich irgendwann zuckend zu Boden fällt. So lief ich einfach nur gerade aus.
Ich nahm nichts mehr wahr um mich herum; nicht die Menschen die ich unterwegs anrempelte, nicht die Autos die hupend vor mir abbremsten – all das kam mir erst im Nachhinein zu Bewusstsein – nicht die Lichter der Nacht. Ich lief einfach nur und lief.
Schließlich war ich weit über die Vororte hinaus. Dass ich noch immer den leeren Eimer in der Hand hielt wurde mir erst später gewahr.
Dann kam der Zusammenbruch!
Ich lag auf dem Pflaster und blickte ins Leere. Die Bilder tanzten in meinem Kopf. Ein wilder unkontrollierter Reigen von Körpern und Gesichtern. Manche in Angst verzerrt, andere wieder sich zu dämonischen Masken formend. Eine davon schien mir immer näher und näher zu kommen – bis sie schließlich meinen gesamten Gesichtskreis ausfüllte. Mit widerwärtigem Grinsen blickte sie durchdringend zu mir herab. Ich wollte mich abwenden von dieser entsetzlichen Fratze; jedoch ich vermochte es nicht. Gebannt starrte ich in die riesigen Augen. Die Bestie sah mit abgrundtiefen Hohn auf mich herab.
Dann begriff ich. Langsam rappelte ich mich auf.
Lange stand ich benommen vor dem großen Plakat und glotzte mir selbst ins Gesicht.


Das Wasser reichte mir bereits bis an den Mund. Das Gefühl in meinem Kopf nahm plötzlich wieder an Stärke zu; drohte übermächtig zu werden. Ja, es schien mir als wolle es mich zurück halten, mich zwingen umzukehren. Ich bot all meine Willenskraft auf und schob es beiseite.
Ich tat den letzten Schritt.
Die Wellen schlugen über mir zusammen. Ich atmete aus und ließ mich auf den Grund sinken. Noch wagte ich nicht den Mund zu öffnen. Noch nicht! Bald jedoch schon würde der Drang nach Luft so übermächtig werden, dass ich unwillkürlich einatmen würde. Sofort würden sich meine Lungen mit Wasser füllen und ich würde hinübergleiten – wohin eigentlich? Über ein Leben nach dem Tode hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Die Frage nach einem Gott oder einem Jenseits hatte ich immer weit von mir geschoben. Jetzt war es wohl zu spät dafür mich ihr noch zu stellen. Nun, in ein paar Augenblicken würde ich es ohnehin erfahren.
Jedoch was als nächstes geschah sprengte all meine Vorstellungskraft.
Das Fremde in meinem Kopf wurde plötzlich übermächtig. Ich hatte nicht mehr die Kraft mich zu wehren. Mit beinahe spielerischer Leichtigkeit nun, überspülte es mich. Eine Flutwelle aus Gedanken die meinen Geist durchdrang. Bilder stürmten auf mich ein; erfüllten mich.
Und dennoch blieb ich mir meiner selbst bewusst. Ich kam mir vor wie ein Zuschauer in einem dunklen Kinosaal, der sich plötzlich die zu bewegten Bildern auf einer Leinwand manifestierten Gedanken seiner selbst betrachtet. Ohne jedoch auch nur den geringsten Einfluss zu haben darauf, was sich in dem Film seines Geistes abspielt.
Und dann auf einmal wurden fremde – unwirkliche – Bilder eingemischt. Gerade so, als hätte ein wahnsinnig gewordener Director dem Film Szenen aus einem ganz anderen Streifen wahllos mit eingeschnitten. Und dennoch es blieb mein Film – es blieben meine ureigensten Gedanken.


Zwei Sonnen. Zwei Sonnen am Zenit...


Bruchteile von Sekunden sicherlich nur, aber mir war als wären Jahre verstrichen. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Unendliches Wissen tat sich plötzlich auf. Wissen das tief in den Katakomben meiner Erinnerungen geschlummert hatte – ohne dass ich es jedoch selbst dort eingelagert hätte.
Plötzlich kam mir alles zu Bewusstsein über diese fremde, diese weit entfernte Welt. Alles über ihre Verbindung mit dem Universum. Alles über die Energie aus der es geboren war und die eben dieses Universum zusammen hielt.
Und ich verstand das Lied. Das Lied des Lebens.
Ich vernahm die Melodie. Ich hörte sie, konnte sie fühlen mit jeder Faser meines Wesens.
Ich nahm sie an und ging darin auf. Zaghaft zuerst nur, doch dann immer intensiver brachte ich mich selbst mit ein. Ich ließ sie erklingen, meine ureigensten Töne; ließ ihn gewähren meinen ganz persönlichen Rhythmus, der sich doch so perfekt einzufügen schien in dieses Lied. Das Lied welches das gesamte Universum sang. Seit Anbeginn der Zeit.
Unzählige Stimmen. Jede einzelne für sich erkennbar und einzigartig – und doch zusammengenommen ein Chor von vollendeter Harmonie.
Eine dieser Stimmen aber hörte ich mit einem Mal klarer heraus denn alle anderen: Die des Gastes, der in meinem Geiste wohnte. Die meines Seelenzwillings.
Plötzlich hatte ich wieder Gewalt über mich selbst.
Mit aller Kraft stieß ich mich vom Meeresboden ab und schoss mit dem Oberkörper aus dem Wasser. Gierig sog ich meine Lungen voll Luft.


Ein Saxophon. Nun, vielleicht nicht mehr gerade „Your latest trick“, eher „Rising“ von Alvin Davis oder etwas in der Art...
Wir saßen am Strand und sahen hinaus auf die Wellen. Meine Kleidung hatte allmählich in der warmen Nachtluft zu trocknen begonnen. Vor uns meine riesigen Schuhe, die ich von den Füßen gestreift hatte als ich ins Wasser gegangen war. Daneben die Blume aus meinem Revers. Zwar nur aus Plastik, doch irgendwie war es mir unangebracht erschienen sie mit in die Fluten zu nehmen.
Ich wühlte in meinen Taschen nach Zigaretten, fand aber nur einen durchweichten Klumpen aus Tabak und Papier.
Wir, mein Seelenzwilling und ich, waren noch lange, nach dem ich meinen Körper keuchend zurück an den Strand geschleppt hatte, in regem Gedankenaustausch gestanden. Obgleich „Gedankenaustausch“ sicherlich nicht das richtige Wort dafür sein mag. Jedoch mir fällt kein besseres ein. Wir öffneten uns gegenseitig nicht nur unseren Geist, unser Bewusstsein – es ging auf eine viel tiefere Ebene. Wir öffneten einander unser Unterbewusstsein unser tiefstes Wesen. Es war ein Ineinandergreifen der Seelen.
Und wir sangen das Lied. Jeder im Rhythmus seines Lebenspulses und doch verbunden in der gemeinsamen Melodie. Die Melodie die das Meer zu unseren Füßen, die Luft um uns herum und selbst die Sterne über uns, uns vorzugeben schienen. Nicht zwingend jedoch – eher eine Art offenen Grundtones, der Raum für die mannigfaltigsten Improvisationen bot.
Mein Zwilling sang von seiner Welt. Ich erfuhr – ja ich erlebte – den Wissensdrang seines Volkes. Ich spürte ihre Verbundenheit mit dem Universum.
Er sang von seinem Körper, den er noch nie gesehen hatte und der nun – weit entfernt – auf einem Planeten im Andromedanebel heranreifte als leere Hülle, wartend auf die Rückkehr seiner Seele. Doch dies würde erst geschehen zur Stunde meines Todes. Dann erst würde die Verbindung zu meinem Körper gelöst.
Ich erfuhr von der Dreigeschlechtlichkeit seines Volkes und von der Eigenart des ererbten Gedächtnisses. Jeder Neugeborene ererbte bereits bei der Zeugung den Gedächtnisinhalt von mehr als drei Generationen. Und ich erfuhr von seinem Auftrag und von ihrer Neugier auf das Leben im Universum.
Ich fragte und fragte. Mein Wissensdurst war unersättlich.
Und ich sang. Ich sang von meinem Volk. Und das Lied wurde schwerer - schwerer und trauriger.
Ich sang die Kriege. Ich sang die Trauer, die Schmerzen, den Tod. Ich sang das Lied der Bestie.
All meine Ängste, meine Verzweiflung, das Brechen der Wellen meiner Hoffnungen und Sehnsüchte an den unerbittlichen Klippen der Küsten Meinesgleichen. Immer wieder schwoll mein Gesang an zu einem lauten verlorenem Schrei.
Doch stets mischten sich sanfte, zarte, ja liebevolle Töne darunter...


Wir waren aufgewachsen im selben Körper, hatten die gleichen Dinge erlebt, die gleichen Erfahrungen gemacht. Dennoch – dort wo ich Elend sah, sah er neue Hoffnung. Wo mich die Schreie der Verzweiflung durchstießen, hörte er den Ruf der Seelen nach Liebe. Dort wo ich auf verbrannter Erde stand, spürte er bereits das erste „Sich regen“ jungen Lebens, genährt von der Asche.
Plötzlich hielt ich inne. Ein Gedanke war durch meinen Verstand geschossen.
„Nimm mich mit!“
Ich hatte die Worte unwillkürlich laut ausgesprochen. Die Vorstellung machte mich schwindelnd.
„Wenn Du gehst – nimm mich mit Dir.“
Schweigen.
Lange Zeit kam nichts von meinem Seelenzwilling. Kein Impuls. Nicht der leiseste Ton. Er hatte sich zurückgezogen in die hintersten Windungen meines Gehirnes.
Dieses Schweigen kam mir ewig vor. Und es wurde mir um so unerträglicher, je länger es währte.
Immer intensiver wurde ich ergriffen von einem nie gekannten Gefühl. Dem Gefühl wirklicher Einsamkeit.
Hatte ich denn jemals zuvor gewusst was Einsamkeit wirklich bedeutet? Wie oft schon in meinem Leben war ich mir unendlich einsam vorgekommen. Doch diese Leere nun zu beschreiben – mir war als fehle mir plötzlich ein Teil meiner Selbst.
Unwillkürlich begann ich mich schließlich zu fragen, ob das alles was ich erlebt und erfühlt hatte die letzten Stunden wirklich Realität gewesen war.
Vielleicht hatte ich mir dies alles ja nur eingebildet. Vielleicht war ich, wie einst James Stewart in dem alten schwarz/weiß Klassiker „Mein Freund Harvey“, einfach nur dagesessen und hatte mit „meinem“ großen weißen Karnickel gesprochen. Wahrscheinlich hatte die Explosion mich doch am Kopf erwischt und gleich würden wohl die netten Jungs in den Turnschuhen und den weißen Kitteln kommen und mich abholen.


„Es wurde noch nie versucht.“
Diesmal hatte auch er Worte benutzt. Klar und deutlich hallten sie in meinem Schädel wieder. Doch hatte er das wirklich? War es nicht vielleicht nur mein eigener Verstand, der die Gedankenimpulse die ich empfing zu Sprache formte?
Wie auch immer, die Erleichterung ließ mich erzittern. Wie verloren war ich mir schließlich ohne ihn vorgekommen – meinen Seelenzwilling.
„So weit ich weiß ist es noch niemals geschehen, dass ein Reisender bei seiner Rückkehr seinen Zwilling mit sich führte.“
Ich spürte jedoch deutlich dass er es für möglich hielt. Die Erkenntnis raubte mir fast den Atem.
Erneut begann ich zu singen. Und er brachte sich ein. Doch diesmal waren die Klänge meiner Seele durchflutet von einer tiefen Zuversicht. Zärtlicher war der Ton meiner persönlichen Melodie; erfüllter der Strom meiner Gedanken. Hoffnungsstark der Rhythmus des Pulsschlages meiner Lebenskraft.


Lange saßen wir noch da und sangen hinaus auf die Wellen. Irgendwann erahnten wir in der Ferne das erste zaghafte Licht des neuen Tages.
Irgendwann erhob ich schließlich in stummen Einverständnis unseren Körper.
„Warum hast Du eigentlich früher niemals zu mir gesprochen?“
„Das habe ich. Du wolltest mich nur nicht hören.“
Ich blickte hinüber auf die, im Lichte der Dämmerung nun schwächer leuchtende Dunstglocke der Stadt. Und mit einem Mal hörte ich klar und deutlich ihren Gesang. Doch diesmal war es nicht nur die melancholische Schwere einer traurigen Ballade die ich vernahm. Ich fühlte mich auf einmal wieder offen für all die anderen Klänge. Freude, Hoffnung, Liebe – all das strömte nun in gleichem Maße auf mich ein, wie zuvor die Trauer, die Verzweiflung und die Wut. Gierig sog ich diese neuen Töne in mich auf. Lange hatte ich sie nicht mehr vernommen. Dabei waren sie doch immer um mich gewesen. Ich hatte ganz einfach nur verlernt hinzuhören.
„Nun ja...“ erwiderte ich auf die unausgesprochene Frage, die ich erfühlte „James Stewart würde jetzt vermutlich sagen: Komm Harvey! Lass uns Einen lüpfen gehen.“
Ich hielt einen Augenblick überlegend inne.
„Wie ist das eigentlich...“ fragte ich. „...wirkt der Alkohol auf Dich?“
Irgendwo in den tiefen meines Geistes vernahm ich ein durchdringendes Lachen.
„Wir teilen uns einen Körper. Auch wenn ich mich auf gerade unbenutzte Teile Deines Gehirnes zurückziehen kann, so bin ich doch auf deren volle Funktionsfähigkeit angewiesen.“
Ich lächelte.
„Dann mach dich bereit für den größten Rausch Deines Lebens! Ich habe es jetzt wirklich nötig. Und Du ja wohl auch!“
„Ich?“
„Na ja, schließlich hast Du wegen meiner Wankelmütigkeit heute Nacht den Andromeda-Express verpasst.“
„Es wird wieder einer gehen!“
Noch einmal wandte ich mich den Fluten des Meeres zu.
Tausend Augen. Tausend leuchtende Kinderaugen. Das Rauschen der Wellen wie tosender Beifall.
Noch eine letzte Verbeugung.
Abgang.

„Wo bleibt eigentlich dieses gottverdammte Saxophon...“



© Jörg „Jo“ Luzius

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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