Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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Oktober 2002
Willkommen auf Avalon
von Desireé Hoese


Der gläserne Fahrstuhl bewegte sich still und ohne spürbare Erschütterung. Endlich waren sie am Ziel. Manus, wie immer voller Ungeduld, streckte die Hand nach dem Schalter aus, doch da öffneten sich die Türen schon mit leisem Summen.
Der Gang war mit dickem Teppich ausgelegt, und an den Wänden hingen geschmackvolle Kunstdrucke, nicht teuer, aber freundlich und beruhigend. Der Gang führte um mehrere Ecken, dann waren sie da.

Gordon bemühte sich unbeeindruckt zu wirken, doch Manus durchschaute ihn. Allein die schiere Größe der Halle war überwältigend. Der hintere Teil war mehr zu erahnen als zu sehen, und um die Decke zu erkennen, musste Gordon den Kopf in den Nacken legen.
Neben der Größe war es der Eindruck von Geschäftigkeit, der dem Betrachter Respekt abnötigte. Ein metallenes Gitterwerk unterteilte die gesamte Halle in unzählige Quadrate. Die darin befestigten Kabinen waren so geschickt angebracht, dass sie frei zu schweben schienen. In jeder Kabine stand eine Liege, auf der ausgestreckt schlafende Männer und Frauen lagen. Neben den Schläfern waren die Kabinen vollgestopft mit Apparaten, von denen Gordon wusste, dass sie noch komplizierter waren als sie wirkten. Medobots verrichteten surrend ihre Arbeit, unzählige Männer und Frauen eilten auf den schmalen Stegen hin und her, die die Kabinen miteinander verbanden, und bedienten die Maschinen der Schlafenden. Gekleidet waren sie wie Manus und Gordon selber in weiße bodenlange Kittel.
„Die neue Leitung will ihn also haben?“
Manus strich wie geistesabwesend über das kühle Metall, aber er war bei weitem präsenter, als es den Anschein hatte. Der Direktor war auf eine Weise körperlich und aktiv, die Gordon abstieß und noch mehr ängstigte.
„An Arbeitern mangelt es ihnen nicht, aber Computerexperten von dem Format, wie sie dort gebraucht werden, können nicht einfach abkommandiert werden.“ Seine eigene Stimme kam Gordon flach und kränklich vor, und sein Selbstekel ließ sie nur noch kühler klingen.
„Viele werden sich doch trotzdem überzeugen lassen?“ Manus zwinkerte.
Gordon zupfte an seinem Kittel. Natürlich hatte Manus Recht. Es gab immer solche, die gar keine andere Wahl hatten als nach den Strohhalmen zu greifen, die die Leitung ihnen hinhielt. Doch es waren bei weitem nicht genug. Ein Projekt dieser Größe war einzigartig; die neue Führung hatte es sofort nach ihrer Einsetzung wieder aktiviert, und Erfolge waren wünschenswert. Was ein Misserfolg bedeuten mochte, daran wagte Gordon nicht zu denken.
„Fünfzehn Jahre sind eine lange Zeit.“
Manus winkte Gordon, ihm zu folgen, und steuerte einen der schmalen Stege an. Filigran überspannte er ungefähr ein Dutzend der Quadrate. Sie betraten die Kabine eines Schläfers.
„Das ist in diesem Fall unwichtig. Sicher, die Bedienung des Hauptcomputers ist komplex; über ihn laufen ja nicht nur sämtliche Daten, Eingänge und Ausgänge, die Steuerung des Personals, nein, in diesem Fall ist auch eine Klimasteuerung nötig. Der Planet ist doch etwas ... unwirtlich. Das heißt, beließe man ihn in seinem natürlichen Zustand. Das alles verlangt eine gewisse Virtuosität, doch verglichen mit dem, was er vorher geleistet hat, ist das gar nichts.“
Manus schenkte ihm einen schnellen Blick. „Sie empfinden doch nicht etwa Achtung vor diesem Kerl?“
„Warum nicht? Er war einer der ganz Großen auf seinem Gebiet.“
„Und er hat die Leitung bestohlen.“ Jetzt klang Manus‘ Stimme drohend.
„Ja, das hat er.“
Gordon sah auf den Schläfer hinab, dessen Gesicht trotz der künstlichen UV-B-Bestrahlung blass und eingefallen war. Fünfzehn Jahre waren wirklich eine lange Zeit, und Gordon fühlte sich alles andere als wohl. Es gab keine Daten, keine Präzedenzfälle; noch niemals zuvor war jemand aufgeweckt worden, der länger als einige Monate geschlafen hatte, und selbst bei denen war es zu Ausfällen gekommen. Meist hatten die Betroffenen Verhaltensauffälligkeiten gezeigt, bis hin zu Persönlichkeitsspaltungen. Natürlich beschäftigte die Leitung ausgezeichnete Psychologen, die diese Probleme am Ende immer in den Griff bekamen, aber bei Berg lag der Fall entschieden anders.
Gordon hätte seine Wohnraumprivilegien, selbst die Endspielprivilegien hergegeben, wenn jemand an seiner Stelle die Verantwortung für die Sache getragen hätte.
„Er war ein guter Mann“, wiederholte er noch einmal.
„Ein Idiot, das war er.“

Manus hatte damals mit Berg zusammengearbeitet - wenigstens hatte er zum Team des Professors gehört. Solange Bergs Stern ganz oben am Firmament der Firma strahlte, hatte Manus wie alle anderen kräftig davon profitiert. Aber dann hatte Berg seine eigene Erfindung gestohlen, die laut Gesetz Eigentum der Firma war, und das hatte ihn hierher gebracht. Sein Stern war verglüht, und auch die anderen Mitglieder des Entwicklerteams hatte man mit dem Verlust ihrer Privilegien und ihrer Aufstiegsmöglichkeiten bestraft.
Berg war das zweifelhafte Vergnügen vergönnt gewesen, als einer der ersten die eigene Erfindung testen zu können, nur nicht ganz so eingesetzt, wie er es sich vorgestellt hatte. Manus hingegen verkümmerte heute auf seinem Posten als Gefängnisdirektor, denn das war es, was die Schläfer waren - Gefangene. Mit dem Wachsen der Bevölkerung war auch die Zahl der Unzufriedenen und Kriminellen gewachsen, aber dank des Morpheus-Programmes konnten sie alle sicher und zur allgemeinen Zufriedenheit aufbewahrt werden. Keinem der Schläfern wurde ein Haar gekrümmt, sie durften sich ihren Traum sogar selber aussuchen, der dann bis zum Ende ihres biologischen Lebens andauerte.
Wenigstens war das der Wille der alten Firmenleitung gewesen. Das ehrgeizige Projekt der neuen Leitung sah die Reaktivierung eines Teils der Schläfer vor. Des Teils, der bei der Kolonisierung von Erde Zwei gebraucht wurde, und bei der Gewinnung der Ressourcen von Erde Zwei. Berg sollte der erste sein.
„Vielleicht sollten wir ihn weiter ruhen lassen“, überlegte Gordon laut.
„Auf diese Weise hat er die Möglichkeit, seine Schuld bei der Firmenleitung zu sühnen. Zweifeln Sie die Weisheit dieses Entschlusses an?“
Gordon zögerte. Sein Qualitätsquotient berechtigte ihn zwar zu einem gewissen Maß an Widerspruch, aber er wollte es nicht zu weit treiben. Die neue Firmenleitung war noch nicht entgültig gefestigt, eine gefährliche Zeit. Gordon hatte kein Lieblingsbuch, das er bei den Schläfern liegend träumen wollte. Besser, er war vorsichtig.

Bergs Augen waren dunkel und blicklos. Gordon bezweifelte, dass er sie überhaupt sah. Das stetige Summen der Maschinen war verstummt, nur die Kontrollmanschetten an Bergs Körper leuchteten noch. Gordon überprüfte die Funktionen und löste anschließend die Manschetten. Berg ließ alles geschehen; dann, als Gordon sich gerade zurückziehen wollte, packte der Professor seine Hand und hielt sie mit erstaunlicher Kraft. Gordon versuchte sich zu befreien, dann wurde ihm klar, was für ein Bild er bieten musste, und er entspannte sich. Berg ließ seine Hand nicht los, aber sein Blick war jetzt klarer.
Gordon hatte Berg immer sehr bewundert, und es fiel ihm schwer ruhig zu bleiben.
„Wie fühlen Sie sich?“

„Der Patient zeigt noch immer Phasen extremer Desorientiertheit. Außerdem mehren sich wieder seine Wutausbrüche, so dass wir gezwungen waren, ihn erneut zu isolieren.“
Gordon schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Sechs Monate hatten sie ihm Zeit gegeben, um aus Berg wieder ein produktives Mitglied der Gesellschaft zu machen. Nun war die Hälfte der Zeit vergangen, und die Ärzte hatten kaum Fortschritte mit dem Kranken gemacht.
„Wie steht es ansonsten?“
„Nun, körperlich geht alles prächtig voran. Wenn Sie mich fragen, dann taugen die Medobots wenig. Sie sind nichts als Kosmetik und Augenwischerei.“
„Was, glauben Sie, soll die Leitung tun?“ fuhr Gordon die Ärztin an. „Das sind Tausende von Häftlingen! Soll die Leitung für sie alle Physiotherapeuten bereitstellen, die sie hegen und pflegen?“
Gordon war klar, dass er Dampf abließ, aber hinter ihm lag ein zweistündiger Flug, und überdies hatte die Leitung seinen monatlichen Bericht äußerst schlecht aufgenommen.
Die Ärztin war unempfindlich gegen seinen Sarkasmus. „Dann sollen sie gefälligst auch die Medobots weglassen und ehrlich zugeben, dass sie aus den Schläfern Krüppel machen.“
Gordon zuckte mit den Schultern.
„Sie sollten sich einmal fragen, wie tief Sie noch versetzt werden können. Da gibt es nicht mehr viel, und wenn Sie nicht achtgeben, dann begleiten Sie Berg und mich auf unserer kleinen Expedition nach Erde Zwei.“
„Wäre wohl die Frage, weshalb man Sie dorthin schickt, zu persönlich?„
„Ja, das wäre sie“, schnappte Gordon. „Ich möchte jetzt zu dem Patienten.“

Die Ärztin führte ihn in den kleinen Besucherraum, in dem Gordon in den letzten Wochen so viele unbefriedigende Gespräche mit Berg geführt hatte. Gespräche! Der Professor sagte nie auch nur ein Wort. Wenn der Mann überhaupt auf Gordon reagierte, dann als seine Traumpersönlichkeit. Berg schien dabei meist gar nicht mitzubekommen, dass er wieder zurück war, und wenn er es merkte, reagierte er mit Verzweiflung und Gewalttätigkeit.
Berg wurde von zwei Pflegern hereingebracht, zwischen denen er sehr klein und verloren wirkte. Er war auch zu seinen besten Zeiten nie ein kräftiger Mann gewesen, doch die lange Zeit im Gefängnis hatte ihn körperlich sehr mitgenommen, auf eine Art, die auch bei hohem medizinischen Standard nicht vollends wieder gutgemacht werden konnte. Die Ärztin hatte schon recht, es ging der Leitung in erster Linie darum, den Strafvollzug so freundlich wie möglich aussehen zu lassen. Offene Gewalt war verpönter denn je, doch unter der Oberfläche brodelte ein Höllenfeuer. Noch nie war es so leicht gewesen, sich durch Unbedachtheit und falsch gewählte Worte ins Aus zu befördern.
Ohne Hilfe schaffte Berg die letzten Schritte zum Tisch. Die Pfleger verließen den Raum, und die beiden Männer waren allein. Berg sah Gordon nicht an. Er studierte seine Hände, die im Gegensatz zu seinem restlichen Körper kräftig und zuverlässig wirkten. Es waren Hände, die man eher bei einem schwer arbeitenden Menschen erwartet hätte, nicht bei einem Mann, dessen größte Kraftanstrengung darin bestanden hatte, die Tastatur eines Computers zu bedienen.
Gordon wusste nicht, wie er mit einem Kranken umgehen musste. Er hatte keine Übung in so etwas. Also sprach er wieder von dem Projekt, er erzählte Berg, wie sie vorankamen und von den vielen kleinen und großen technischen Problemen. Natürlich war es unsinnig; der Mann antwortete ihm ja niemals, und höchstwahrscheinlich verstand er ihn nicht einmal, aber Gordon war im Laufe der Zeit dazu übergegangen, Berg auch von seinen persönlichen Problemen im Zusammenhang mit dem Unternehmen zu erzählen. Wäre Berg noch sein früheres Ich gewesen, hätte er Gordon gewiss verstanden. Wer, wenn nicht er?

Später in seinem Quartier lag Gordon auf dem Bett und starrte die Decke an. Neben ihm erklang aus dem Lautsprecher der Nachttischkonsole eine neutrale, aber angenehme Computerstimme, die Zahlen, Daten und Namen aufzählte. Gordons persönliche Gutenachtgeschichte, die Daten der Besiedlung von Erde Zwei. Am Anfang hatte er sogar geglaubt, seine Ernennung sei eine große Ehre, doch inzwischen wusste er es längst besser. Zwar war er nicht der Leiter des Projekts, aber er saß auf dem heißesten Stuhl, war für die Computersysteme zuständig, mit denen alles gesteuert wurde, und sein wichtigster Mann dabei war ein Idiot, der sich für den Helden aus irgendeinem Buch hielt. Wunderbar! Projekt Morpheus, die Lösung aller Probleme! Ein Haufen Affenscheiße war das alles!

„Wie?“
Gordon sah Berg an, sein Unterkiefer sackte herab.
„Wie soll ich ihnen behilflich sein?“ Bergs Stimme klang verändert, wohl kein Wunder nach all der Zeit. Und als Gordon noch immer nicht antwortete, sprach der Professor geduldig weiter.
„Die Leitung hätte mich nicht wecken lassen, wenn ich nicht nützlich wäre.“
Er hatte verstanden! Berg wusste, was um ihn herum geschah, er nahm Anteil! Gordon stand auf und wanderte im Zimmer umher.
„Wir haben Ihr Projekt von damals weiterentwickelt.“
Verlosch Bergs Interesse bereits wieder? Er musste es unbedingt wachhalten. „Erde Zwei macht ihrem Namen leider keine Ehre. Eine Erschließung vor zehn Jahren misslang, weil die Arbeiter aufgaben.“
Aufgeben war ein hübsch neutrales Wort, aber es traf nicht ganz den Kern der Ereignisse von vor zehn Jahren. Tatsächlich war es zu Massenselbstmorden gekommen, und es hatte die Leitung große Mühe gekostet, alles zu vertuschen. Aber das musste Berg ja nicht unbedingt wissen.
„Es gelang uns, die Umweltbedingungen auf den Stationen zu verbessern; wir sorgten für mehr Abwechslung und Möglichkeiten der Erholung und erlaubten ihnen sogar Kurzurlaube auf der Erde, obwohl der Leitung diese letzte besonders kostspielige Maßnahme wenig zusagte.“
Das konnte man wohl sagen; und als dann die Urlauber trotz ihrer Schweigeverpflichtung begannen herumzuerzählen, was auf Erde Zwei wirklich geschah, wurden die Urlaube schnell gestrichen.
„Trotz aller Maßnahmen hatten wir etwas übersehen, etwas fehlte.“
„Der Sinn?“ schlug Berg vor. Gordon blinzelte.
„Hier kommt Ihr Programm ins Spiel, besser gesagt, die Weiterentwicklung davon.“
Gordon beugte sich vor. Nein, es war keine Einbildung gewesen, der Professor war aus seiner Lethargie aufgerüttelt und hellwach.
„Ihr Programm war darauf angewiesen auf Bekanntes zurückzugreifen; Gefühle, Bilder - all dies konnte es nicht aus sich selber heraus erschaffen. Obwohl die Illusion für den Betroffenen natürlich nahezu perfekt war, musste er mit dem Inhalt sozusagen harmonieren.“
„Wir nahmen Bücher, die die Versuchspersonen liebten“, sagte Berg leise. „Auch mit den Schläfern wurde so verfahren.“
„Und sie glaubten alles wirklich zu erleben, sozusagen in Echtzeit.“ Gordon verstummte jäh; er hatte sich von seiner Begeisterung mitreißen lassen und für einen Moment vergessen, dass ja auch Berg ein Schläfer gewesen war. Doch der Professor nahm keinen Anstoß daran. Anscheinend hatte der Wissenschaftler in ihm die Oberhand gewonnen.
„Die Schläfer erleben alles wirklich.“
„Professor Berg, bei allem Respekt ... “
„Nein, warten Sie. Natürlich gibt es Unterschiede, aber im Grunde wird doch unser Erleben von unseren Sinnen gesteuert, und mit dem implantierten Chip und der Sendeanlage wurden diese Sinne, wurde das Erleben einfach nach innen verlegt.“
„Wie in einem Traum.“ Gordon bekämpfte seine Ungeduld. Natürlich musste der Professor das so sehen; es ließ die vergangene Zeit nicht ganz so vergeudet erscheinen.
„Heute müssen die Träumer nicht mehr schlafen.“
„Was sagen Sie da?“
„Sie haben richtig gehört; wir sind in der Lage, jedes Gefühl, jedes Bild in den Geist der Empfänger zu verankern und aufrechtzuerhalten, solange die Sendeanlagen laufen. Erinnerungen haben wir schon so geschaffen, wie gesagt, Gefühle, ja sogar ganze Biographien.“
Berg sah ihn auf eine Weise an, die Unwohlsein in Gordon erzeugte, dann aber verschleierte sich der Blick des Wissenschaftlers.
„Werden Sie mir die Modifikationen zeigen?“
„Natürlich. Schließlich wird es ja Ihre Aufgabe sein, dafür zu sorgen, dass auf Erde Zwei alles glatt läuft.“

Endlich war der große Tag gekommen. In den Wochen nach ihrem ersten Gespräch war Bergs Heilung verlaufen wie in einem Bilderbuch. Er war wach und tatendurstig. Was immer von seiner Traumpersönlichkeit übrig geblieben sein mochte, er hatte es unter Kontrolle. Alles lief bestens, und Gordon konnte der Leitung endlich Erfolge melden.
Der Flug sollte drei Wochen dauern - eine erstaunlich kurze Zeit, wenn man die enorme Entfernung zwischen Erde und Erde Zwei bedachte. Trotzdem würden sie von der guten alten Erde nicht viele Besucher bekommen. Der Grund dafür waren die extrem hohen Flugkosten, die sich nur rechneten, wenn das Schiff bis zum Platzen gefüllt war mit den Bodenschätzen, die auf der Erde so dringend benötigt wurden. Die Atmosphäre von Erde Zwei erlaubte auch keinen Funkkontakt, aber die Einsamkeit konnte Gordon nicht schrecken. Ein Jahr Zeit hatte die Leitung ihm gegeben. Dann kam das erste Schiff, und es sollte besser gut gefüllt nach Hause kommen, denn sonst ...

Nach den fieberhaften Vorbereitungen der vergangenen Monate war der Flug ziemlich langweilig, obwohl noch immer genug zu tun war. Gordon hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, am Nachmittag mit Berg über die Korridore des Schiffs spazieren zu gehen. Mit seinen beiden Krücken bewegte sich Berg quälend langsam. Gordon war nicht übermäßig empfindlich, doch er empfand Mitleid mit dem Professor. Aber Berg beklagte sich nie; zäh und stumm legte er die Strecken zurück und wehrte sich gegen Gordons Bemühungen, ihn in einen Gleitstuhl zu bekommen.
„Warum fragen Sie mich eigentlich nie, wer ich bin?“
Gordon sah auf. Er war mit seinen Gedanken bei der Landung gewesen. In fünf Tagen war es soweit. „Wieso? Sie sind Professor Berg, Spezialist für ... “
„Nein, nein ... “, unterbrach ihn Berg, „wer ich dort bin.“
„Dort gibt es nicht mehr, das ist vorbei.“
„Ich bin Barde, Gordon. Einst war ich ein fahrender Sänger, aber mit den Jahren bin ich bequem geworden. Heute verlasse ich den Hof nur noch selten, um zu reisen.“
Gordon fühlte Panik in sich aufsteigen. Was war das? Ein Rückfall?
„Kennen Sie das Buch?“
Gordon nickte.
„Wen mochten Sie besonders?“
Plötzlich schlug Gordons Angst in kalte Wut um, und zum ersten Mal glaubte er Manus zu verstehen. Seine Zukunft, sein ganzes weiteres Leben hing davon ab, dass dieser Mann funktionierte. Dieser Spinner und Traumtänzer!
„Ich verschwende meine Zeit nicht mit Geschichten, Berg“, fauchte er. „Ich mache meine Arbeit, und das sollten Sie auch tun.“

Draußen tobte der immerwährende Sturm. Gordon hatte ihm erklärt, warum die Atmosphäre von Erde Zwei niemals zur Ruhe kam, aber Berg hatte die Erklärung vergessen. In der Station herrschte schummriges Halbdunkel. In einigen Wochen würden sie die Installationen soweit fertig haben, dass die Hauptleitung nicht immer wieder zusammenbrach. Die empfindlichen Geräte vor den Gewalten außerhalb der Station zu schützen fraß den größten Teil der Energie, die die Windturbinen erzeugten. Viel von dem Rest verbrauchte Gordons Hirnbetäuber, wie Berg ihn bei sich nannte.
Erde Zwei war ein düsterer Planet, und es war verführerisch, das Scheitern der ersten Mission diesem Umstand zuzuschreiben. Das aber traf bei weitem nicht den Kern der Angelegenheit. Niemand hätte sich bereiterklärt, das laut zu sagen, und ausgesprochen wirkte die Tatsache auch besonders hässlich, aber die Schar der Arbeiter, die die Schätze von Erde Zwei heben sollten, waren die Verlorenen der ersten Erde. Egal, ob es sich um einfache Handlanger oder hochbezahlte Computerexperten handelte; niemand, der eine Wahl hatte, ging ins Exil. Die Düsterkeit mag eine Rolle gespielt haben, aber sie war niemals der Auslöser.
Auf eine ebenso pragmatische wie fühllose Weise war dieses Problem von den Verantwortlichen erkannt worden. Die Sender des Planeten Erde Zwei schenkten den Betroffenen keine Träume, aber das feinabgestimmte Ergebnis langjähriger Programmiererarbeit kam dem, was Berg so laienhaft Sinn genannt hatte, ziemlich nahe.

Mit der Zeit fand Berg heraus, dass das Programm bei weitem nicht so großartig war, wie Gordon tat. Zwar rebellierten die Arbeiter nicht, sie brachten sich auch nicht um oder machten sonstwie Ärger, aber die Bandbreite an Emotionen, die sie noch zeigten, war schmal. Da Berg zu den Verantwortlichen gehörte, hatte sein Empfänger, genau wie der Gordons, einige Modifikationen erfahren. Von dem Programm erreichte sie nur ein Teil; ein Grundsummen, das ihnen Freude an ihrer Arbeit und Zufriedenheit suggerierte. Das war lästig, aber auszuhalten.

Berg schrieb das Programm um und schuf Variationen und Subroutinen. Die Früchte seiner Arbeit fügte er Stück für Stück in das Mutterprogramm ein, und noch sorgfältiger war er mit der Freigabe der Sequenzen. Niemand merkte etwas. Aber Berg begnügte sich nicht mit den Menschen, er veränderte auch die Programme der Androiden und Roboter, und als er fertig war, war alles perfekt. Alles war so, wie es sein sollte.

Vom Schiff aus war es unmöglich, die atmosphärischen Störungen zu durchdringen, also schickte der Captain zwei seiner Leute mit dem Shuttle hinunter.
Die beiden flogen dicht über die Krone eines Waldes hinweg, in dessen Zentrum man die Hauptkuppel mit der zentralen Niederlassung darunter errichtet hatte. Schon von Weitem sahen sie sie durch die Bäume schimmern. Durch das Sprechgerät kam immer noch statisches Knistern. Endlich hatten sie den Rand der Lichtung erreicht. Die Neuankömmlinge sahen, dass unter der Kuppel einige Umbauten an den Gebäuden vorgenommen worden waren.
Zwischen den Bäumen schob sich auf allen Vieren ein großer Schaufelroboter hervor, auf dessen gesatteltem Rücken ein Androide saß, gekleidet mit einer mittelalterlichen Ritterrüstung und mit Schwert und Lanze bewaffnet.
„Willkommen auf Avalon“, meldete sich jetzt endlich eine freundliche Stimme. „Willkommen auf Avalon.“

(c) Desiree Hoese 2002


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