Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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Oktober 2002
Schaumwelt
von Hanno Erdwein


Angenommen,

die Welt, die dich trägt,

bleibt ungreifbar.

Deine Hände, deine Füße

durchdringen langsam

jegliche Materie.

Der Halt, den du zu haben glaubst,

ist reine Fiktion.

Wenige Wochen erst erkunden wir die erdähnliche Vegetation dieses Planeten. Zwei Forscherteams scheiterten.Die robotgesteuerten Schiffe kehrten ohne Besatzung heim. Ein Geheimnis umhüllt nach wie vor das Schicksal dieser Leute. Es steht fest, daß nach uns keine weitere Expedition in diesen abgelegenen Raumsektor entsandt werden wird, jene Sauerstoffwelt zu erforschen, die uralte Frage nach außerirdischer Intelligenz zu beantworten und nicht zuletzt die verschollenen Kameraden aufzufinden. Die Hoffnung auf ein Lebenszeichen von ihnen treibt uns vorwärts.

Mühsam bewegen wir uns durch einen Dschungel. Das Kettenfahrzeug zermalmt niedergerissenes Grün und kämpft sich einen Hügel hinan. Milchige Feuchtigkeit verkleistert nach und nach die Frontscheibe, gegen die auch die Wischer nichts auszurichten vermögen. Allmählich weicht die grüne Finsternis und entläßt uns auf eine kahle Bergkuppe. Die Sicht wird weit. Es ist erholsam, das Auge schweifen zu lassen. Zu unseren Füßen liegt ein Tal. Doch der unerwartete Anblick von fremdartigen Gebäuden, die sich als Siedlung um einen Ortskern scharen, verschlägt uns den Atem. Da wären sie endlich, die langgesuchten Außerirdischen! Wir haben sie gefunden! Wir fühlen uns wie Kolumbus, stürzen aus dem Fahrzeug und tanzen in wilden Sprüngen umher. Vergessen ist der eigentliche Zweck unserer Mission, vergessen auch das oberste Gebot jeder außerirdischen Unternehmung: Distanz und Wachsamkeit! Enttdeckerrausch hat uns gepackt und läßt uns die verrücktesten Dinge tun. Thomas eilt auf einen Baum zu, ihn freundschaftlich zu umarmen. Kurz darauf zerreißt sein Schrei die klare Bergluft. Mit weit aufgerissenen Augen hält der Botaniker uns seinen Arm hin. "Was ist damit? Bist du verletzt?" Er schüttelt den Kopf und zeigt auf den Stamm des eichenähnlichen Baums. "Geht glatt durch", stößt er hervor. Uns bleibt dunkel, was er damit meint, worauf er es demonstriert. Und das übersteigt unser Fassungsvermögen. Seine Hand gleitet widerstandslos durch das Holz. Nacheinder versuchen wir alle das Phänomen, ohne zu ahnen, welches Schicksal sich hier zusammenbraut. Die Beobachtung des Ungewöhnlichen beschäftigt uns eine Weile, bis wir es als gegeben hinnehmen können und wieder in unser Fahrzeug steigen, um die entdeckte Ortschaft zu erkunden.

Straßen scheint diese Welt nicht zu kennen. Selbst Wege oder Pfade mögen hier die Ausnahme sein. Flügelwesen? Der Gedanke erheitert uns, während wir zwischen den Häusern der Ortschaft umherfahren, ohne vorerst diese Frage klären zu können. Nichts rührt sich. Wir verlassen das Fahrzeug, einen dieser kugeligen Bauten näher zu untersuchen. An den Wänden ist nichts zu erkennen, was einer Tür gleich käme. Dennoch hebt Bob die Hand, um in altirdischer Sitte anzuklopfen. Sein Arm verschwindet bis zum Ellebogen in der Wand. Erschrocken springt er einen Meter zurück und schüttelt sich: "Das Ding ist elektrisch!", keucht er und reibt sich das Handgelenk. "Vielleicht auch noch Laserstrahlen", spottet Bruno unwillig und versucht es selbst. Er dringt bis zum halben Oberkörper ein und wir müssen den schreienden, hilflosen Mann herausziehen. Es dauert, bis die Lähmung nachläßt. "Ich bin für die Radikalmethode", entschließt sich Chris, "wir nehmen den Rover!" Trotz einiger Bedenken steigen wir ein und fahren auf das Gebäude zu. Ohne erkennbare Schäden zu hinterlassen, bohrt sich die Schnauze des Fahrzeugs durch das Gestein. Dann packt uns eine gewaltige Faust, preßt uns die Luft aus den Lungen, schickt uns durch Hitze- und Kälteschauer und schleudert uns samt Fahrzeug ins Freie. Auf wackligen Knien steigen wir aus und blicken einander an. Was war das? Verfügen die mutmaßlichen Primitiven über geheimnisvolle Kräfte? Brunos Blick gleitet finster über die glatte weiße Wand des Hauses, dessen Gewalt wir soeben zu spüren bekamen. "Ich bin es leid", seufzt er und wendet sich dem Rover zu. "Das bringt doch nichts", rufe ich ihm nach. Er dreht sich um und grinst sardonisch: "Den Blaster hol ich. Wollen mal sehen, wer hier der Stärkere ist." Damit greift seine Hand nach dem Knauf, um in gewohnter Weise die Tür zu öffnen. Der Arm dringt wie durch Wasser ins Innere. Zähneknirschend holt er ihn zurück, hält in der Bewegung inne und knurrt: "Na dann eben so", und tastet durch die geschlossene Tür nach dem Gewehr, das an der Rücklehne des Sitzes hängt. Fassungslos beobachten wir, wie seine Hand nach dem Kolben greift, ihn aber nicht fassen kann, weil die Finger durch das Material hindurchgleiten. Immer und immer wieder versucht er es, will es nicht glauben, was er durch die Scheibe sieht. Fluchend versucht er, durch die geschlossene Tür in den Wagen zu steigen. Von steigen kann aber nicht die Rede sein; denn er durchpflügt ebenerdig das Fahrzeug, ohne auf das Niveau der Kabine zu gelangen. Ratloser und wütender als zuvor kehrt er zu uns zurück. Auch uns bedrückt die bange Frage, was nun werden soll, wo wir das Fahrzeug samt Vorräten verloren haben. und wie wir die lange Strecke zum Raumschiff zurücklegen sollen. Über diese Erörterung wird es Nacht.

Eine Art Mitleid mit uns Fremdlingen muß die Einwohner dieser Ortschaft bewegen, uns regelmäßig mit Essen zu versorgen. Am Morgen und auch an jedem darauffolgenden Tag finden wir für uns greifbare Nahrung. Es ist eine milchige Suppe in Kugelgefäßen, die wir nahe unserem Nachtlager vorfinden. Mißtrauisch zögern wir, die Nahrung anzunehmen. "Gift", warnt Chris und Bruno mutmaßt eine Falle. Obschon die Suppe nicht gerade appetitlich aussieht, zwingt uns der Hunger, sie zu kosten. Erstaunlicherweise schmeckt sie vorzüglich und gibt uns neue Kraft. Unsere Wohltäter bleiben auch in der Folgezeit unsichtbar. Obschon wir uns mittels mancherlei Tricks bemühen, sie auszuspähen, gelingt es uns nicht, einen Blick auf sie zu werfen. Nachts fallen wir in einen tiefen, erholsamen Schlaf und versäumen regelmäßig den Augenblick der "Fütterung", wie wir den Austausch der Kugeln fatalistisch nennen. Die Zeit vergeht unter Müßiggang. Anfangs schmieden wir Pläne, das Schiff doch noch zu erreichen. Sie scheitern alle an der Tatsache, daß uns keinerlei Mittel zur Verfügung stehen, nicht einmal die primitivsten, unterwegs Nahrung zu beschaffen. Dennoch vergeht die Zeit nicht ereignislos. Am dritten Tag entdecken wir, daß unser Fahrzeug bis zu den Rädern im Boden steckt. Es läßt sich nichts dagegen tun. An den Folgetagen verschwindet die Karosserie bis zu den Scheiben. Nach zwei Wochen ragt nur noch das Dach aus dem Boden. Achselzuckend nehmen wir es hin. Längst sind wir über das Stadium emotionaler Ausbrüche hinaus. Selbst Bruno, der Feuerkopf, wirkt gelassen, wenn auch sein Blick ein dumpfes Brüten verrät. Tagsüber durchstreifen wir die Umgebung, und jeder versucht, die fremdartige Welt mit seinem Fachwissen zu begreifen. Daß uns dies nur unvollkommen gelingt, beweisen die allabendlichen hitzigen Diskussionen, in denen jeder dem anderen etwas beweisen will, was sich nun einmal nicht beweisen läßt. Bei einer solchen Exkursion finden wir die Knochen. Es sind menschliche Knochen. Das erkennt auch ein Kybernetiker wie ich. Wir können nichts für die Überreste unserer Artgenossen tun, sie nicht einmal bestatten; denn unsere Hände gleiten hindurch. Dafür erkennen wir aber deutlich die Ursache ihres Todes. Bis auf einen wurde ihnen der Schädel eingeschlagen. Das grauenvolle Ende hatten sie sich zweifelsfrei selbst beigebracht mit Hilfe der Suppenkugeln. Streit? Panik? Hysterie? Nichts läßt auf die Ursache der Gewalttat schließen. Dennoch weiß jeder von uns, daß auch wir oft genug kurz davor sind, aufeinander einzuschlagen. Der Weg hier hinaus zu den Knochen unserer Kameraden wird uns zur täglichen Gewohnheit. Wir verweilen eine Zeitlang schweigend und gehen dann den übrigen Gewohnheiten nach. Daß Warnungen nutzlos verhallten, wissen wir seit dem trojanischen Krieg und dem tragischen Schicksal der Kassandra. Den Tod unserer Artgenossen vor Augen, hätten wir gewarnt sein müssen. Dennoch bricht eines Abends der unvermeidliche Streit über uns herein, jäh und brutal. Es beginnt mit Meinungsverschiedenheiten, die sich hochschaukeln und in Beschimpfungen gipfeln. Hochrot vor Zorn stehen wir voreinander und schwenken die steinernen Hohlkugeln. Da, die erste Hand schlägt zu und trifft einen Kopf, hätte einen Kopf wohl tötlich getroffen, wenn nicht die Faust mit der Kugel wirkungslos durch ihn hindurchgeglitten wäre. Diese Erfahrung ernüchtert uns mit einem Schlag. Deprimiert setzen wir uns und wagen längere Zeit nicht, einander anzusehen. Stumm zieht jeder für sich ein Fazit aus dieser Erfahrung, ein Ausweg weniger. Nicht einmal der Tod bleibt als letzte Fluchtmöglichkeit. Unser Blick wandert zum gestirnten Nachthimmel, zu jenem gelben Punkt zwischen Deneb und Atair, der irdischen Sonne. Fern ist sie, unendlich fern für unser Sehnen. Als Gefangene eines Planeten voll ungreifbarer Dinge fragen wir uns, wie es enden wird. Wird früher oder später die Geduld unserer Wirte erlahmen, wodurch wir langsam oder rasch den Tod finden. Oder wandeln wir uns selbst zu Schemen und treiben wie die Meerfee im Märchen von Andersen als Schaum auf den Wogen des galaktischen Ozeans?

© Oktober 1994

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