Das alte Buch Mamsell
Das alte Buch Mamsell
Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
mehr ... ] [ Verlagsprogramm ]
 SIE SIND HIER:   HOME » MITMACH-PROJEKT » SCHREIBAUFGABE » Gaby Kern IMPRESSUM
NEWSLETTER
Abonnieren Sie unseren Newsletter.

Jetzt anmelden! ]

UNSERE TOP-SEITEN
1.) Literatur-News-Ticker
2.) Leselust
3.) Forum
4.) Mitmach-Projekt
5.) Schreib-Lust-News 6.) Ausschreibungen 7.) Wettbewerbs-Tipps
Oktober 2002
Ich hab’s gesehen
von Gaby Kern


Der Mann war überrascht. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet. Nicht zu dieser Stunde. Das Haus war dunkel, alle Kerzen längst erloschen. Virginia, seine geliebte Tochter, fühlte sich nicht wohl und war früh zu Bett gegangen. Bedienstete gab es in diesem Haus schon lange nicht mehr. Wer also hatte diesen fremden Besucher ins Haus gelassen?

Der Mann rieb sich die Augen. Träumte er vielleicht? Nein, dies war kein Traum. Das Reißen in den Gliedern, das mit den Jahren immer schlimmer geworden war, machte ihm auf schmerzhafte Weise klar, dass er hellwach war. Angst hatte er nicht. Zu viel schon hatte er im Laufe seines Lebens durchgemacht, als dass ein nächtlicher Besucher in der Lage gewesen wäre, den Mann noch in Schrecken zu versetzen. Zu viel hatten seine alten Augen gesehen – auch Vieles, das zunächst unglaublich erschienen war. Immer war er den Dingen auf den Grund gegangen, furchtlos Kritikern und Verfolgern gegenüber getreten, hatte seine Erkenntnisse publik gemacht. Vermeintliche Freunde hatte er verloren, Verurteilung und Haft ertragen, was sollte ihm noch geschehen?

Wortlos hatte der Besucher plötzlich an die Tür seiner Schlafkammer geklopft. Der Mann musste sich anstrengen, um in der Dunkelheit die Konturen seines seltsamen Gastes erkennen zu können. Der Mann, von seinem ganzen Wesen her darauf angelegt, sich Klarheit zu verschaffen, beschloss, eine Kerze zu entzünden. Zuerst zaghaft, dann kräftig züngelte die Flamme und erhellte den Raum mit einem spärlichen Lichtschein. Der Mann wartete, bis sich seine Augen an die kärgliche Beleuchtung gewöhnt hatten. Dann begann er, den Besucher zu mustern. Er war jung, um die 30 Jahre. Und groß war er, größer als der Mann selbst.

Ein freundliches Lächeln lag auf seinen Lippen, bevor er den Mund öffnete und mit der sanftesten Stimme, die der Mann je vernommen hatte, das Gespräch eröffnete: "Verzeihen Sie die Störung, edler Herr. Es ist sonst nicht meine Art, zu nächtlicher Stunde in fremde Häuser einzudringen, aber ich habe eine Mission zu erfüllen, die es mir unmöglich macht, Euch bei Tageslicht aufzusuchen."

Der Mann war erstaunt, ob der höflichen, ruhigen Art, in der sein Besucher sein Anliegen formulierte – und gleichzeitig erwachte seine Neugier. Je mehr sich seine Augen an das schummrige Licht der Kerze gewöhnten, um so mehr Einzelheiten konnte er erkennen. Der Gast trug einen glänzenden Anzug aus einem Gewebe, das der Mann noch nie vorher gesehen hatte und er musste an sich halten, um nicht die Hand danach auszustrecken. Er wollte fühlen, wie es sich anfasste. Seine Verwunderung wurde immer größer, doch noch bevor er antworten konnte, fuhr der Besucher fort: "Darf ich Euch zu einer Reise einladen, edler Herr? Es wird eine Art der Reise sein, wie Ihr sie für unmöglich haltet, aber ich kann Euch versichern, dass Ihr wohlbehalten zurückkehren werdet. Ihr werdet Dinge sehen, die kein Mensch vor Euch je gesehen hat – und Ihr werdet verstehen."

Der Mann war unfähig, sich der ruhigen Bestimmtheit seines Besuchers zu entziehen. Sein Leben lang hatte er verstehen wollen. Nun bot sich ihm die Gelegenheit dazu – wenn auch auf ungewöhnliche und ebenso unerwartete Weise. "Ihr seid ungebeten in mein Haus gekommen, dennoch seid Ihr willkommen. Auch wenn ich nicht weiß, wohin mich diese Reise führen wird, ich vertraue Euch. Wissbegier ist mein Leben und ich sehne mich danach, Neues zu erfahren. Jedoch, bevor wir aufbrechen: wie soll ich Euch ansprechen?" "Arion", antwortete der geheimnisvolle Besucher, "nennt mich Arion".

Der Mann kleidete sich an, denn er war schon zu Bett gegangen, als es an seiner Tür klopfte. Auf Zehenspitzen, damit Virginia nicht erwachte, verließen sie das Haus durch die Tür zum Garten, die, wie der Mann erstaunt feststellte, nicht verschlossen war. Virginia musste vergessen haben, sie zu verriegeln. Arion geleitete ihn durch das Gartentor, hin zu dem Wald, der sich an das Grundstück anschloss. Sie schienen in die Dunkelheit der Nacht einzutauchen, doch Arion schien sich mühelos zu orientieren. Schon nach kurzer Zeit war inmitten des Unterholzes ein gewaltiges blinkendes Ungetüm zu erkennen.

So etwas hatte der Mann noch nie gesehen und jetzt wurde ihm zum ersten Mal bewusst, auf welches Abenteuer er sich hier einließ. Gerade, als ein leichtes Gefühl der Angst von ihm Besitz zu ergreifen drohte, flüsterte Arion: "Dies ist unser Reisegefährt. Habt keine Angst, es hat mich sicher hierher gebracht und wird auch Euch heil befördern. Steigt ein, öffnet Augen und Verstand, doch haltet Euren Mund verschlossen über das, was Ihr jetzt sehen und erleben werdet!". Der Mann wagte nicht, zu widersprechen. Er beobachtete, wie Arion das Ungetüm öffnete. Der Innenraum war hell beleuchtet. Überall blinkten Lichter, die, wie der Mann erkannte, nicht von Kerzen stammten. Zwei merkwürdig geformte Stühle warteten auf ihre Gäste. Arion kletterte in das Ungetüm hinein. Der Mann folgte ihm und nahm auf dem freien Stuhl Platz. Arion schloss die gläserne Kuppel des Ungetüms, drückte auf einigen der blinkenden Lichter herum und die Reise begann.

Das Raumschiff erhob sich mühelos vom Boden. Schon bald sah der Mann sein Haus, seinen Garten, den Wald, ja das Dorf, dann die Stadt Siena – immer größer wurde sein Blickfeld und immer kleiner die Erde. Meere waren zu erkennen, große Landflächen – der Mann war sprachlos. Die Reise ging weiter – mitten hinein ins All, vorbei an den Planeten, die der Mann so oft durch sein Fernrohr betrachtet hatte. "Das ist das Weltall", erklärte Arion. "Ihr habt es schon oft betrachtet und Euch gefragt, wie es dort aussehen mag, nicht wahr?" Ein stummes Nicken war die Antwort. "Seht Euch um", fuhr Arion fort. "Nehmt es in Euch auf. Vergesst niemals, was Ihr hier seht. Ihr habt immer für die Wahrheit gekämpft und bevor Euch Selbstzweifel übermannen können, sollt Ihr hier und heute den Beweis bekommen, für das, was Ihr als unumstößliche Wahrheit erkannt habt."

Arion hielt das Raumschiff an. Es hielt seine Position im All und der Mann schaute sich um. Unter ihnen war die Erde zu erkennen, jener kugelrunde Planet, auf dem er zu Hause war. Der Mann konnte erkennen, dass eine Hälfte der Kugel beleuchtet war, während die andere Hälfte im Schatten lag. Jene Seite nämlich, die von der Sonne abgewandt war. Der Mann konnte Landmassen ausmachen, riesige Wasserflächen und die eisbedeckten Pole. Der Anblick ließ den Mann erschauern. Was ihm hier widerfuhr, grenzte an Wahnsinn und ihm wurde klar, dass er niemandem jemals darüber werde berichten können. Man würde ihm nicht nur keinen Glauben schenken, sicherlich würde er auch sofort wieder in Haft genommen und diese Erfahrung wollte der Mann nie wieder machen müssen. Überwältigt von dieser Erkenntnis und der einzigartigen Erfahrung, die er gerade machte, schloss der Mann die Augen. Arion saß schweigend neben ihm. Er wusste nur zu gut, wie sich der Mann fühlen musste und gönnte ihm die Ruhepause.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen, bevor Arion wieder die Rede an den Mann richtete: "Edler Herr, schaut hinab. Öffnet Eure Augen und erzählt mir, was Ihr seht." Der Mann schlug die Augen auf, schaute durch die Glaskuppel hinaus und stieß ein überraschtes "Oh" aus. "Sagt mir, was Ihr seht!" forderte Arion erneut. "Die Sonne – sie steht an unveränderter Position. Doch die Erde..... die Erde...", stammelte der Mann. "Sprecht weiter!" Der Mann lächelte nun und seine Augen schienen zu leuchten. "Die Erde hat sich bewegt. Ich kann Teile sehen, die vorhin noch im Schatten lagen." "Was bedeutet das für Euch?", fragte Arion weiter. "Ich habe recht gehabt. Die Erde dreht sich um die Sonne. Ich habe es gesehen, ich habe es mit eigenen Augen gesehen!" Auch Arion lächelte nun, wusste er doch, welche Bedeutung diese Erkenntnis für seinen Reisegefährten besaß. "Meine Mission ist erfüllt, edler Herr! Ich werde Euch nun nach Hause bringen. Vergesst nicht: Niemand darf je von unserer Reise erfahren. NIEMAND!" "Ich verspreche es. Kein Mensch wird davon erfahren. Arion, ich danke Euch von ganzem Herzen! Ihr ahnt nicht, was diese Nacht für mich bedeutet!"

Arion setzte das Raumschiff wieder in Bewegung. Langsam näherten sie sich wieder der Erde, tauchten in die Atmosphäre ein. Schweigend nahm der Mann die Eindrücke in sich auf. Der Morgen dämmerte bereits, als Arion den Mann zu seinem Haus geleitete und in sein Schlafgemach, das er vor wenigen Stunden verlassen hatte. Das Haus war noch immer ruhig. Virginia schien von dem nächtlichen Ausflug ihres Vaters nichts bemerkt zu haben. Mit ruhigem Lächeln betrachtete Arion den Mann, der erschöpft und glücklich auf sein Bett sank. "Lebt wohl, edler Herr. Unsere Reise war mir ein Vergnügen. Ihr werdet mich nie wiedersehen, doch vergessen werdet Ihr mich nie." Arion verließ das Schlafgemach ebenso leise, wie er es zu Beginn der Nacht betreten hatte.

8. Januar 1642: In Arcetri, nahe Siena, stirbt im Kreise seiner Freunde ein Mann. Bevor er für immer verstummt, sagt er mit Trotz in der Stimme: "Und sie bewegt sich doch" und setzt, nun flüsternd, hinzu: "Ich habe es gesehen"....

"Der Fall Galilei kann uns eine bleibend aktuelle Lehre sein für ähnliche
Situationen, die sich heute bieten und in Zukunft ergeben können." (Papst
Johannes Paul II.an die Päpstliche Akademie der Wissenschaften am 31.
Oktober 1992)

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
Dieser Text enthält 9410 Zeichen.

Druckversion

 LINKTIPPS: Naturwaren Diese Website wird unterstützt von:

www.mswaltrop.de
Copyright © 2006 - 2024 by Schreiblust-Verlag - Alle Rechte vorbehalten.