Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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November 2002
Alt-Listernohl
von Andreas Schröter


„Und? Hab ich zuviel versprochen?“ Martin war kaum noch zu halten.
„Nein, es ist geil,“ erwiderte Klaus deutlich verhaltener, während er damit beschäftigt war, das Segel mit seinem nagelneuen Surfbrett zu verbinden.
„Sag ich doch. Lass uns loslegen. Sogar der Wind steht optimal.“
Die beiden befanden sich mitsamt ihrer Surfausrüstung am äußersten Zipfel jenes Land-Keils, der westlich der Listertalbrücke und östlich des Gilbergs in den Biggesee ragt. Es war kurz nach Mitternacht, und der volle Mond beschien die ansonsten tiefschwarze Wasseroberfläche der Talsperre im Sauerland. Er gab ihr ein unwirkliches, beinahe künstliches Aussehen. Nur manchmal waren von weitem einzelne Autoscheinwerfer der Wagen zu erkennen, die auf der Brücke fuhren. Ansonsten störte nichts die nächtliche Ruhe des Sees.
Klaus war noch nie nachts gesurft. Er konnte sich einer leichten Beklemmung nicht erwehren – ein Gefühl, das er freilich Martin gegenüber nicht eingestehen würde. Er war ja schon froh, dass ihn der zwei Jahre ältere Fußballkumpel – Martin war immerhin schon 19 – überhaupt mit auf den Wochenendtrip genommen hatte. Da wollte er nicht jetzt auch noch der Spielverderber für diese nächtliche Aktion sein.
„Worauf wartest du noch?“, rief Martin begeistert. Er war bereits gute 30 Meter vom Ufer entfernt. In seinem schwarzen Neoprenanzug hob er sich kaum von der Umgebung ab, wirkte nur noch wie ein Schemen auf der Wasseroberfläche. Klaus schob jetzt ebenfalls sein Brett in den See und stieg selbst sofort auf. Der Gedanke, in diesem undurchdringlichen Schwarz schwimmen zu müssen, flößte ihm Angst ein. Hoffentlich konnte er sich während des ganzen Unternehmens auf dem Brett halten. Seine Technik war bei weitem nicht so ausgereift wie Martins.
„Komm schon her, hier ist der Wind noch stärker“, rief Martin aus nun weiterer Entfernung. „Immer den Strahlen des Mondes nach. Juchhu!“
Na, der hat wenigstens seinen Spaß, dachte Klaus leicht verbittert. Warum gelang es ihm selbst nie, eine solche Lebens-Leichtigkeit an den Tag – oder besser die Nacht – zu legen? Nie konnte er eine Sache in vollen Zügen genießen. Immer musste er irgendein Haar in der Suppe finden oder konnte – wie jetzt – eine blöde und im Grunde völlig unerklärliche Angst nicht ganz abschütteln. Schließlich gab es im Biggesee weder Haie noch Krokodile.
Er wendete sein Brett in die Richtung, in der er Martin vermutete – immer den Strahlen des Mondes nach – und spürte einen leichten Ruck unter seinen Füßen. Die gegenströmenden Wellen. Wahrscheinlich die, die er selbst vorher mit dem Brett fabriziert hatte. Ganz schön sensibel, sein neues Brett. Guter Kauf.
Vielleicht war es aber auch ein Stück Holz, das im Wasser trieb. Na, er wollte lieber nicht nachsehen, was hier alles herumschwamm. Statt dessen brachte er sein Segel hart in den Wind, so dass das Brett volle Fahrt aufnehmen konnte. Martin musste etwa 50 Meter vor ihm sein – schon beinahe am Gilberg, der Biggeseeinsel. Nach allem, was er erkennen konnte, machte sein Freund nur halbe Fahrt, wartete auf ihn. „Warum so langsam? Gib Stoff!“ hörte er ihn jetzt rufen.
Doch Klaus konnte nicht schneller. Sein Segel befand sich in optimaler Stellung, und doch nahm sein Brett nur langsam Fahrt auf.
Viel zu langsam.
Es herrschte mittlerweile eine steife Brise, so dass das Brett eigentlich über das Wasser hätte fliegen müssen. Normalerweise hätte er sicherlich das Segel etwas lockerer gelassen, um nicht Gefahr zu laufen, Martin, der trotz des Mondlichts nur undeutlich zu erkennen war, zu rammen. Es passierte jedoch das genaue Gegenteil: Klaus nahm nicht mehr Fahrt auf, sondern wurde immer langsamer. Scheiße, sein Brett hatte vielleicht irgendeinen Konstruktionsfehler oder es musste sich in irgendetwas verheddert haben. Allein bei dem Gedanken, womöglich mit den Händen unter das Brett fassen zu müssen, um es zu lösen, überkam Klaus das Grauen. Er blickte nach unten und stellte entsetzt fest, dass sich seine Füße bereits im Wasser befanden. Das Surfbrett war überflutet und glitt wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche im Zeitlupentempo dahin. Aber das konnte nicht sein. Das Brett war so konstruiert, dass es sein Gewicht auf jeden Fall tragen musste. Es bestand aus modernstem, unsinkbarem Kunststoff.
Wenige Augenblicke später konnte Klaus sein Brett kaum noch sehen. Er selbst stand bis zu den Unterschenkeln im Wasser. Was zum Teufel ...?! Wo war das verdammte Ufer? Klaus fuhr mit dem Kopf herum, konnte jedoch nur erahnen, in welcher Richtung es lag. „Martin, irgendwas ...“ In diesem Moment spürte er etwas Glitschiges am Fuß. Wieder blickte er nach unten. Was war das? Eine Schlange? Nein, es war – und Klaus spürte, wie sich die Härchen auf seinem Rücken aufrichteten – ein halb verwester, gräulich-schleimiger Arm, der versuchte, Klaus’ Knöchel zu packen. Mit Entsetzensschreien ließ der das Segel los und stürzte sich trotz größten Widerwillens in die Fluten. Sofort begann er mit überstürzten Bewegungen, wobei viel Wasser spritzte, in die Richtung zu schwimmen, in der er das Ufer vermutete. Als er es erreichte, rannte er weiter eine Böschung hoch, bis er weit vom Wasserrand entfernt war. Erst dann sah er zurück. Der Biggesee lag ruhig vor ihm. Der Wind war abgeflaut und von der Listertalbrücke waren von Zeit zu Zeit einige Scheinwerfer zu sehen. Sein Freund kam langsam dem Ufer entgegen, und einige Meter im See trieb nun sein eigenes Surfbrett mitsamt Segel im Wasser.

* * *

„Was sollte der Scheiß, Alter?“ Statt ernsthaft auf eine Antwort zu warten, kippte Martin nun schon den zweiten Wodka Lemon in sich hinein. Die beiden waren zwei von vielleicht fünf Gästen, die um diese Zeit – es war zwei Uhr nachts – noch den „Dorfkrug“ in Sondern bevölkerten. „Jedenfalls hast du mir mit der Aktion gründlich die Stimmung vermiest. Das war das erste und letzte Mal, dass ich mit dir so was mache, kapiert?!“
„Da war etwas im Wasser – ein Arm ...“
„Hör auf mit deinem bescheuerten Arm. Wenn da ein Arm gewesen wäre, hätten wir einen Schwimmer sehen müssen. Auch an einen Taucher kann ich einfach nicht glauben. Du hattest einfach Schiss, das war alles.“
Klaus fror, obwohl es in der Gaststätte nicht zu kühl war, und er fühlte sich elend. Jetzt, mit zwei Stunden Abstand, kam es ihm selbst absurd vor. Vielleicht war es wirklich nur ein Baumstamm gewesen, der im Wasser trieb und durch den Schwung des Surfbretts nach oben gedrückt wurde. Dass dadurch das Brett selbst langsamer wurde, war doch selbstverständlich. „Aber das Brett war plötzlich unter Wasser.“
Martin verdrehte die Augen. „Das wird ein Baumstamm oder was gewesen sein – dein Arm – der sich über das Brett geschoben und es so unter Wasser gedrückt hat. Als ich es geholt habe, schwamm es jedenfalls ganz normal auf dem Wasser.“
„Hast du den Baum denn gesehen?“, hakte Klaus nach.
„Nee, aber der wird längst weitergetrieben sein. Außerdem wird mir das Thema zu blöd. Ich muss mal ...“ Martin verschwand in Richtung Toiletten.
„Entschuldigen Sie, wenn ich störe ...“ – ein alter Mann – Klaus schätzte ihn auf Ende 70 – war von seinem Platz aufgestanden und zum Tisch der beiden Surfer gekommen, „aber ich habe eben ganz zufällig Ihr Gespräch mitangehört.“
„Ja?“
„Wann ist diese Sache mit dem – ähm – Baumstamm passiert?“
„Eben – vor zwei Stunden. Hören Sie, wenn Sie mir jetzt einen Moralvortrag darüber halten wollen, dass man nachts nicht im See ...“
Der Mann winkte ab. „Nein, nein, obwohl ... Entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Schnütgen, mein Name. Wilhelm Schnütgen. Darf ich mich einen kurzen Moment zu Ihnen setzen?“
Klaus blickte zur Toilettentür. Was würde Martin sagen, wenn plötzlich ein Tattergreis an ihrem Tisch sitzen würde? Ach was, er war Martin keine Rechenschaft schuldig. Fast trotzig wirkte seine Handbewegung, mit der er den Mann bat, sich zu setzen.
„Wenn ich Ihre Unterhaltung eben richtig verfolgt habe, haben Sie einen Arm im Wasser gesehen, der Ihr Surfbrett gepackt hielt?“
Klaus nickte widerwillig.
„Darf ich Sie fragen, wo das passiert ist?“
Klaus beschrieb die Stelle. Der Senior schien große Augen zu bekommen und von einer gewissen Aufregung erfasst zu werden. „Listernohl“, flüsterte er.
„Was?“
Bevor sein Gegenüber antwortete, zog er eine bereits gestopfte Pfeife aus seiner Jackentasche, zündete sie an und begann daran zu ziehen. Ein angenehmer Tabakgeruch breitete sich aus. „Listernohl ist eines jener Dörfer – es war das größte von ihnen – das in den 60er Jahren für die Biggetalsperre weichen musste. Es befand sich genau an der Stelle, nein, einige Meter darunter, an der Sie heute Nacht gesurft sind. Noch heute stehen ein paar Häuser auf dem Grund des Sees.“
„Was?“ Das hatte Klaus nicht gewusst. Er fand die Vorstellung faszinierend.
„Ja, aber das ist keine Seltenheit. Mitten im Reschensee in Südtirol steht eine komplett erhaltene Kirche. Die meisten Häuser wurden damals gesprengt, aber einige eben nicht. Es gab Hauseigentümer, die konnten es einfach nicht übers Herz bringen, die entsprechenden Urkunden für ihre Geburtshäuser, in denen sie 70 Jahre und mehr verbracht hatten, zu unterschreiben. Und irgendwann war es eben zu spät zum Sprengen. Ab November 1965 stieg das Wasser unaufhörlich. In manchen Häusern bedeckte es bereits die Fußböden im Erdgeschoss, als sich die Bewohner endlich entschlossen, ihre Häuser zu verlassen. Ja, ja, das Unternehmen ,Sichere Trinkwasserversorgung für das Ruhrgebiet’ ging stellenweise sehr dramatisch vonstatten.“
Der Senior machte eine Pause, in der er wieder an seiner Pfeife zog. Der Wirt stellte ihnen unaufgefordert ein frisch gezapftes Pils hin. Auch Martin war von der Toilette zurückgekehrt, wie Martin jetzt feststellte. Offenbar hatte er schon seit ein paar Minuten schweigend zugehört.
„Mein Vater Franz Schnütgen“, sprach der alte Mann jetzt weiter, „ist damals zu einer lokalen Berühmtheit geworden, weil er Weihnachten 1966 der letzte war, der sein altes Haus im Biggetal verlassen hat. Ich kann mich nicht entsinnen, dass ich ihn danach noch einmal fröhlich erlebt habe. Oh, verstehen Sie mich nicht falsch“, der Mann machte eine abwehrende Handbewegung, „die Menschen, die ihre Häuser im Biggetal verloren hatten, wurden dafür fürstlich entschädigt. Neu-Listernohl und Neu-Sondern wurden komplett neu aufgebaut. Die meisten früheren Bewohner des Biggetals fanden dort modernste Wohnungen, die ihre alten Häuser, die zum Teil kein fließendes Wasser hatten und stark heruntergekommen waren, mehr als ersetzten. Ich war damals – 1966 – gerade 41 Jahre alt und ein Befürworter der Talsperre. Sie würde den Olpekreis nach vorne bringen – nicht zuletzt, weil Leute wie Sie ihr Geld in unseren Gaststätten, Campingplätzen, Pensionen und Ferienwohnungen lassen würden. Und ich hatte mit dieser Einstellung – mit dem Abstand von 36 Jahren gesehen – schließlich Recht. Aber die Alten – inklusive mein Vater – dachten darüber natürlich völlig anders. Sie fühlten sich um ihre Heimat betrogen. Manche zum zweiten Mal, weil sie bereits beim Bau der Listertalsperre 1912 umsiedeln mussten. Sie wissen ja selbst, welches Getue immer um den Begriff Heimat gemacht wird. Denken Sie an die Schlesierverbände, die noch heute nicht einsehen wollen, dass Königsberg niemals wieder eine deutsche Stadt sein wird. Nun, die Bewohner des Biggetals gründeten keinen großartigen Verband, aber es gab eben einige wenige, die sich mit Zähnen und Klauen“ – bei diesem Begriff hielt der Erzähler kurz inne und blickte Klaus ernst in die Augen – „die sich mit Zähnen und Klauen gegen die Realitäten zur Wehr setzten.
Als ich Ihnen eben sagte, dass mein Vater der letzte war, der das Biggetal verlassen hat, so stimmte dies nicht ganz. Es gab einen, den damals 60-jährigen Werner Hauboldt, der das Tal noch viel später verließ. 20 Jahre später, um es genau zu sagen. Hauboldt war bereits in den 50er Jahren ein erbitterter Feind der Baupläne. Immer wieder forderte er vehement den sofortigen Stopp aller Überlegungen in Richtung Talsperren-Bau. Er hatte nach dem Krieg das Haus seines Vaters in Listernohl geerbt und es in den folgenden Jahren mit viel Geld und noch mehr Liebe hergerichtet – trotz der schon lange bekannten Sperrenpläne. Er wollte einfach nicht hinnehmen, dass es auf Nimmerwiedersehen in den Fluten versank. Anfang der 60er Jahre, als die Umsetzung der Pläne kaum noch aufzuhalten war, wurde Hauboldt immer radikaler. Einmal kippte er dem Vorsitzenden des Ruhrtalsperrenverbandes eine Fuhre Jauche vor die Tür. Seine wenigen Freunde rückten in dieser Zeit immer stärker von ihm ab. Sie fürchteten, dass die Gegenseite bei allzu radikaler Kritik ihr Versprechen vergessen könnte, die Talbewohner großzügig zu entschädigen. Wie gesagt: viele Biggetalbewohner waren froh, aus ihren maroden Häusern herauszukommen.
Nun, ich will Sie nicht langweilen, meine Herren“ – nichts deutete darauf hin, dass sich die beiden Surfer langweilten, im Gegenteil: Sie hingen gebannt an den Lippen des Erzählers – „als jedenfalls Ende 1966 das Wasser vor dem Hause Werner Hauboldts stand, ließ er verlauten, dass er sich dieses Elend nicht weiter mit ansehen wolle und zu seiner Schwester nach Italien übersiedle. Weil in dieser Zeit niemand mehr eine enge Beziehung zu ihm pflegte, glaubte man ihm dies ohne Nachfrage. Die meisten werden froh gewesen sein, den Störenfried los zu sein. Fakt jedoch ist, dass Werner Hauboldt gar keine Schwester in Italien hat. Weil er wusste, dass man zwangsweise aus seinem Haus entfernen würde, um ihn vor dem Wasser zu schützen, hat er sich auf dem Dachboden seines Hauses ein Lager eingerichtet, das er mit Lebensmittelkonserven und Trinkwasser so gut ausstattete, dass er damit die nächsten fünf Monate unbemerkt von der Außenwelt überleben konnte. Interessant ist, dass Werner Hauboldt die Menge seiner Nahrungsmittel fast genau bis zu dem Tage berechnete, als das Wasser auch den Dachboden seines Hauses flutete.“
Wilhelm Schnütgen machte eine Pause, in der er an seiner Pfeife zog. Die beiden Surfer und der Erzähler waren mittlerweile die einzigen Gäste. Es ging auf viertel vor drei zu und der Wirt begann, die Rollladen vor den Fenstern herunterzulassen, während er immer wieder missbilligend und demonstrativ auf die Uhr blickte.
„Das Ganze ist“, hob der Erzähler wieder an, „erst 1986, also 20 Jahre später, herausgekommen. Damals gab es eine große angelegte Tauchexpedition zu den Resten der Wohnbebauung im alten Biggetal. Für viele junge Burschen von damals hatte es eine ungeheure Faszination, in den alten Gemäuern zu tauchen – was ich verstehen kann.
Aber ich schweife ab. Der Herr Wirt wird unruhig, wie mir scheint. Meine Geschichte ist auch bald zu Ende.
Die Häuser in Listernohl und den anderen Dörfern auf dem Grund des Sees waren wegen der jahrzehntelangen Wassereinwirkung stark verfallen und im Grunde eine Enttäuschung für die Taucher – bis auf eines: das von Werner Hauboldt. An ihm war nichts, aber auch gar nichts kaputt, morsch oder sonst wie beschädigt. Hätte man damals die Talsperre trocken gelegt, hätte man – ohne auch nur irgendetwas daran zu tun – sicherlich seine 600 000 DM dafür bekommen. Es hatte die Jahrzehnte im Wasser völlig unbeschadet überstanden. Auf dem Dachboden jedoch machten die Taucher einen grausigen Fund: das Skelett Werner Hauboldts, wie sich anhand späterer Untersuchungen erwies. Er hatte sein Haus, das er so sehr liebte, niemals verlassen. Wie ein Kapitän, der auch sein sinkendes Schiff nicht verlässt. An der Wand stand ein Spruch: ,Die Rache wird ewig mein sein’ oder etwas ähnliches. Nun, das Skelett wurde natürlich geborgen und sorgte einige Tage für sentimentale Artikel in der Lokalpresse. Dann war auch diese Episode in der Geschichte des Biggetals und seiner Talsperre vergessen.“
Der Wirt machte nun endgültig ernst, kassierte bei den drei späten Gästen ab und setzte sie an die Luft.
„Das heißt, es gibt einige wenige Ureinwohner wie mich“, sagte der alte Mann vor der Tür der Gaststätte, „die sie nicht ganz vergessen haben. Wissen Sie, was mich stutzig macht: dass es bereits vor etwa fünf Jahren an exakt derselben Stelle einen Unfall gab, bei dem ein Surfer auf unerklärliche Weise auf Nimmerwiedersehen verschwand und dass heute – wie damals – ausgerechnet eine Vollmondnacht ist. Das erinnert mich an einen Abend hier im Dorfkrug vor einiger Zeit. Wir hatten Zigeuner hier am Ort, was eher selten vorkommt. Eine der Alten war eine Art Wahrsagerin. Und ich hörte, wie sie zu ihren Leuten sagte: ,Lasst uns weiterziehen. Dies ist kein guter Ort. In Vollmondnächten wie dieser ist dort draußen irgendetwas auf dem See, was mir Angst macht. Ein paar Kilometer weiter nördlich ...’ So in etwa waren ihre Worte. Ein paar Kilometer weiter nördlich, dort, wo das alte Listernohl im See versunken ist, dort, wo das Haus Werner Hauboldts stand und heute immer noch steht. Übrigens: Im Jahre 2001, also letztes Jahr, hat es wieder eine Tauchexpedition gegeben. Werner Hauboldts Haus ist nach wie vor vollkommen unversehrt ...“
„Aber eins ist doch komisch“, sagte Martin, der nun zum ersten Mal überhaupt das Wort an den alten Mann richtete. „Wenn doch das Skeletts dieses alten Sturkopfs `86 aus seinem Haus entfernt wurde, warum soll der Kerl danach immer noch herumspuken?“
Der alte Mann zuckte mit den Schultern. „Ich habe an keiner Stelle meiner Geschichte behauptet, dass Ihr Freund heute Nacht Kontakt zu Werner Hauboldt hatte. Das ist Ihre Interpretation.“ Dabei lächelte er hintergründig, zog seinen Mantel enger zusammen, grüßte kurz und machte sich eiligen Schrittes von dannen.

* * *

Am nächsten Tag saßen die Surfer Klaus und Martin schweigend in Martins altem Renault Twingo, während sie die Listertalbrücke passierten. Kein Wölkchen stand am Himmel, und es herrschte Windstille. Der Biggesee lag wie eine spiegelglatte Fläche vor ihnen. An der Stelle, an der sie gestern Nacht gesurft waren, fuhr eine Familie mit ihren drei Kindern in einem Tretboot. Die Kinder warfen sich lachend einen roten Ball zu. Als das Kleinste der Kinder danebengriff, fiel der Ball ein Stückchen vom Boot entfernt ins Wasser.
Martin und Klaus verließen die Brücke, so dass ihnen der Blick auf die Szene im See verstellt wurde. Nun schauten sie wieder auf die Spitze ihrer Surfbretter, die nicht auf das Dach des Twingos passten, so dass sie sie aus dem Wageninnern sehen konnten. Klaus’ Brett war leicht beschädigt. Ein Stück war herausgebrochen. Die entsprechende Lücke hatte sonderbarerweise die exakte Form einer Hand.

© Andreas Schröter 10/2002

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.08 Uhr
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