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November 2002
Der Mann aus dem Moor
von Monique Lhoir


Die Dämmerung war angebrochen. Lara und ihre Mutter saßen in der kleinen, niedrigen Küche. Auf dem Tisch brannte nur eine Kerze.
Lara hatte ihr Strickzeug zur Hand genommen. Ihre Mutter schien eingenickt zu sein. Die Kerze begann zu flackern. Lara blickte auf, starrte auf die Kerze und legte das Strickzeug wieder zur Seite.
"Mutter", sagte sie leise. "Mutter, er ruft mich wieder. Ich muss fort." Sie stand auf, zog sich ihre Jacke über und ging zur Tür.
"Nein", flüsterte ihre Mutter zurück. "Lara, nein. Bleib hier. Geh nicht fort. Es wird ein Unglück geben."
"Aber Mutter, er ruft." Laras Stimme klang eindringlich. Sie war schon hinausgetreten, blickte kurz zurück und sah, wie ihre Mutter mühsam aufstand und zur Tür hinkte.
"Lara", schrie sie verzweifelt hinter ihr her. "Lara. Bleib!"
"Ich muss zu ihm", flüsterte Lara mehr zu sich selbst. "Er ruft mich. Er braucht meine Hilfe."
Wie in Trance lief sie ins Moor hinein. Sie kannte alle Wege, war hier aufgewachsen, wusste genau, wo sie gehen und stehen konnte, alle gefährlichen Stellen waren ihr vertraut.
Langsam ging sie weiter. Ein fast unmerklicher Windhauch streifte ihre Wange, als wollte er sie fassen und immer weiter ins Moor ziehen. Je weiter sie ging, umso stärker wurde der Wind, der sie trieb. Es war jedes Mal das gleiche. Schemenhaft erkannte sie jeden Baum, jeden Strauch, bis sie an den ihr liebgewonnenen Ort angekommen war. Dann ließ sie sich ins weiche, feuchte Moos nieder, starrte aufs Moor und wartete. Wie schon so oft. Nebel stieg auf, wie immer an dieser Stelle und genau zu dieser Zeit.
"Lara ...", hörte sie es flüstern. "Lara ..., hilf mir." Der Wind trug diese Worte zu ihr herüber. Sie wusste, was jetzt passieren würde und blickte weiterhin aufs Moor. Plötzlich zerteilte es sich. Ganz langsam, schemenhaft sah sie ihn aufsteigen. Der Mann aus dem Moor. Dunkel, schwarz, von Morast umgeben.
"Lara...", hörte sie wieder. "Lara ..., hilf mir." Sie stand langsam auf, blickte in seine Richtung. Wartete. Der Mann schwebte nun über dem Moor. In der Hand hielt er ein blitzendes Messer.
"Lara..., Lara ... hilf mir", hörte sie es nun lauter und der Mann schien ihr das Messer zuwerfen zu wollen. In diesem Augenblick blies eine heftige Windbö in seine Richtung, das Messer wirbelte durch die Luft und traf den Mann im Moor mitten in die Brust.
"Lara...!", sie hörte nur noch den verzweifelten Schrei, sah wie tiefrotes Blut hervorquoll und der Mann gurgelnd im Moor versank.
Traurig senkte sie ihren Blick und eilte zurück zu ihrem Häuschen am Moorrand.
Als sie die Stube betrat, sah sie ihre Mutter zusammengesunken und weinend auf dem alten Sofa sitzen.
"Mutter", flüsterte sie. "Mutter, ich bin wieder zurück." Sie strich ihr sanft und beruhigend über die Schultern, die so klein und eingefallen waren, und legte ihre Wange an die Wange der Mutter.
"Hast du ihn gesehen?", fragte die Mutter ängstlich. "War er wieder da?"
"Ja, Mutter. Und er rief meinen Namen."
"Lara, geh nicht mehr hin. Geh nicht mehr ins Moor. Es wird ein Unglück geben."
"Mutter", beruhigte Lara. "Er ruft mich. Er tut mir nichts. Er ist mir so vertraut. Er bittet mich um Hilfe und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann. Ich muss es herausfinden."

Lara ging in ihr Kämmerchen und legte sich schlafen. So lange sie denken konnte, war ihre Mutter in diesem elenden Zustand, krank und gebrechlich. Anfangs lebte noch die Großmutter gemeinsam mit ihnen in der kleinen, dunklen Hütte am Moorrand, doch als Lara zwölf Jahre alt wurde, verstarb diese. Seitdem pflegte Lara ihre Mutter, die immer gebrechlich war.
Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte sie oft nachgefragt, ob sie auch einen Vater hätte und wer er sei, und warum sie nicht in die Dorfschule gehen dürfe, so, wie die anderen Kinder auch. Jedes mal, wenn sie danach fragte, weinte ihre Mutter und die Großmutter gab keine Antwort, kniff nur verbittert den Mund zusammen. Irgendwann fragte sie nicht mehr danach, nahm ihre Situation als gegeben hin.

Bald schlief Lara ein. Sie wusste, das der nächste Tag wie der vorhergegangene verlaufen würde, mit dem kleinen Unterschied, dass es ihr zwanzigster Geburtstag sein würde.
Am Vormittag hatte sie bereits einen Kuchen gebacken, die Stube etwas hergerichtet und zum späten Nachmittag den Tisch gedeckt. Ein wenig wollte sie mit Mutter ihren Geburtstag feiern, auch wenn keine Gäste kamen. Es kamen nie Gäste. Sie half ihrer Mutter vom Sofa hoch und begleitete sie stützend an den Küchentisch, schenkte Kaffee ein und reichte ihr ein Stück des Kuchens. Verstohlen reichte ihre Mutter ihr ein kleines Herzmedaillon herüber. Lara blickte erstaunt auf. Mit einem Geschenk hatte sie wirklich nicht gerechnet, dazu reichte nie das Geld.
"Was ist das?", fragte sie und ließ es durch ihre Hand gleiten.
"Öffne es, Kind", sagte Laras Mutter sanft. Sie drückte auf einen kleinen Knopf und das Medaillon sprang auf. Ein junges, glückliches Paar schaute ihr entgegen. Die junge Frau sah ihr sehr ähnlich, hatte die gleichen langen, dunklen Locken wie Lara. Sie blickte fragend ihre Mutter an.
"Ja, die junge Frau bin ich", sagte ihre Mutter und Lara sah sie zum ersten Mal in ihrem Leben lächeln.
"Und der junge Mann ..., das ist dein Vater."
Lara starrte auf das Bild, dann umschloss sie mit ihrer Hand das Medaillon und flüsterte: "Vater, zum ersten Mal sehe ich meinen Vater."
Lara sah ihre Mutter abwartend an.
"Mutter", sprach sie leise weiter. "Mutter, was ist damals passiert im Moor. Wovor hast du solche Angst? Du und Großmutter, ihr habt mir nie etwas gesagt, wenn ich euch gefragt habe. Aber jetzt bin kein Kind mehr."
"Ich weiß es nicht genau", erwiderte ihre Mutter leise. "Es muss etwas Schreckliches passiert sein. Ein Unglück. Niemand konnte mir etwas sagen."
"Mutter, sage mir was passiert ist. Ich muss es wissen. Es hängt mit dem Mann im Moor zusammen, nicht wahr?", fragte Lara aufgeregt.
"Es war vor über zwanzig Jahren. Dein Vater und ich heirateten heimlich, da ich mit dir schwanger war, aber keiner durfte es wissen. Deshalb zogen wir in diese einsame Hütte ans Moor, wo niemand herkam, nur deine Großmutter wusste davon. Ich war von Anfang an, das war damals so üblich, dem Anton Meir versprochen, dem Sohn des Großbauern aus unserem Dorf. Aber ich liebte ihn nicht, sondern deinen Vater."
Laras Mutter senkte ihre fast durchsichtig erscheinenden Lider und schwieg. Lara wartete, bis ihre Mutter weiter sprach.
"Es war kurz vor deiner Geburt. Dein Vater arbeitete im Moor. Ich war hier allein, es war bereits dämmrig. Nur eine Kerze stand auf dem Tisch. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Das Kerzenlicht flackerte durch den Windstoß, der von der Tür herein kam. Es war Anton. Er war wütend.
'Ah, hier steckst du, du Flittchen', und er zerrte mich zu sich heran. Dann sah er, dass ich hochschwanger war und sein Gesicht verfärbte sich hochrot. 'Wo ist der Kerl, der mir das angetan hat?', brüllte er und rannte ins Moor. Ich kannte Antons Jähzorn und lief hinter ihm her."
Laras Mutter schwieg.
"Weiter, Mutter", sagte Lara eindringlich. "Was passierte weiter?"
"Ich erwachte im Krankenhaus. Deine Großmutter war bei mir. Sie erzählte, ich müsse gefallen sein und der Sturz habe die Geburt ausgelöst. Großmutter hätte mich nach Stunden ohnmächtig gefunden. Sie konnten dein Leben retten, aber ich würde nie wieder richtig laufen können. Ein Bein blieb steift, da die Nerven zerstört waren."
"Und Vater?", fragte Lara gespannt.
Ihre Mutter schwieg. Ein paar Tränen liefen ihr die Wangen hinunter. Sie sank noch mehr als sonst in sich zusammen.
"Ich habe ihn nie wieder gesehen", sagte ihre Mutter leise. "Auch Anton ist seit diesem Tage verschwunden und der Großbauer Meir machte mich und Großmutter dafür verantwortlich. Im Dorf erzählten sie dann, du seiest ein Bastard, eine Hexe, in Unehre geboren und würdest nur Unglück bringen. Dein Vater hätte Anton getötet. Aber es geht die Mär um, dass einige von den Alten Anton im Moor gesehen hätten."

Lara schwieg betroffen. Ihre Mutter war wieder in ihren Gedanken versunken, wie meistens, schaukelte traumverloren hin und her und flüsterte leise in ihrem Sing-Sang vor sich hin: "Und ich habe ihn gesehen, ... ich habe ihn gesehen, den Anton. Oft habe ich ihn gesehen in den letzten Jahren. Und ich spüre es. Er schleicht nachts ums Haus. Immer wieder schleicht er ums Haus."
Lara hörte gar nicht mehr zu, öffnete ihre Hand, in der sich das geöffnete Medaillon befand, und starrte auf das Bild.
"Vater", flüsterte sie. "Vater!"
Die Kerze begann zu flackern, wie jeden Abend in letzter Zeit.
"Lara...". Sie hörte wieder die Stimme. "Lara ... hilf mir!"
"Vater?", fragte sie leise in den Raum.
Laras Mutter öffnete die Augen.
"Mutter, er ruft mich wieder", sagte Lara und nickte ihr beruhigend zu. "Ich muss ihm helfen!"
"Nein, geh nicht fort. Bleib hier. Er will dich. Er will dich haben, weil er mich nicht bekommen hat. Ich spüre es, ich weiß es."
Lara ging zur Tür.
"Lara, bleib hier. Es geschieht sonst noch ein Unglück! Ich will dich nicht auch noch verlieren!" Ihre Mutter schrie so kraftvoll, wie Lara es noch nie von ihr vernommen hatte.
"Mutter, es wird mir nichts passieren. Er wird mich beschützen."
Lara lief ins Moor. Ihren gewohnten Weg, den sie so gut kannte. Sie musste sich beeilen, sie spürte es, es war Zeit. Die Dämmerung war schon weit fortgeschritten, sie war heute zu spät dran, sie hatte das Flackern der Kerze zu spät beachtet.
Außer Atem kam sie an ihrem Stammplatz an, ließ sich ins weiche Moos nieder. Gleich würde er erscheinen. Wie immer.
"Lara ...", hörte sie. "Lara." Aber klang es nicht anders als sonst? Sie schaute aufs Moor.
"Lara ...", sie hörte die Stimme, aber sie sah nichts. "Lara, hier bin ich", sagte plötzlich jemand hinter ihr laut und lachte schallend.
"So, nun habe ich dich. Ich habe lange warten müssen, mein Täubchen. Nicht wahr? Bis du zur vollen Blüte herangereift bist. Jetzt ist es soweit und nun bist du mein." Lara schaute sich entsetzt um.
Ein stämmiger Mann zog sie hoch und unterdrückte ihre Schreie mit einem heftigen Kuss auf ihren Mund. Dann riss er ihre Bluse auf und den Rock herunter.
"Du gehörst mir, so wie du mir versprochen warst", sagte der Mann. "Hier und jetzt. Und gewöhnlich nehme ich mir, was mir gehört."
"Wer sind sie?", schrie sie entsetzt.
"Wer ich bin?", sagte der Mann und zerrte weiter an ihren Kleidern. "Hat deine Mutter dir nicht von mir erzählt? Sie war mir versprochen, sie gehörte mir und du wärest meine Tochter. Aber sie wollte es ja anders, dieses Flittchen."
Er schmiss Lara zu Boden und presste ihre nunmehr entblößten Schenkel auseinander.
"Vater ...", schrie Lara verzweifelt. "Vater ... hilf mir!"
"Schrei ruhig, der wird dich niemals hören. Dieses Schwein habe ich schon vor deiner Geburt aus dem Weg geräumt."
"Vater ... hilf mir!" Ihre Stimme versagte.
"Lara?"
War das nicht die Stimme ihrer Mutter? Wie kam ihre Mutter hierher? Wie hatte sie diese Energien aufgebracht?
"Vater ..., Mutter ..., helft mir." Lara wimmerte.
Der Mann ließ von ihr ab.
"Ah, du bist auch hier, du Hure? Dann habe ich ja beide zusammen. Mutter und Tochter. Zwanzig Jahre habe ich auf diesen Zeitpunkt gewartet. Zwanzig Jahre habe ich euch beobachtet. Habe im Moor gelebt und nur auf diesen Augenblick gewartet.", und ein boshaftes Lachen entrang sich seiner Kehle.
Lara richtete sich benommen auf, sah den Nebel aufsteigen, sah, wie sich das Moor teilte und der Mann aus dem Moor schemenhaft, riesengroß und gewaltig emporstieg. Sein Messer blitze auf.
"Lara ...", rief er. "Lara!"
"Vater, hilf uns", schrie sie verzweifelt, als sie sah, wie der Kerl ihre Mutter packte und zu Boden schmiss. Eine heftige Windbö fegte durch die Luft, entriss dem Mann aus dem Moor das Messer und schleuderte es in ihre Richtung. Dann herrschte eine unheimliche Stille. Kein einziger Windhauch war mehr zu spüren. Nur noch Stille.
Lara raffte ihre Kleidung zusammen und lief zu ihrer Mutter. Beide starrten auf den Hünen, der am Boden lag. Tod. In den Händen hielt er ein blutverschmiertes Messer. Niemand konnte sich erklären, wie es in seine Hände gekommen war.
"Lara...", kam es leise und sanft vom Moor. "Lara ...".
"Vater", schrie Lara zurück. "Vater, bleib."
Der Mann aus dem Moor schien ihnen zuzuwinken und Lara meinte, sogar ein Lächeln erkennen zu können. Dann verschwand er gurgelnd in seinem Grab.
"Er hat sich gerächt. Nun weiß ich, was damals passiert ist", sagte Laras Mutter und weinte die ersten erlösenden Tränen.

Die Obduktion ergab, dass Anton Meir an Herzversagen gestorben war. Bei dem Messer, das er noch in seinen Händen hielt, handelte es sich um das alte Torfmesser von Laras Vater, womit erwiesen wurde, dass Anton ihn ermordet hatte. Trotz ihrer Rehabilitierung blieben Mutter und Tochter in ihrer Hütte am Moorrand wohnen.
Laras Mutter blühte wieder auf, seitdem sie wusste, wo sie ihre Liebe treffen konnte. Täglich in der Abenddämmerung gingen Lara und ihr Mutter ans Moor, um dort frische Blumen niederzulegen.
Jeden Abend streifte sie ein leiser, zärtlicher Windhauch. "Lara ...!", und schemenhaft konnte sie den Mann im Moor erkennen - ihren Vater, der ihr lächelnd zuwinkte.

© Monique Lhoir (2002)

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.27 Uhr
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