Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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November 2002
Vergessen
von Renate Eckert


Mein Mann hat mich verlassen, hat einfach gesagt, ich habe eine andere, ich will dich nicht mehr, das was war, bedeutet mir nichts mehr, sagte er und da kam dieser Schmerz, dieser Wahnsinnsschmerz, dieser Abgrund von Schmerz, und die Wut, diese fassungslose, hilflose, ohnmächtige Wut, es ist vor Wochen oder vor Tagen gewesen, ich weiss es nicht mehr, ich will vergessen, was war, die Tabletten helfen mir dabei, ich muss es vergessen, aber was muss ich vergessen, auch das weiss ich nicht mehr und es ist besser so, das weiss ich und die Zeit vergeht, vergeht sinnlos, ohne Unterschied, ohne ein Du, ohne Tag ohne Nacht, einer wie der andere, graukalt, erstickend, es regnet immerzu in mir, ich lebe nicht wirklich, bin auch nicht wirklich tot, will vergessen, aber was?
Meine Gefühle mein Verstand, alles liegt begraben unter einer schweren, muffigen Filzdecke aus Traurigkeit, Erschöpfung und diesen Medikamenten, die mir helfen, zu vergessen, aber was? Was nur will ich vergessen und kann es nicht, da ich nicht weiss, was?
Ich kann mich nicht bewegen, liege wie gelähmt einfach darunter unter dieser dicken, heißen Filzdecke, nicht tot, nicht lebendig, wie lebendig begraben. Nasser Filz auf meinem Gesicht, ich kann kaum atmen, die Tränen laufen und laufen sinnlos, ich weiss nicht warum, ich muss es vergessen, aber was?
Ich stehe auf, muss auf die Toilette, schlafwandle ins Bad, die Dusche, die Badewanne seit Tagen unbenützt oder seit Wochen, ich weiss es nicht mehr. Die Tränen laufen weiter, nur zurück ins Bett, nur liegen, nur vergessen. Aber was?
Trinken, ich muss etwas trinken, muss noch mal aufstehen, ich kann nicht, bin erschöpft, bleibe liegen. Stunden oder Tage später, ich weiss es nicht mehr, stehe ich auf, versuche von der bleiernen Umarmung des Bettes loszukommen, lass mich zurücksinken, mein Bett, meine Zuflucht.
Nochmals Stunden oder Tage später, wer weiss, ich stehe auf, langsam, mühsam, alles tut weh, mein Mund ist so trocken, ich muss trinken.
Die Küche, wie lange war ich nicht in der Küche, Tage, Wochen, auch das habe ich vergessen, warum habe ich Angst, in die Küche zu gehen, vor was habe ich diese grauenhafte Angst?
Und dann mache ich doch die Tür auf und der ganze Boden ist in Bewegung. Maden, lauter fette Maden, der ganze Boden ist bedeckt mit wimmelnden weißen Maden und aus dem riesigen Abfallsack neben der Türe kommen mehr und mehr und es stinkt grauenhaft und es wimmelt und es stinkt und wimmelt und Tränen des Ekels und auch der Angst schießen mir in die Augen und die Tränen laufen und laufen, es würgt mich, dieser wahnsinnige Brechreiz, würgen, ich muss brechen, würgen, keine Luft mehr, Brechreiz, was ist geschehen, ich weiss es nicht mehr, ich muss es vergessen, will es vergessen.
Aber der Sack, der riesige Abfallsack, etwas dämmert mir, der Ekel weckt mein betäubtes Gehirn und die Erinnerung will zur Oberfläche, aber ich muss vergessen, ich will nicht wissen was, aber es ist zu spät, der Ekel hat die Erinnerung geholt und sie kommt langsam und unbarmherzig an die Oberfläche, wie eine aufgedunsene Leiche hochtrudelt aus einem schwarzen kalten See im Wald und der Sack, und die Hand, die mit Maden bedeckt aus dem Sack fällt und die Axt inmitten der Maden, bedeckt von Maden, mein Gott, die Axt, ich will vergessen, ich will vergessen, und ich weiss jetzt auch was.
Zurück, nur zurück in mein Bett, meinen Schutz, meine Rettung. Taumelnd vor Ekel und Angst finde ich es wieder, falle hinein, Decke über den Kopf. Angst, soviel Angst. Schweißbedeckt friere ich unter der Decke, Zähneklappern, unkontrollierbar, Herzrasen, Atemnot, Angst, soviel Angst.
Eine Beruhigungstablette, nein zwei, ja, dann wird es schnell besser werden, sie werden mich erlösen von der Angst, es geht schnell, sie lösen sich auf in meinem trockenen Mund und ich werde ruhiger, falle in einen unruhigen Dämmerschlaf, tauche ab in ein dunkles Meer von künstlicher Ruhe.
Aber da, da ist etwas... Sturm kommt auf. Seltsame, laute Geräusche ängstigen mich, es poltert, pfeift, keucht. Es ist laut, so schrecklich laut und so fremd und ich suche Schutz unter meiner Decke. Ströme von Angstschweiß brechen aus allen Poren. Einen angstvollen Blick wage ich, sehe das Fenster, den Nussbaum davor, aber seltsam, er bewegt sich nicht, totenstarr und schwarz ragen seine Äste in den fahlen Himmel. Aber der Sturm, der Sturm?
Da sind sie wieder, diese absonderlichen Geräusche, dieses Schlurfen und Keuchen, es kommt näher und näher, und mit einem harten Knall springt die Schlafzimmertüre auf und er steht da, nahezu unkenntlich die Gestalt, das Gesicht unter den wimmelnden Maden, die Axt steckt noch in seinem Nacken, näher, näher kommt diese grauenhafte Gestalt und ich schreie und schreie, meine Kehle schmerzt, ich schreie, er kommt näher und näher und er streckt seine Arme aus, diese stinkenden, von Maden bedeckte Arme und diese Hände, diese grausigen Hände...
Ich fühle die Ohnmacht kommen, lasse mich hineinfallen und sie umfängt mich schwarz und rettend.

(c) Renate Eckert

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.37 Uhr
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