Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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November 2002
Ein Stück Fell
von Petra Ottkowski


Das kleine Stück Fell lag weich in ihrem Handteller. Das abgerissene Stofftierohr war ihr von allen Fundstücken das Liebste. Während ihre rechte Hand die Maus umschloss, mit der sie routiniert die Illustrationen auf dem Monitor verschob, griff Ina immer wieder unter den Samtstoff in der kleinen Schachtel. Ihre Finger tasteten über verschiedenste Oberflächen, über die schrundige Trockenheit eines alten Brötchens, freuten sich an der Kühle der Glasmurmeln, griffen nach den Handschmeichlern, doch die sanften Rundungen des warmen Holzes beruhigten sie diesmal nicht.

Selbst das Essen tröstete sie nur wenig. Jetzt knabberte sie lustlos an dem säuerlichen Apfel, den sie aus ihrer Tasche gekramt hatte, ihr eingepackter Nachtisch vom Mensaessen mit inzwischen vielen Druckstellen. An einer Seite mußte sich der Anspitzer oder etwas ähnlich Scharfkantiges durch die verletzliche Schale gebohrt haben. Hoffentlich keins der Bücher. Sie gehörten dem Leiter der Blindenschule, für die sie die Broschüre erstellte, und es wäre ihr unangenehm, sie mit angetrocknetem Apfelmatsch zurückzugeben, auch wenn Herr Büttner die Beschädigung nicht sehen konnte. Sie hatte ihn schon am Telefon enttäuscht, weil die Broschüre erst eine Woche später fertig würde.

Sie verschwieg, dass es sich nicht um eine Verzögerung im eigentlichen Sinn handelte. Aber hätte sie ihm vielleicht sagen sollen, dass drei Wochen vor Drucklegung das komplett gesetzte Manuskript verschwunden war? Als sie am Dienstag voller Vorfreude den kleinen Nebenraum ihres Klassenraumes betreten hatte, mußte sie beinahe heulen, als sie die verwaisten Tische sah. Dabei bezog sich die Geschicklichkeit des Diebes wohl eher auf sein eigenes Terrain: Ohne sichtbare Spuren an Fenster und Türen hatte er das gesamte Computerinventar mitgenommen - selbst den nur als Schreibmaschine benutzten 4-86er aus einer Wohnungsauflösung. Aber die gerade erst angeschafften webcams und vor allem der tageslichttaugliche Beamer lagen weiterhin unangerührt in ihren Verpackungen.

Es war ihre erste Nacht in der Hochschule und sie war sich der Gefahr durchaus bewußt. Wer hier nach halb eins erwischt wurde, mußte mit einem Rauswurf rechnen. Der Dekan brachte jeden "Übernachtungsgast" mit den immer häufiger auftretenden Diebstählen in Verbindung. Aber ihre Angst, die Blindenschule zu enttäuschen, war größer.

Kurz vor Ladenschluß war sie noch schnell in den nächsten Supermarkt gestürzt, und hatte mehr eingekauft als ursprünglich geplant. Sandy hatte sie aufgehalten. Während sie sich sonst meist sehr über Sandys Überraschungsbesuche freute, erwischte sie sich diesmal, wie sie verstohlen auf die Uhr schaute. Dabei ging es nicht nur um den Eine-Welt-Kreis, dem sie beide angehörten. Sandy hatte Probleme mit ihrer Freundin und jetzt tat es Ina leid, dass sie Sandy nicht richtig zugehört hatte. Aber sie war zu sehr beschäftigt mit ihren Nachtvorbereitungen und ihrem Einkaufszettel.

Inzwischen waren Inas Vorräte fast aufgebraucht und sie überlegte, wie sie sich den Rest bis morgen früh einteilte. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, wollte sie zumindest nicht hungern. In einem Anfall von Lustlosigkeit hatte sie die gesamte Chipstüte geleert. Das Setzen nahm ihre Konzentration voll in Anspruch und sie bemühte sich, nicht vom Bildschirm aufzusehen. Der Raum war schon bei Tag ungemütlich, das änderten nicht einmal die zahlreichen, etwas wahllos verteilten Zimmerpflanzen. Aber in der Nacht verfestigte sich die Schwärze hinter den Fenstern, aus der nur die lichtbeschienenen Kronen der Kindergartenbäume vertraut aufleuchteten. Es war unheimlicher, als sie geglaubt hatte. Der Pförtner müßte inzwischen längst zu Hause im Bett liegen. Sie bräuchte nicht mehr im Dunkeln zu hocken. Wem sonst würde es auffallen, wenn in der dritten Etage noch Licht brannte? Zumindest die kleine Klemmleuchte neben dem Monitor könnte sie einschalten.

Niemand wußte, dass sie hier war. Vielleicht übernachtete irgendwo in diesem Haus noch ein anderer Student. Einer, der sich mit seinem Schlafsack zwischen Farben und Staffelei gerollt hatte. Bei den Malern sollte es einige geben, die so das Geld für die Miete sparten. Ihr Rücken war mittlerweile völlig verspannt. Ina fand es anstrengend, sich im Dunkeln auf den winzigen Ersatz für den gestohlenen Zweiundzwanzig-Zoll-Monitor zu konzentrieren und ihre Augen begannen zu schmerzen. Sie versuchte es mit einem Entspannungstrick und hielt ihren nach oben gerichteten Daumen in die Helligkeit des Bildschirms. Ihr Handrücken leuchtete fahl auf, und die Silhouette ihrer Faust schob sich dunkel vor die vibrierenden Buchstaben. Abwechselnd ließ sie Hand und Schrift verschwimmen, doch der Wechsel zwischen Fern- und Nahsehen erholte ihre Augen nicht. Fast fürchtete sie sich vor ihrer eigenen Faust. Eigentlich könnte sie eine richtige Pause gebrauchen. Sie beschloß zu duschen und holte ihr eingerolltes Badetuch aus dem Spind.

Das warme Wasser tat gut und Ina wusch ihre langen Haare gleich mit. Das Duschwasser lief nicht ab, sondern sammelte sich in einem kleinen See zu ihren Füssen. Genaugenommen war es nur ein Behelfsbad und selten in Gebrauch. Die Putzfrauen zogen sich hier um und im Regal stapelten sich die Kanister mit den Reinigern. In der Lichtlosigkeit hatte sich mangels Belüftung der Schwamm ausgebreitet; wie stecknadelgroße, miniaturisierte Blumenköpfe wuchsen zerbrechliche Gebilde aus dem Putz, die bei Berührung pulvrig zerfielen. Während das warme Wasser langsam ihre Schultern lockerte, unterdrückte Ina wie immer den zwingenden Wunsch, die Wand zu perforieren. Das Shampoo in ihrem Haar war noch gar nicht ausgespült, als ein lauter werdendes Quietschen sie zusammenzucken ließ. Der Fahrstuhl! Wer fuhr um diese Zeit noch damit hoch? Der Hausmeister hatte ihn schon vor Stunden abgestellt – damit nicht irgendein trödeliger Student eine halbe Stunde vor Nachtschluß darin stecken blieb. Als sie ängstlich nach dem Lichtschalter suchte, stieß sie versehentlich an den Mischhebel der Dusche und ein heftiger Verbrühungsschmerz durchfuhr sie höchst unangenehm in der folgenden Finsternis. Sie sehnte sich nach kühlendem Wasser, traute sich aber nicht, die Dusche weiter laufen zu lassen. So stand sie, zitternd, die Füsse im lauwarmen Wasser und lauschte den näherkommenden Schritten.

Mittlerweile war das Wasser abgelaufen und sie spürte die Kälte der Fliesen, aber der Pförtner oder wer immer hier etwas suchte, war nicht zurückgekehrt. Sie konnte nicht die ganze Nacht in der Dusche stehen. Außerdem bestand die Gefahr, dass er sie auf dem Rückweg doch noch entdeckte. Dass er sie sah: Nackt. Frierend. Sie würde sich anziehen und sich entschuldigen. Dann würde er sie nach unten begleiten, die große Eingangstür öffnen und sie wäre draußen. Für immer.

Sie stolperte die rutschigen Stufen des Podestes hinunter und ein Teil ihrer Kleider fiel auf den nassen Boden, als sie den Stuhl verfehlte, auf den sie ihre Sachen gelegt hatte. Handtuch und Seife vergaß Ina, als sie in feuchten Socken vorsichtig die Tür öffnete. Im Flur war es dunkel. Sie horchte, aber da war nichts. Vielleicht war er schon weg. Vielleicht saß er im Klassenzimmer und blätterte in ihrem Kalender, der geöffnet auf dem Tisch lag. Dann konnte er auch gleich die Schwimmbadfotos begaffen, die sie und Sandy im Badeanzug zeigten und später oben ohne auf der Wiese. Er wußte, wer sie war. Er kannte die Form ihrer Brüste und selbst das winzige Muttermal unter Sandys Schlüsselbein. Vielleicht schlug er ihr einen kleinen Tausch vor.

Ina lief zu dem tröstlichen Licht, das aus dem Aufzug kam. Er stand noch in ihrer Etage. Sie berührte die Tür und wußte, dass sie einen Fehler machte, wenn sie nicht ins Klassenzimmer zurückkehrte. Wahrscheinlich betätigte sich der Pförtner wieder einmal nur als Detektiv und freute sich, einen zweiten Computerdieb zu erwischen. Vor zwei Monaten war ihm tatsächlich mal einer ins Netz gegangen. In dem Fall sogar eine Diebin. Chiara aus der Videoklasse, chaotisch, nett, die blonden Rastalocken meist hochgesteckt. Ina konnte schwer nachvollziehen, warum Chiara einen Rechner abgestöpselt und in ihrem großen Armeerucksack verstaut hatte. Noch merkwürdiger war, dass sie ihn nicht einfach tagsüber hatte mitgehen lassen. In der Mittagspause war selten jemand da.

Ina betrachtete die Anzeigetafel des Aufzugs. Eigentlich war es egal, welchen der rotleuchtenden Knöpfe sie drückte. Sie konnte nirgends hin. Gleich, in welcher Etage sie ausstieg, sie käme doch nur bis zu einer verschlossenen Glastür, hinter der unerreichbar das rettende Treppenhaus lag. Dann konnte sie gleich hier bleiben und die ganze Nacht hoch-und runter fahren, bis um 6.00Uhr – dann kämen die Putzfrauen. Aber was wäre, wenn es dem Pförtner gelänge, schon vorher, von außen den Fahrstuhl zu rufen? Eigentlich mußte er sich gar nicht die Mühe machen, trug er doch immer den Generalschlüssel bei sich. Er könnte einfach den Strom abstellen und sie im Dunkeln in irgendeiner Zwischenetage hängen lassen. Am nächsten Morgen würde man die Tür aufmachen und sie säße verängstigt neben einer Pfütze auf dem Boden.
Am meisten mißfiel Ina die Vorstellung, dass Sandy davon erfahren könnte. Ihre kleine Halbschwester bewunderte beinahe alles, was sie tat. Vielleicht lag das daran, dass sie sich erst seit vier Jahren kannten. Seit ihr gemeinsamer Vater mit Sandy nach Deutschland zurückgekehrt war, ohne die kleine Französin, deretwegen er ihre Mutter vor fünfzehn Jahren verlassen hatte.

Ina verließ ihr fahrendes Gefängnis in der fünften Etage. Der Flur lag vor ihr, schwach beleuchtet durch eine lange Fensterreihe, wie in einem klösterlichen Wandelgang. Links führte er zum Treppenhaus, das schemenhaft durch die Glastür sichtbar wurde. Ina wußte nicht, warum sie gerade hier ausgestiegen war. Zunächst hatte sie das Parterre anvisiert, bis ihr eingefallen war, dass dort nach der Renovierung des Mittelflügels die neuen Fenster mit Schlössern versehen worden waren. Zweifellos eine Reaktion auf die wiederholt vorgefallenen Diebstähle. Ina wandte sich nach rechts und lief an den verschlossenen Klassentüren vorbei. Wenn er sie schon holen wollte, dann konnte er sich wenigstens ein bißchen dafür anstrengen.

Der Flur machte einen Knick und sie erinnerte sich, dass an seinem Ende ein zweites Treppenhaus anschloss. Wie hatte sie das vergessen können? Während sie sich mittlerweile gar nicht mehr leise der hölzernen Verbindungstür näherte, hoffte sie inständig, dass diese bei der nächtlichen Schließrunde übersehen worden war. Ina jubilierte über die Nachlässigkeit des Pförtners, als sie ungehindert in den Ostflügel gelangte. Der Akademiekomplex besaß einen H-förmigen Grundriß, wobei der kurze Mittelflügel zwei Gebäudeteile verband, die seit Kriegsende verschiedene Institutionen beherbergt hatten. Die Ballettschule hatte nach Ausbombung ihres alten Quartiers den Ostflügel bezogen, nicht ohne ihn vorher durch Zumauern vom Rest der Hochschule zu separieren. Aber unter dem Dach, in der fünften Etage bestand weiterhin eine Verbindung.

Die ehemaligen Waschräume der Tänzer hatte man in ein Fotolabor verwandelt, dieses aber später stillgelegt:Schon lange arbeiteten die Fotografen jetzt im Keller. Im rötlichen Licht der neuen Lampen konnte man auf angenehmere Weise zuschauen, wie in den Schalen plötzlich Gesichter oder andere Dinge auftauchten.

Ina war schon seit mindestens zwei Monaten nicht mehr hier gewesen. Seit der Präsentation, zu der man die Verlängerungskabel hatte mitnehmen müssen, weil irgendein Student die letzten Neonlampen abmontiert hatte. Jetzt konnte sie sich kein besseres Versteck vorstellen, obwohl sie sich nicht sicher war, ob der Pförtner sie überhaupt suchte.

Der noch während seiner Benutzung stets staubige Laborkomplex bestand aus winzigen Räumen, die enfiladenhaft ineinander übergingen. Manchmal fand im vorderen Teil noch irgendeine kleine Party statt. Der hintere Bereich war abgesperrt, obwohl er eine kleine architektonische Besonderheit aufwies: ein runder Raum, von dem man erzählte, dass sich über ihm früher eine Glaskuppel wölbte, eine verkleinerte Ausgabe der Zitronenpresse auf den Brühlschen Terrassen.

Ina hatte das Labyrinth zum ersten Mal auf einem Akademiefest kennengelernt, lange bevor sie selbst hier studierte. Sie hatte damals noch vom eßbaren Stuck des Eingangsportals geknabbert, den sie in den Händen hielt, als sie eher versehentlich den Parcours der Sinne betrat. Jemand drückte ihr eine winzige Taschenlampe in die Hand. Zusammen mit einem leidenschaftlich knutschenden Liebespaar wagte sie sich sie sich hinter den schwarzen Vorhang. Der Lichtkreis der ausgeliehenen Taschenlampen war nicht größer als ein Centstück und in dem Meer orangefarbener Punkte war manchmal sekundenlang ein Gesicht aufgetaucht. Sie hatte versucht, sich an den Wänden zu orientieren. Damals hatten ertastbare Wegweiser sie immer tiefer in die Finsternis gezogen. Ihre Finger waren über Holz und Watte geglitten, über einen feuchten Schwamm und häßlich quietschendes Styropor, bis sie plötzlich in etwas Weichem versanken. Die ganze Wand war mit Fell tapeziert, ein runder Pelzraum, mit mehreren Durchbrüchen, in dem Ina die Orientierung verlor. Schreiend war sie am Eingangstisch wieder aufgetaucht, wo die Karten abreissenden Studenten sie besorgt betrachtet hatten.

Jetzt wünschte Ina sich Christian herbei, ihren damaligen Beschützer, der sich aus der Reihe der auf ihre Taschenlampe wartenden Neuankömmlinge gelöst hatte, um sie zu trösten. Er könnte sie verteidigen. Er würde ihr die Angst nehmen, die sie hier in der staubigen Dunkelheit ansprang wie ein Tier. An seiner Seite hatte sie sich damals, an jenem Nachmittag ein zweites Mal in die Ausstellung gewagt. Er hatte ihre Hand erst losgelassen, als sie in die plötzliche Helle des Kuppelraumes traten. In der Mitte stand ein Thron. Christian hatte sich übermütig hineinfallen lassen und während er sie danach selbstverliebt angrinste, senkte sich von oben ein Ring aus Stahl auf ihn herab. Eine frei schwebende Krone in deren Glitzerlicht sich bonbonfarbene Glassteine drehten, die bunte Reflexe über Christians Gesicht wandern liessen. Sono il rei! Doch Ina hatte nur auf die in abwechselnden Farben aufleuchtenden Mitesser geachtet, auf Christians im fahlen Licht so grobporige Haut und sie hatte sich von ihm abgewandt.

In ihrer jetzigen Einsamkeit wünschte sie ihn sich verzweifelt herbei. Er wäre ihr etwas pummeliger Engel, der ihre Hand hielt, der sie vor allen Pförtnern dieser Welt beschützte. Der ihr die Langeweile vertrieb mit ein paar aufregenden Spielchen. Schade, dass sie ihn nicht später kennengelernt hatte. Jetzt wüßte sie seinen handfesten Pragmatismus mehr zu schätzen. Und auch im Bett wäre er nicht einer, der von ihr verlangte, dreimal in der Nacht aufzustehen und sich die Zähne zu putzen. Vor allem sehnte sie sich nach seinem kühlen Verstand. Da ist niemand. Das ist nur Deine Phantasie. Und sie dachte an Sandy, die sie damals vor fünf Jahren noch gar nicht gekannt hatte. Sandy wäre von Christian begeistert gewesen, aber vor allem von dem ganzen Glitzer und Gefunkel, das jede Perlen und kitschige Zopfspangen liebende Zehnjährige in einen wahren Freudenrausch gestürzt hätte.

Was Sandy wohl jetzt machte? Sandy war bestimmt noch auf der Eine-Welt-Kreis-Party. Ina stellte sich den häßlichen Gemeindekeller vor, die komische Grünlilien in Margarinedosen vor dem Fenster, die gehäkelten und gestrickten Kissenbezüge auf der Couch, die merkwürdige Mixtur aus schiefen, selbstgebastelten Tonbechern und neu angeschafften Diddl-Tassen, aus denen jetzt sicherlich ein verspäteter Glühwein getrunken wurde. Die Kids standen auf soetwas. Glühwein im Sommer. Ob Sandy sich gerade von einem pickligen 15jährigen küssen ließ oder vielleicht noch etwas mehr?

Aber bevor Ina sich weiteren Vorstellungen über das Liebesleben ihrer kleinen Schwester hingeben konnte, klingelte es in der Brusttasche ihrer Latzhose. Sie hatte ihr Handy doch auf Vibrationsalarm eingestellt! Das plötzliche Geräusch in der Dunkelheit ließ ihre Angst wieder aufleben. Sie hörte ihr eigenes Herz klopfen, sie fischte nach dem winzigen Telefon, das unterdessen einfach weiter piepte. Warum mußte sie immer soviel mit sich rumschleppen! Wenn nicht nur sie das Klingeln gehört hätte! Immerhin hatte der Jeansstoff den Ton etwas gedämpft. Es war Sandy. Sandy, mit ungewohnt betrunkener Stimme. Sandy, Liebes. Ina wurde zärtlich ums Herz. Die Kids schienen noch kräftig zu feiern. Im Hintergrund hörte sie jetzt ein merkwürdiges Jammern. Sandy schien sich nicht daran zu stören: "Das ist nur Patricia. Ihr Freund hat sie noch nicht abgeholt."
"Und deshalb so ein Theater?"
"Du weißt ja wie sie ist."
Allerdings wußte Ina das. Aber jetzt empfand sie doch etwas Mitleid mit dem armen Mädchen. Obwohl Ina das unbeschwerte Plaudern mit Sandy genoß, konnte sie ihre Wachsamkeit nicht abstellen. Sie hielt das Handy von ihrem Ohr. Da war nichts. Ina neigte zur Übervorsicht. Lieber wollte sie das Gespräch jetzt beenden. Auch fürchtete sie um ihren Akku.
"Sandy, Du rufst doch nicht an, nur um mir zu erzählen, wieviel ihr gerade durcheinander trinkt." Ina befürchtete schon, ihr Schwesterchen beleidigt zu haben, als Sandys zögerliche Anwort kam: "Ina, ich wollt Dir nur gute Nacht sagen. Du kannst Dich schlafen legen."

Zum Glück ahnte Sandy nicht, wo sie sich gerade befand. Es war dumm gewesen, ihr von der "Nachtschicht" zu erzählen. Sandy stellte sich Ina wohl gerade am Computer vor, eine Tasse Kaffee neben dem Monitor. Ein kleines, aufheiterndes Gespräch für die hart arbeitende große Schwester.
"Ina, ich mein´ es ernst. Wir haben Dein Manuskript gefunden. Du weißt doch, das verschwundene."
"Ihr habt was!?" Ina konnte nicht glauben, was sie jetzt hörte. Ina sah die beiden Kleinen in Mareks Abstellkammer wühlen. In ihrer Partylaune hatten sie noch einen Text überarbeiten wollen. Nachts um 3.00 Uhr! Ina fragte sich, was Marek wohl davon hielt. Er war nicht nur der Hausmeister ihrer Fachhochschule, sondern auch ehrenamtlicher Leiter des Eine-Welt-Kreises.
"Aber das könnt ihr doch nicht machen!"
"Klar, können wir das. Da standen übrigens auch ein paar von den Durchsichtigen herum." Sandy und Tini waren tatsächlich auf die gestohlenen I-macs gestossen. An dem Seehund-Aufkleber, mit dem Sandy bei einem ihrer Besuche übermütig einen Monitor "verschönert" hatte, hatten sie ihn erkannt. Ina schwor, sich nie wieder über Sandys Sammelticks lustig zu machen.

Ina dachte gerade über Mareks Gründe nach, neben den ausrangierten Uralt-PCs hochwertige Macs für den Rumänientransport zu lagern, als ein plötzliches Geräusch sie zusammenfahren ließ.

"Warte, da kommt Marek-." Doch Ina hörte nicht mehr hin. Da waren Schritte. Es war jemand hier. Jemand, der im Labyrinth nach ihr suchte. Vielleicht zwei kleine Räume von ihr entfernt. Da hatte sie soviel Zeit mit Sorgen über die doofe Patricia vertan, und jetzt wußte sie immer noch nicht, wie die Computer in den Gemeindekeller gekommen waren. Und schlimmer noch: sie hatte den Verfolger in ihr Versteck gelockt. Wie dumm sie gewesen war! Sie ärgerte sich über sich selbst und auch über Sandy, aber wenn sie ehrlich war, mußte sie zugeben, dass es ihre eigene Neugier gewesen war, die sie unvorsichtig werden ließ. Jetzt würde er sie holen. Es gab kein Entkommen. Sie konnte auf ihren Socken so leise wie möglich herumtapsen. Vorsichtig an der Wand entlang. Verstecken spielen, bis zum frühen Morgen. Immerhin müßte es jetzt schon kurz nach vier Uhr sein. In zwei Stunden kämen die Putzfrauen. Aber doch nicht hierhin. Es würde sie niemand hören, wenn er käme, wenn sich seine Hände um ihren Hals legten, wenn er nach ihrem Rock faßte, wenn er -. Ina schalt sich, damit aufzuhören. Sie mußte tiefer ins Labor dringen, nicht, dass da etwa ein unvermuteter Ausgang wäre – aber der architektonische Grundriss war dort komplizierter, die kleinen Räume noch winziger, die Wegführung vor allen Dingen verwirrender. Und sie, als Fotografin, kannte sich sicherlich erheblich besser darin aus, als irgendein kleiner Aushilfspförtner, der vielleicht erst seit sechs Wochen hier arbeitete. Die Fluktuation war enorm. Führte Marek ein so strenges Regime, dass ihm die Mitarbeiter in Scharen davon liefen? Ina nahm all ihren Mut zusammen und machte sich auf den Weg.

Es kam ihr vor, als säße sie schon die ganze Nacht unter dem Waschbecken in dem engen Unterschrank, das Versteck, das sie gefunden hatte, nachdem sie zunächst eher planlos umhergeirrt war. Mittlerweile schmerzten nicht nur ihre Schultern. Ihr Kopf klemmte zwischen den Knien, ihr Rücken stieß hart an Holz, ihre Füsse fühlten sich eingeschlafen an und nichts wünschte sie sich sehnlicher, als aufstehen zu können. Es schien ihr, als sei sie mittlerweile allein. Wer immer hier gewesen war, er war jetzt fort. Ina wunderte sich, warum er nicht entschiedener nach ihr gesucht hatte. Aber vielleicht war es nur ein Kontrollgang? Selbst das wäre merkwürdig. Sonst liessen sich die Pförtner durch nichts aus ihrer Bude locken, wo sie nächtelang Kreuzworträtsel ausfüllten.

Es fühlte sich wunderbar an, als sie wieder Arme und Beine bewegen konnte. Sie lief eine kleine Runde, bis die Erschöpfung ganz plötzlich über sie kam. Lieber würde sie auf der Couch im Klassenzimmer schlafen, aber es war so weit bis dorthin. In ihrer Müdigkeit legte sie sich stattdessen sofort hin, in die staubige Kälte des Betonbodens.

Noch schlaftrunken wehrte sie sich nicht, als er zurückkam und es war beinahe wie eine Aufforderung zum Tanz, als er behutsam ihre Hände nahm und sie an den Armen in die Senkrechte zog. Fast zärtlich berührte er sie. Sie wollte sich seinen Händen entziehen, die jetzt hastig über ihren Körper strichen, über ihre Schultern wanderten und unter dem Stoff ihre Brüste suchten, die er enttäuscht und nicht ohne ein abfällige Bemerkung losließ. Das Wort war merkwürdig und Ina überlegte, wo sie es schon einmal gehört hatte, es war nicht lange her. Im Schwimmbad. Patrizia hatte über eine junge Frau gelästert, die sich hinter Sandy und Ina auf der Wiese umzog. Abends waren sie an jenem Tag noch auf einem Grillfest gewesen, zu dem Patrizia sie mitgeschleppt hatte und Ina sah in der Finsternis wieder die braunen Augen, deren sadistisches Glitzern sie im Garten so abgestossen hatte. Mit nassen Haaren hatte sie neben dem Grill gestanden und den angeberischen Geschichten des pickligen, rothaarigen Kochlehrlings gelauscht, der sich genüßlich an ihrer Entrüstung weidete, als er vom Zubereiten der Krebse berichtete: man müsse sie gar nicht ins kochende Wasser hineinwerfen. Man müsse nur warten. Die dämlichen Tiere. Sie würden freiwillig in die Kochwanne hüpfen.

Man müsse nur warten. Er war die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen. Ina wußte jetzt auch wieder, wie er hieß. Von Sandy hatte sie gehört, dass man ihn wenig später aus dem Hotel geworfen hatte. Ja, Patrizia besaß nicht nur bei Kleidern schlechten Geschmack. Ihr Scheiß-Ritchie. Für Momente dachte Ina an wärmende Sonne und den Duft von Gras, als er sie brutal gegen die Wand drängte und inmitten der kalten Härte spürte sie etwas Weiches in ihrem Nacken. Ein kleines Stück Fell, ein letzter Rest vom Pelzraum, der sie tröstete, während sie auf ihrem Hals das Messer spürte, mit dem sie erst vor ein paar Stunden noch ihre Illustrationen beschnitten hatte.

(c) Petra Ottkowski

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.48 Uhr
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