Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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November 2002
Inkasso
von Fran Henz


Verena fixierte das Kalenderblatt. Neumond. Das grinsende schwarze Gesicht starrte sie an. Noch nie war ihr die unterschwellige Bösartigkeit dieses Symbols so zu Bewusstsein gekommen, wie in diesem Augenblick.
Ein Schauer lief über ihren Rücken und brachte sie dazu, sich abzuwenden. Der Verfolgungswahn, unter dem sie seit einiger Zeit litt, nahm bedenkliche Ausmaße an. Mit fahrigen Bewegungen räumte sie die sterilisierten Babyfläschchen in den Küchenschrank. Die Schwiegermutter hatte Nadja, ihre drei Monate alte Tochter, vor einer halben Stunde abgeholt und würde sie erst morgen wiederbringen.
Verena schloss die Schranktür und ging ins Wohnzimmer, wo ihr Handy lag. Ohne große Hoffnung wählte sie eine Nummer aus dem Telefonspeicher. Zu ihrer Überraschung meldete sich die Hexe diesmal sofort.
„Hallo, ich ...“
„Hören Sie, meine Liebe, zum allerletzten Mal: ich kann Ihnen nicht helfen. Als Sie seinerzeit zu mir kamen, habe ich Ihnen gesagt, dass ich nur die Vermittlerin bin. Ich habe den Dämon, der Ihr Anliegen realisieren sollte, nur beschworen. Und ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Dämon seinen Preis einfordern wird, sobald er Ihren Wunsch erfüllt hat. Damit endet meine Dienstleistung. Sie wollten ein Kind. Und Sie haben ein Kind bekommen, obwohl Sie einen Stapel ärztlicher Gutachten in der Handtasche herumschleppten, die allesamt die Unmöglichkeit dieses Unterfangens bestätigten. Also, was wollen Sie eigentlich?“
Die Stimme klang ungeduldig. Verena stiegen die Tränen in die Augen. „Ich will, dass Sie mir helfen, es muss doch eine Möglichkeit geben, etwas gegen den Dämon zu unternehmen.“
„Ich kenne keine.“
„Bitte ...“, Verenas Stimme brach.
„Sparen Sie sich die Tränen, meine Liebe. Das nächste Mal überlegen Sie sich eben vorher, ob Sie wirklich bereit sind, den Preis für Ihren Wunsch zu bezahlen. Diese Welt macht keine Geschenke – warum sollte es in der Zwischenwelt anders sein?“
Die Verbindung brach ab. Verena legte das Handy weg und begann an dem zu kauen, was von ihren Fingernägeln noch übrig war. Natürlich hatte ihr die Hexe damals alles genau erklärt, aber trotzdem war sie blind und taub für die Warnungen gewesen.
Und jetzt gab es niemanden, der ihr in dieser ausweglosen Situation beistand: Freundinnen, die diesen Namen auch verdienten, hatte sie nicht. Ihr Mann, ein angesehener Gynäkologe, glaubte tatsächlich, dass sie mit Hilfe seiner genialen Methode schwanger geworden war. Angesichts ihrer strähnigen Haare, des fleckigen Sweaters und der Unordnung in der Wohnung, konnte sie auf seiner Stirn immer häufiger die Diagnose „postnatale Depression“ lesen, eine wissenschaftliche Bezeichnung für das schwarze Loch, in das viele Mütter nach der Geburt ihres Babys stürzten und aus dem manche gar nicht mehr herausfanden. Ihnen blieb nur die geschlossene Anstalt.
Zweifellos hatte er sich auch schon bei Kollegen Rat geholt. Das merkte sie an Sätzen wie: „Liebes, möchtest du nicht einmal in der Müttergruppe von Tilli vorbeischauen? Du könntest dort Bekanntschaften schließen und hören, wie es anderen Müttern geht.“
Oh ja, das könnte sie: „Frau Müller, haben auch Sie Angst davor, dass der Dämon kommt und seinen Preis verlangt?“
Sie wäre schneller in der Klapsmühle als eine Stecknadel zu Boden fiel und sie würde Nadja nie wiedersehen.
Das durfte nicht passieren. Niemals. Sie würde ihre Tochter nicht aufgeben, unter gar keinen Umständen. Verena nahm den Strampler aus dem Stubenwagen und vergrub ihr Gesicht darin.
„Niemals“, flüsterte sie, „niemals werde ich dich verlassen, meine Süße, das versprech’ ich dir.“
Die Vase auf der Kommode fing an zu vibrieren. Verena fuhr herum. Die Stehlampe neben der Couch flackerte, dann zerbarst die Glühbirne mit einem leisen Plopp und die Splitter rieselten zu Boden.
Er war da. Hier in diesem Raum. Verzweifelt versuchte Verena einen klaren Gedanken zu fassen. Sie musste raus aus der Wohnung, draußen auf der Straße unter den Passanten hatte sie vielleicht eine Chance. Sie rannte durch die Küche ins Vorzimmer und riss an der Klinke der Eingangstür. Diese bewegte sich keinen Millimeter, so sehr sie auch daran zog und rüttelte. Verena spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen und hieb ein letztes Mal mit der Faust gegen die Tür. Sie hörte ihr eigenes Schluchzen, in das sich ein heiseres Keuchen mischte. Ein Keuchen, das nicht aus ihrer Kehle kam.
Feuchte Hitze schlug über ihr zusammen, modriger Geruch nach faulendem Moos betäubte ihre Sinne. Entgegen allen Gesetzen der Schwerkraft wirbelte ihr Körper durch die Luft.
Die Wucht, mit der sie auf die Fliesen im Bad krachte, presste den Atem aus ihren Lungen und brachte sie wieder zu Besinnung. Unvermittelt flammten die Lampen hinter der Spiegelwand auf und tauchten die Szenerie in gleißende Helligkeit. Schubladen flogen aus den Kästchen, der Inhalt breitete sich neben Verena auf dem Boden aus.
Starr vor Angst sah sie auf das kleine rechteckige Päckchen, das wie ein Kreisel zu rotieren begann. Die erste Rasierklinge blieb im Handtuch stecken, die zweite im Übertopf des Benjamini und die dritte in der Tür.
Verenas Rock riss entzwei. Das Päckchen drehte sich immer schneller und spuckte die vierte Klinge aus. Sie zerschnitt die Luft, schien einen Moment still zu stehen und grub sich dann in Verenas Oberschenkel.
Der Schmerz hallte durch ihren Körper, aber Verena brachte nur mehr ein mattes Stöhnen über die Lippen. Apathisch betrachtete sie die Klinge, die sich ohne Eile durch das Fleisch arbeitete und schließlich ein pflaumengroßes Stück herauslöste.
Einen Sekundenbruchteil schwebte dieses Stück im Raum, dann verschwand es, die Rasierklinge fiel zu Boden und die Lampen verloschen.
Verena saß im Dunklen und wagte nicht, zu atmen. Der Schmerz pochte in ihrem Oberschenkel und sie fühlte das Blut aus der Wunde strömen.
Mechanisch zog sie ein Handtuch vom Halter und presste es auf die Stelle. Die Spannung wich aus ihrem Körper. Es war vorbei.
Sie rappelte sich auf und taumelte zum Lichtschalter. In dem Chaos auf dem Boden befand sich auch eine Box mit Erste-Hilfe-Utensilien sowie ein Streifen Schmerztabletten.
Mit Mühe brachte sie ihre zitternden Hände unter Kontrolle, aber ihre Zähne schlugen gegen das Glas als sie zwei der Tabletten hinunter würgte. Dann sank sie auf den Rand der Badewanne und nahm das Handtuch von ihrem Schenkel. Die Blutung hatte nachgelassen, die Wunde war zwar schmerzhaft, aber nicht tief genug, um eine Arterie zu verletzen. Die Ränder um das fehlende Stück Fleisch schimmerten chirurgisch glatt.
Verenas Verstand setzte sich holpernd in Bewegung. Sie musste die Wunde versorgen, die Narbe so klein wie möglich halten und sich für ihren Mann eine plausible Ausrede einfallen lassen. Selbstverstümmelung war der beste Hinweis auf eine psychische Störung. Psychische Störung hieß Einweisung in ein Erste-Klasse-Sanatorium.
Als sie mit dem Verbinden fertig war, sah sie sich um. Die Unordnung konnte sie später beseitigen, wenn die Wirkung der Tabletten voll einsetzte. Ihr Blick fiel auf das Gesicht, das ihr aus der Spiegelwand zaghaft zulächelte. Sie hatte es geschafft.
Die Narbe an ihrem Oberarm war blass und unauffällig. Die auf ihrer Hüfte ein schmaler roter Strich, der bald verschwunden sein würde.
Sie hatte es geschafft.
Bis zum nächsten Neumond.


© Fran Henz

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.37 Uhr
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