Das alte Buch Mamsell
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November 2002
Manfred
von Ines Haberkorn

Eine wahre Geschichte

“Ping!” So wie ich den Lichtschalter drücke, blitzt die Glühbirne über mir auf, um im gleichen Moment zu verlöschen. Obwohl mir das öfter passiert, erschrecke ich jedesmal wieder von Neuem darüber. Und auch diesmal stehe ich sekundenlang reglos und mit angehaltenem Atem da und starre in die Dunkelheit. Was ich dort sehe? Ich weiß es nicht. Vielleicht Manfred.

Wer Manfred ist? Er war einfach ein Junge aus unserer Mietskaserne, fünf oder sechs Jahre alt, damals im Sommer ‘67. So genau weiß ich das nicht mehr. Doch dafür weiß ich noch sehr genau, dass wir anderen ihn nicht mochten.

Warum wir ihn nicht mochten? Das lag wohl daran, dass er so anders war als wir. Während wir Räuber und Gendarm spielten, dabei über Zäune und auf Schuppendächer kletterten, hockte Manfred still im Hinterhof und betrachtete Bilderbücher, stundenlang, immer dieselben Bücher mit immer den gleichen Bildern. Und wenn er nicht in diese Bücher starrte, dann auf andere Dinge wie einen Fleck an der Hauswand oder die ver-beulte Mülltonne. Manchmal hielt er dabei den Kopf schief und murmelte leise vor sich hin.

Was er murmelte? Keine Ahnung, vielleicht Hokuspokus, um die Dinge zu verhexen, mit denen wir spielen wollten. Meine elektrische Eisenbahn jedenfalls versagte regelmäßig, sobald Manfred nur in ihrer Nähe auftauchte, ebenso wie es stets im Radio zu knistern begann oder einfach die Glühbirnen durchbrannten. Ich hasste es, wenn er in mein Zim-mer kam.

Weshalb ich ihn dann überhaupt einließ? Weil ich musste. Sein Vater war vor einem Jahr gestorben und seine Mutter dadurch gezwungen wieder volltags zu arbeiten. Deshalb hielt er sich tagsüber oft bei uns auf. Außerdem bekam ich hin und wieder ein paar Groschen dafür, dass ich auf ihn aufpasste. Einmal steckte mir seine Mutter sogar ein Markstück zu, damit ich mit ihm an die Eisbude ging. Aber er mochte wohl kein Eis. Denn kaum standen wir in der Reihe, fing er an zu heulen und an meiner Hand zu zerren, bis ich mit ihm zurück nach Hause ging.

Wie ich darauf reagiert habe? Geärgert habe ich mich, anfangs zumindest, später nicht mehr. Eigentlich war es ganz gut so, denn kaum hatten wir unseren Platz vor der Eisbude verlassen, kam ein Auto die Straße entlang geprescht. Irgendwie verlor der Fahrer die Kontrolle, und es raste genau in die Warteschlange vor der Eisbude. Manfreds Heulen und mein Schelten gingen im Lärm und Kreischen unter. Für einige Zeit mochte auch ich kein Eis mehr.

Ob ich Manfred danach wenigstens lieber mochte? Ein bisschen. Zumindest soviel, dass ich ihn mit zum Verstecken auf den Dachboden nahm. Aber anstatt mit uns zu spielen, stand er mal wieder nur da und starrte auf gestapelte Ziegelsteine und Ofenkacheln. Wie immer hielt er dabei den Kopf schief und flüsterte. Doch diesmal ging ich hin und fragte, was er denn in dem Geröll so Interessantes sah. Einen Totenkopf, antwortete er. Worauf ich mir mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte und zu den anderen lief, um mit ihnen hinunter auf den Hof zu stürmen.

Wo Manfred währenddessen war? Auf dem Dachboden natürlich, aber nicht für lange. Als wenig später dunkel geworden war und er uns noch immer nicht nachkam, lief ich zurück. Auf halben Weg zum Dachboden verlöschte das Hauslicht. Doch ich sprang die Stufen einfach im Dunkeln hoch, immer zwei auf einmal, bis ich mit meinen Füßen gegen etwas Weiches stieß und stolperte.

Was passiert war? Das weiß ich nicht genau. Ich weiß nur noch, dass meine sagte, er wäre gestürzt und hätte sich den Hals gebrochen. Wahrscheinlich war die Glühbirne über der Bodentreppe mal wieder durchgebrannt. Vielleicht sogar in dem Moment, als er unter ihr durchgegangen war. Von da an blieb der Dachboden verschlossen.

Ich stehe noch immer reglos unter der durchgebrannten Glühbirne und starre in die Finsternis. Nein, ich sehe nichts. Dafür spüre ich einen kalten Hauch, der meinen Nacken streift und ziehe fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern.
“Wo ich damals gewesen war?”, flüstere ich kaum hörbar und lausche abwartend in die Dunkelheit. Doch da ist niemand, der die Antwort hören will, nicht einmal Manfred.

(c) Ines Haberkorn

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.48 Uhr
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