Madrigal für einen Mörder
Madrigal für einen Mörder
Ein Krimi muss nicht immer mit Erscheinen des Kommissars am Tatort beginnen. Dass es auch anders geht beweisen die Autoren mit ihren Kurzkrimis in diesem Buch.
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November 2002
Und der Wind sang ein bedrohliches Lied
von Anne Zeisig


Linda schlug den Mantelkragen über die Ohren und spannte den Regenschirm auf, was wenig Sinn machte bei diesem Herbststurm. Obwohl es dunkel und neblig war, nahm sie auch heute die Abkürzung durch den kleinen Park. Denn daheim warteten die 12-jährige Miriam und der 9-jährige Pascal mit dem Abendessen auf sie.
Vor einem Monat waren sie in das bescheidene Häuschen gezogen. Es lag außerhalb des verschlafenen Nestes, aber die Miete war erschwinglich. Ihr Job als Küchenhilfe im Schnellimbiss erlaubte keinen Luxus.
Aber sie waren frei!
Frei von jahrelangen Gewalttätigkeiten eines Ehemannes und Vaters, der den größten Teil des Haushaltgeldes für seinen Alkoholkonsum benötigt hatte. Das war endlich Vergangenheit!

Linda atmete die wohltuende Luft ein. Der Sturm zerzauste ihr lockiges Haar und vertrieb den Geruch nach Frittieröl und Grilladen. Das Geäst der Bäume und Sträucher stöhnte und knackte. `Herbstmelodie´, dachte Linda, und freute sich auf die Kinder. Sie hielt den Griff des Schirmes eng an sich gepresst, damit der starke Wind den Regenschirm nicht davon riss. Es war anstrengend, gegen die Böen anzugehen. Das nasse Laub klebte unter ihren Schuhsohlen und ließ sie ab und zu leicht ausrutschen.
Huschte hinter ihr ein Schatten? Linda drehte sich im Gehen um. Nur nicht stehen bleiben. Ein Windstoß entriss ihr den Schirm. Die Dunkelheit verschluckte ihn. Linda steigerte ihr Tempo. Sie versuchte, eine Melodie zu pfeifen, um keine Angst aufkommen zu lassen. Aber der Sturm nahm ihr den Atem.
Da war wieder der Schatten. Bestimmt. Es war keine Einbildung. Rennen. So schnell es ging. Linda knickte um. Fiel zu Boden. Nässe. Modergeruch. Nicht liegen bleiben. Sie musste doch heim. Zu den Kindern.
Der Schatten!
„Nein!“, schrie sie, rappelte sich hoch, der Schatten kam näher, sie hörte ihn atmen, sein Keuchen wurde lauter. Oder war sie es, die nach Luft rang? Da wurde sie fest von hinten an die Schulter gepackt, kraftvoll herum gerissen. Weglaufen! Aber Nein, sie blieb stehen.
„Sie müssen doch keine Angst haben! Haben sie sich beim Sturz verletzt?“
Starr vor Schreck.
„Polizeiwachtmeister Johnson. Eine Frau sollte bei Dunkelheit nicht alleine durch den Park gehen. Sie sind wohl nicht von hier?“
Jetzt erkannte sie seine Uniform. Ihre Zunge klebte am Gaumen. Und unter dem Mantel pappte der Pullover klamm auf ihrer schweißnassen Haut.
Er nahm ihren Arm: „Ich werde sie begleiten. Wo wollen sie denn hin? ...“

. . .

„Ich will ihnen keine Angst machen, aber seit einigen Wochen treibt hier in der Gegend Einer sein Unwesen, der hat es auf besonders gut aussehende junge Frauen abgesehen. Sie sollten für ihren Heimweg die Abkürzung durch den Park nicht mehr nehmen,“ sagte er, als sie die Haustüre aufschloss.
„Danke!“ Im Licht der hin und her pendelnden Wandlaterne stand ihr ein kleiner, magerer Polizist gegenüber, dessen faltige Stirn von einem großen Feuermal gezeichnet war.
Erleichtert schloss sie die Tür und lehnte sich aufatmend mit dem Rücken dagegen.
„Mama!“, Miriam stürmte die schmale Treppe hinunter, „sieh dir das an!“, die Tochter hielt ihr auf beiden Händen den Zwerghamster Pitti entgegen, „sieh dir diese kahlen Stellen an! Das war bestimmt Pascal! Der ist eifersüchtig auf meinen Pitti und rupft dem das Fell raus! Das ist gemein!“
„Die spinnt!“, auch Pascal stürmte hinunter, „mich interessiert dieser blöde Hamster überhaupt nicht!“
„Da hörst du ´s, Mama, er mag ihn nicht!“, Miriam hielt Linda das Tier wieder entgegen.
„Geht euch die Hände waschen, ich bin doch neugierig, was meine Großen gekocht haben,“ sagte Linda matt, zog sich Mantel und Schuhe aus, ging in die Küche.
Was war denn hier passiert?
Ein umgekippter Topf auf dem Herd, die Tomatensauce war bis auf den Boden gelaufen. Der Nudeltopf stand leer auf dem gedeckten Tisch und die Spaghetti schwammen in der Abwaschschüssel zwischen Spülbürste und Schwamm.
Sie stellte die Kinder zur Rede. Die beiden beschuldigten sich gegenseitig. Zur Strafe mussten sie sofort das Licht in ihren Zimmern löschen. Linda hatte Leseverbot erteilt. „Nicht mal einen Fernseher gibt es hier in dieser Bruchbude!“, maulte Pascal, „außerdem zieht es durch dieses morsche Fenster hier rein, mir ist saukalt!“
„Pitti friert auch, wenn du ihm das Fell raus rupfst, du Tierquäler, geschieht dir ganz recht, dass dir saukalt ist!“, konterte Miriam aus dem Nebenzimmer.
Linda deckte ihren Sohn mit einer zweiten Decke zu: „Ich hatte euch doch gesagt, dass das nur vorübergehend unser Zuhause ist, bis ich genug Geld gespart habe“, sie gab Pascal einen Kuss auf die Wange, „und nun schlaf gut.“ Sie wünschte auch noch Miriam eine gute Nacht, doch die zog sich beleidigt die Bettdecke über den Kopf.

. . .

Linda hatte sich die Kammer unten neben der Küche ein wenig wohnlich eingerichtet. Auch hier zog der Wind durch den Fensterrahmen. Hoffentlich würde das Dach nicht von den Böen beschädigt. Die rostige Wandlaterne neben der Haustüre klapperte und quietschte. Müde schlug sie die Schlafdecke zurück. Aber was war das? Entsetzt zuckte Linda zurück. Blut! Das Bett-Tuch war großflächig mit Blut verschmiert!
Angewidert starrte sie auf das Laken. Blut? Wirklich Blut? Es roch nach Tomaten und Oregano. Linda strich mit dem Finger über das Rot und schmeckte daran: „Tomatensauce“, flüsterte sie... `Was war nur in Pascal gefahren?´ Pascal? Warum nicht Miriam? Weil der Sohn sehr unter dem Umzug litt? Er hatte ja auch noch keine Freunde in der hiesigen Schule gefunden. Offenbar versuchte er, sich durch derartige Aktionen in den Mittelpunkt zu setzen.
Sie nahm sich vor, diese Sauerei nicht zu erwähnen und wechselte das Laken. Diese Müdigkeit nach dem anstrengenden Tag.
`Wenn ich am Montag frei habe, werde ich mit Sohnemann am Nachmittag ins Hallenbad fahren. Nur Pascal und ich. Er braucht meine Aufmerksamkeit,´ dachte Linda, `und morgen früh werden die beiden Übeltäter mir helfen, die Küche zu reinigen.´ Unruhig schlief Linda ein. Und der Wind heulte um das Haus, er sang ein bedrohliches Lied.

„Linda! Linda! Ich kriege dich! Du entkommst mir nicht!“ Pranken ergreifen ihr Nachthemd, reißen es runter. Eine Wucht stößt sie ins Bett. Das Gewicht liegt auf ihr. Das Eindringen. Ihre Stimme: „Nein!“ Schmerz. Widerliches Stöhnen.
„Ich werd ´s dir zeigen! Ich werd `s dir besorgen!“
Alkoholgestank. Ekliges Keuchen.
„Mama! Mama!“ Pascal. Sein Wimmern.
Das Gewicht stößt weiter in sie. Harte Hiebe treffen ihre Wangen: „Du brauchst die harte Tour, mein Engel!“
Lähmung.


. . .

„Mama! Wach auf! Du musst aufwachen, Mama!“, ein Rütteln holte sie aus dem Schlaf, „wach doch auf!“
Linda knipste das Nachttisch-Lämpchen an: `Dieser Traum! Dieser Albtraum!´ Miriam? Das Nachthemd der Tochter war von oben bis unten rot bekleckert. Linda rieb sich die Augen.
„Wieder Pascal mit der Tomatensauce?“ Sie zog das Mädchen zu sich aufs Sofa. Miriam riss die Augen auf, hielt der Mutter ihre geöffneten Hände entgegen: „Tomatensauce? Er hat Pitti geköpft! Er hat ihn ermordet!“, der tote Hamster fiel zu Boden. Miriam ließ sich in die Kissen fallen, wurde vom Weinen geschüttelt.
`Nein,´ dachte Linda, `dazu ist der Kleine nicht fähig! Diese Rumschmiererei mit der Sauce, ja. Das aber nicht!“
Ungläubig nahm Sie das tote Tier auf und ließ es angewidert fallen. Jemand hatte dem Hamster die Kehle durchgeschnitten!
„Ich bin vom Wind wach geworden,“ schluchzte Miriam erstickt, „da ist mir eingefallen, dass ich Pitti heute noch kein frisches Wasser gegeben hatte.“
Linda lief hoch.
Pascal lag schlafend im Bett, hatte sich die beiden Decken bis über die Ohren gezogen und umklammerte seinen Teddybären.
Im Zimmer der Tochter lag das Fleischmesser neben dem Hamsterkäfig. Die Klinge blutverschmiert. Dieses Fleischmesser! Sie hatte es tatsächlich eingepackt bei diesem eiligen Umzug.
Es war der letzte Abend in Dover: Sie war dabei, die letzten Umzugskisten zu packen, als ihr Mann früher als erwartet stark alkoholisiert heim kam, ihr eine Szene machte. Er hatte sie aufs Widerlichste beschimpft und geschlagen. Ein Wort gab das andere. Da hatte er hinter sich gegriffen und ihr das Fleischmesser an die Gurgel gehalten. Sie sollte versprechen, mit den Kindern bei ihm zu bleiben. Da war Miriam in der Küchentür erschienen, hatte ihrem Vater einen Seitentritt verpasst und geschrieen: „Eines Tages wird dich mal jemand umbringen!“ Und er hatte ganz ruhig geantwortet: „Bevor das geschieht, bringe ich euch alle um!“ Hatte das Haus wütend verlassen. Noch in dieser Nacht zog sie mit den Kindern hier her.
Vier Wochen Freiheit hatte er ihr gegönnt. Vier Wochen freies Durchatmen. Kein Zweifel, er hatte ihren Wohnort ausfindig gemacht.
„Und er hat einen Schlüssel zu diesem Haus!“, entfuhr es Linda.
`Der Wachtmeister! Ich muss die Polizei anrufen,´ dachte sie und saß wie gelähmt auf Miriams Bett.

. . .

„Miss,“ Wachtmeister Johnson kratzte sich am Feuermal, „alles was sie mir zeigen konnten war ein mit Tomatensauce besudeltes Bettlaken und eine Küche, wo auch ihre Kinder Unfug getrieben haben könnten. Ich hatte selbst mal drei solcher Rabauken. Glauben sie mir, die können so einiges anstellen. Und Einbruchshinweise gibt es auch nicht. Es ist doch unwahrscheinlich, dass ihr Mann einen Zweitschlüssel hat.“
Johnson trank seinen Tee aus und erhob sich.
„Und der Hamster?“, Linda fröstelte und zog sich ihren Morgenmantel mit dem Gürtel enger um die Taille, „und die Drohungen meines Mannes?“
„Ach, Lady, die meisten Drohungen werden nie in die Tat umgesetzt. In Rage wird so was schnell mal daher gesagt,“ er wandte sich zum Gehen, „wenn sie morgen alle ausgeschlafen sind, dann reden sie doch mal in Ruhe mit ihren Beiden.“ Und zog sich seine Uniformjacke an.
„Verschließen sie die Tür gut, da draußen treibt sich ein Mann rum, der meint es wirklich ernst und hat schon zwei Frauen auf dem Gewissen, good night, Miss.“

Miriam war auf dem Sofa der Mutter eingeschlafen. Stille. Der Sturm hatte nachgelassen. Leise ging Linda die Stufen hoch, um nach Pascal zu sehen. Er redete. Im Schlaf? Seine Stimme kam aus Miriams Zimmer.
Pascal kniete vor dem Hamsterkäfig.
„Wenn ich mal Geld habe, werde ich Miriam einen neuen Pitti kaufen. Aber ich musste doch das Messer ausprobieren, damit es bei Papa auch gut schneidet, denn ich will den nie mehr wieder sehen! Tote sieht man nie mehr wieder. Die können nie mehr was Böses tun!“

Anne Zeisig

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.10 Uhr
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