Ganz schön bissig ...
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November 2002
Ketchup
von Birgit Erwin


Am 25.04.2002, 12.01 verlässt Hermann P. P. Steffen seine Wohnung im vierten Stock in der Gartenstraße, um einzukaufen. Hermann P.P. Steffen ist 37 Jahre alt, Single, freiberuflicher Arbeitsloser und ein Stolperer. Er stolpert über seine Füße, über lange Worte weil sie lang und kurze Wörter weil sie verdächtig sind, in peinliche Situationen (unter anderem das Grab seines Vaters auf der Beerdigung letzten Monat) und über das Geheimnis der Supermärkte. Aber das weiß Hermann noch nicht. Er schimpft über den Regen, den die Wettervorhersage für letzte Woche angekündigt hat, schlägt den Mantelkragen hoch, verstaut seine Brille in der Jackentasche, denn er hasst nasse Brillen, und prallt kurzsichtig gegen eine Mülltonne.
"Entschuldigung", murmelt er, denn er glaubt an Höflichkeit in allen Lebenslagen. Und stolpert weiter.
Hermann P.P. Steffen hasst Einkaufen fast so sehr wie nasse Brillen. Manchmal denkt er, dass seine letzte Beziehung an seiner Unfähigkeit eine Strauch- von einer Fleischtomate zu unterscheiden, gescheitert ist. Aber Einkaufen muss der Mensch.
Und manchmal muss er über sich selbst hinauswachsen.

Es wäre alles nie passiert, wenn die Augen der Kassiererin nicht für den Bruchteil einer Sekunde rot aufgeflammt wären. Vor Schreck stolperte Hermann und prallte gegen eine Kiste mit Strauchtomaten.
„‘tschuldigung“, murmelte er automatisch.
„Keine Ursache“, sagte die oberste Tomate nonchalant.
Hermann P P. Steffen zählte langsam bis zehn, während er sich hilfesuchend auf eine blonde Frau konzentrierte, die in ihren Jeans und der blauen Westernbluse so etwas wie ein Stück Normalität verkörperte.
„Hören Sie auf, mich anzustarren, Sie Perverser“, zischte die blonde Frau und ihr böser Blick trieb ihn geradewegs zurück in die Arme der sprechenden Tomate.
Die Tomate musterte ihn. Soweit er das beurteilen konnte.
„Du kannst sprechen“, sagte Hermann P P Steffen.
„Stimmt“, sagte die Tomate. „Gut beobachtet.“
„Du bis eine Tomate“. Hermann tastete sich langsam an den Kern des Problems heran.
„Nein“, sagte die Tomate. „Ich bin der aktuelle Vertreter des AfDMB.“
„A... ha.“
„Nein, nicht aH. AfDMB – Abteilung für dämonisch-menschliche Beziehungen. Ich bin ein Dämon.“
„Ja“, sagte Hermann. „Klar. Macht Sinn. Äh... was sind dämonisch-menschliche Beziehungen?“
Eine Augenbraue formte sich in der glatten Oberfläche der Tomate und wurde hochgezogen. „Wir quälen euch. Ihr leidet. Wir haben Spaß.“
Die Augenbraue wackelte fröhlich. „Und jetzt leg mich endlich in deinen Einkaufswagen. Du siehst aus wie ein Idiot, der sich mit einer Tomate unterhält.“

„Wenn du ein Dämon bist, warum bist du dann eine Tomate?“ fragte Hermann P P Steffen, während er mit seinem Einkaufswagen noch verwirrter als gewöhnlich durch die engen Gänge stolperte.
„Ich bin keine Tomate, das habe ich dort schon einmal gesagt. Ich bin Undercoveragent.“ Irgendwie hatte Hermann, das Gefühl, einen wunden Punkt getroffen zu haben.
„Ja, aber...“, stolperte er weiter über dünnes Eis, „eine Tomate? Es gibt doch auch... Kürbisse? Oder Melonen. Oder Ananas.. Ananas sind...“
„Schon gut. Meine Vorgesetzten haben sich für eine Tomate entschieden. Eine Strauchtomate. Sehr bekömmlich. Ist das Thema jetzt bitte erledigt?“
„Ja, klar.“
„Danke. Du kannst mich Tom nennen. Wenn du keinen Kommentar dazu abgibst.“
„Tom Toma...? Ja, klar. Sicher.“
Hermann fragte sich, ob eine Dämonentomate die gleichen Gründe wie ein Mensch hatte, langsam bis zehn zu zählen.
„... zehn. Okay“, sagte Tom endlich. „Und jetzt sieh dich um und sag mir, ob dir etwas auffällt.“
Hermann putzte seine Brille, blinzelte und sah sich hilflos um.
„Äh.... nein?“
Tom kullerte vor Verärgerung durch den Einkaufswagen. „Menschen! Du sollst nicht sehen, was du zu sehen glaubst, du Trottel. Was siehst du wirklich?“
Hermann begann zu hyperventilieren wie immer unter Stress. Er wischte sich die schwitzigen Handflächen ab, setzte die Brille auf und konzentrierte sich auf die Szene vor ihm. Eine junge Frau fragte schüchtern nach frischen Bohnen.
„Hammwernich!“ raunzte die Verkäuferin. Hermann sah ganz deutlich die kleinen Hörner unter der toupierten blondierten Dauerwelle. Ein wenig wunderte er sich, dass ihm das vorher nie aufgefallen war. Er umklammerte den Griff des Einkaufswagens fester.
„Bekommen Sie die wieder rein?“
„Weiß nich!“
„Ja... dann...Entschuldigung. Danke...“ Die junge Frau trat den Rückzug an, offensichtlich froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Im Rückwärtsgehen stieß sie gegen eine Mutter mit ihrem Kind. Ein bitterböses Wortgefecht zwischen den Frauen entbrannte.
Hermann blinzelte wieder und beugte sich tief über den Einkaufswagen. „Da liegen doch Bohnen? Oder etwa nicht?“
In Toms praller Haut poppte ein Auge auf und blinzelte. „Genau“, sagte er.
„Aber..“
„Ist es dir wirklich nie aufgefallen. Du gehst in den Supermarkt. Aber das Produkt, das du wirklich brauchst, haben sie nicht. Nie! Und du stehst immer in der längsten Kassenschlage. Das könnte Pech sein, denkst du. Aber es geht jedem so. JEDER steht IMMER in der längsten Kassenschlagen. Na? Wie erklärst du dir das?“
„Äh“, versuchte es Hermann. „Gar nicht?“
„Weil du ein Mensch bist“, sagte Tom in einem Tonfall, der ausdrückte: „Weil du ein niederes Wesen bist, das nicht über den Tellerrand einer Amöbe schauen kann.“ Aber er fügte nur hinzu: „Paralleluniversen. Jeder der Menschen hier lebt in seinem eigenen Universum. Er kann in die anderen hineinsehen, sie aber nicht betreten. Und jedes ist das schlimmstmögliche. Haben wir ziemlich gut hingekriegt!“
„Klar,macht Sinn. Wieso Paralleluniversen?“
„...neun... zehn...So, und jetzt kneifen wir schön die Augen zusammen und schauen uns noch einmal um“, sagte Tom mit der übertriebenen Geduld einer Tomate, die kurz vor dem Platzen steht, das aber aus persönlichen und ästhetischen Gründen vermeiden möchte. Hermann sah sich mit offenem Mund um und vergaß zu stolpern.
“Äh!” staunte er. Die Luft sah aus wie mit einem perlmuttfarbenen Messer in Scheiben geschnitten. Jeder der Einkaufenden bewegte sich in seiner eigenen Scheibe Realität, die mit einer schimmernden Membran von den anderen getrennt war. Alle Regale waren brechend voll, doch die Waren trennten dieselben Seifenblasenwände. Und die Menschen...
“Genau”, sagte Tom leise. “Die Menschen verändern sich. Es hat schon angefangen.”
Hermann stolperte in die Realität. Das Gefühl kalter Wut fühlte sich fremd und gut an.
“Ist das eure Idee von Spaß? Eure dämonisch-menschlichen Beziehungen?”
Er starrte die Tomate an, und erinnerte sich plötzlich wieder dran, dass er Tomaten nicht mochte. Beinahe freute er sich auf ein aufpoppendes Auge, damit er wütend hineinstarren konnte.
“Nicht... ganz”, sagte Tom zögernd. “Schau zur Kasse. Aber leg vorher was auf mich drauf. Sie darf mich nicht sehen.”
Gehorsam griff Hermann in das volle Regal und zog eine Packung Küchentücher heraus.
“Nicht die billigen. Die kratzen!” hörte er Tom zischen, aber seine Aufmerksamkeit war bereits auf die Kasse gerichtet. Da saß sie, Chefkassiererin Frau D. Weill. Hermann hatte sich immer gefragt, wofür D stand. Jetzt wusste er es. Seine Knie schlotterten. Aber das hatte nichts mit dem roten Glühen ihrer Augen zu tun oder den Hörnern, die rechts und links aus ihrem Kopf ragten. Seine Knie zitterten immer, wenn sie sich Frau Weill nähern sollten. Seine Knie hatten da ihre eigenen Ansichten, und Hermann teilte sie.
“Starr nicht wie ein verdammtes Kaninchen” fauchte Tom unter einer Packung blaukarierter Wischtücher hervor, „mach dich lieber mit ihren Schwächen vertraut!”
Schwächen? Hermanns rechtes Knie stupste bedeutungsvoll sein linkes an, und beide schüttelten sich, während Tom unter seinen Tüchern die Lage schilderte.
“Das Projekt Supermarkt startete vor ein paar Jahren, einfach um euch das Leben ein bisschen schwerer zu machen. Aber dann ging alles irgendwie schief. SIE gehörte zur AfDMB wie wir alle, bis sie anfing, ihre Macht zu missbrauchen. Sie bringt die Supermärkte in ihre Gewalt. Sie vergiftet die Menschen. Du musst sie aufhalten”, nuschelte Tom unter seinem karierten Tarnnetz. “Du hast ihre Gesichter gesehen. Alte Omas mit viel Zeit und spitzen Spazierstöcken, Kinder mit großen Unschuldsaugen und Kamikazeeinkaufswaagen, das sind ihre Agenten. Das hier ist kein Spaß mehr! Sie vergiftet das beste Projekt der AfDMB.”
Hermanns Augen glitten über die Gesichter der Menschen, und er sah sie plötzlich mit ganz neuen Augen. Verkniffene harte Gesichter, bewaffnet mit Handtaschen und bösen Worten. Vorsichtig näherte er sich einer neuen Erkenntnis.
“Tom?”
“Hm?”
“Es war dein Projekt, nicht wahr?”
Die Tomate schwieg.
“Und... du bist kein Undercoveragent?”
Tomaten können gut schweigen. Sie haben ein Leben lang Zeit zum Üben.
“Sie haben dich bestraft, weil du es zugelassen hast, dass sie dein Projekt korrumpiert. Und jetzt brauchst du meine Hilfe, um sie zu besiegen?” Seine Augen glänzten hinter der Brille. “Du brauchst wirklich meine Hilfe.”
Tom schwieg, aber irgendwo, in einer besseren Welt, gingen ein Mann und eine Tomate über eine regennasse Straße, und die Tomate sagte: “Dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.”
“Okay!” sagte Hermann und straffte Muskeln, von deren Existenz er keine Ahnung gehabt hatte. Morgen würde er Muskelkater im Rückgrat haben. Mit festen Schritten schob er seinen Wagen vor die Kasse von Frau D. Weill. Die Schlange war kurz. Zum ersten Mal in seinem Leben war die Schlange kurz. Natürlich fiel es niemandem auf, nur Frau Weills Augen funkelten vor Überraschung blutrot. Aber nur für einen Moment. Ihr muskulöser Arm holte aus und donnerte ein dreieckiges Plastikschild auf das Band. Der Krieg hatte begonnen.
“Geschlossen!” sagte sie und grinste.
Hermann blieb stehen. Seine Knie drängten sich panisch gegeneinander.
“Hören Sie schlecht, junger Mann? Die Kasse ist geschlossen.”
“Nein”, sagte er laut.
Im Supermarkt wurde es still.
Die Dämonin kniff die Augen zusammen, bis die hellblauen Augenlider Falten warfen und ihre Augen ein stecknadelkopfgroßes Glühen waren.
“Sie gehen jetzt sofort in eine andere Schlange, bevor ich ungemütlich werde“, zischte sie. Auch ihre Zähne waren spitz.
Hinter Seifenblasenmembranen schimmerten verschwommen die Gesichter der Kunden.
“Hören Sie, ich weiß, was Sie sind“, sagte Hermann laut. „Sie sind eine Däm...”
Aus den Augenwinkeln sah er Tom unter den Wischtüchern zappeln. Seine Haut hatte einen grünlichen Schimmer angenommen.
“... liche alte Ziege, die gerne Leute schikaniert” vollendete Hermann glatt. “Und ich habe es satt.”
Ein wohliges Stöhnen erklang in unzähligen Paralleluniversen. Unter ihrem Puder wurde Frau Weill fast so rot wie die Tomate. Sie streckte langsam die Hand aus. Fünf kurze Finger mit großen Ringen und rotlackierten Nägeln krallten in seine Richtung.
“Zeigen Sie mir mal Ihren Wagen!”
Hermann zog seinen Wagen ein Stück zurück. Tom kullerte wie zufällig in eine Ecke.
“Warum?”
“Ich möchte ihn mir ansehen. Bei Leuten wie Ihnen bin ich lieber vorsichtig!”
“Wollen Sie andeuten, dass ich geklaut habe?” fragte Tom und hyperventilierte wieder.
Die Dämonin musterte ihn mit dem ganzen Hochmut ihrer Unantastbarkeit.
“Was haben Sie denn da unter den Tüchern? Nicht abgewogenes Gemüse? AHA! Ich will Ihren Wagen sehen. Jetzt.“

Und er fühlte die Augen der Menge auf sich gerichtet. Er hörte ihr Atemholen. Er war Spartakus. Er war der Retter der unterdrückten Menschheit

Ohne seine Augen von ihrem Dämonengesicht zu nehmen, griff er in den Wagen. Er holte aus, er warf....
Eine Tomate zerplatzte in dem fassungslosen Gesicht von Frau Weill. Sie öffnete den Mund. Roter Saft tropfte lautlos auf ihren weißen Kittel.
Einen Augenblick war es totenstill, dann begann eine Frau, rhythmisch in die Hände zu klatschen. Ein Mann stimmte ein. Ein Kind kicherte. Sekunden später war das Geschäft von tumultartiger Heiterkeit erfüllt. Frau Weill starrte durch rote Schleier von Wut und Tomatensaft in die gnadenlose Wand schadenfroher Gesichter, ehe sie aufsprang und irgendwo zwischen den Regalen verschwand.
Hermann blinzelte wie einer, der aus einem Traum erwacht. Kassiererinnen blickten ihn aus großen brauen und blauen Augen an. Lücken klafften in den Regalen, die Luft schimmerte nicht mehr.
Mit einem klammen Gefühl im Magen beugte sich Hermann über das Kassenband, auf dem die Reste einer zerplatzten Tomate lagen.
“Tom, es ist gut, du kannst aufstehen”, flüsterte er, “Wir haben gewonnen.”
Eine zerplatzte Tomate lag auf dem Band.
“Tom?”
Verschwommene Stimmen in seinem Rücken sagten: “Gut gemacht.” Und: “Bravo.” Fremde Hände klopften ihm auf die Schultern. Hermann stolperte einen Schritt vorwärts.
“Tom! Du bist ein Dämon, du kannst doch nicht... ? Tom? Bitte...”
„Lassen Sie doch die Tomate liegen, junger Mann“, sagte eine Frau gutmütig. „Die wird schon weggemacht.“
Hermann schüttelte fahrig den Kopf. Mit zitternden Fingern riss er die Plastikfolie der Wischtücher auf und strich behutsam die Überreste hinein.
Er hatte gewonnen. Eine Träne rollte langsam an seiner Nasenspitze hinunter und tropfte in den Tomatenbrei.

(c) Birgit Erwin

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.39 Uhr
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