Mainhattan Moments
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Susanne Ruitenberg und Julia Breitenöder haben Geschichten geschrieben, die alle etwas mit Frankfurt zu tun haben.
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November 2002
Die große Flut
von Katja Nathalie Obring


Der Regen hämmerte auf das Flachdach als wolle er sich gewaltsam Zutritt verschaffen. Hannah zog den nikotingelben Vorhang ein Stück beiseite und starrte in die Dunkelheit vor dem Fenster. Hin und wieder fing einer der Regentropfen das Licht der schwachen Lampe am Weg zum Fluß und brach es für Sekundenbruchteile in die Spektralfarben. Ein fernes Rumpeln kündigte ein aufziehendes Gewitter an. Sie versuchte, das Fenster zu öffnen, aber der Griff ließ sich nicht drehen, und so lehnte sie ihre Stirn an das kühle Glas. Es beschlug unter ihrem Atem, als sie sprach:
“Hast du den Pfarrer erreicht?”
Sam seufzte, und am Knarren des Bettes hörte sie, wie er sich darauf fallen ließ.
“Nein, leider nicht. Er ist die ganze Zeit unterwegs gewesen. Seine Haushälterin hat versprochen ihn zu benachrichtigen wenn er heimkommt.”
Hannah ließ den Vorhang los und sah auf ihre Armbanduhr.
“Es ist beinahe zehn, heute wird er sich wohl nicht mehr melden.”
“Nein, wahrscheinlich nicht.”
Verzweiflung stieg in Hannah auf und drohte sie zu überfluten wie eine ölige Pestwelle. Sie schüttelte den Kopf, um die Bilder zu vertreiben und ging zum Bett, wo sie sich neben Sam niederließ. Wortlos reichte er ihr ein Zahnputzglas. Dann füllte er einen ordentlichen Schuß “Racke Rauchzart” ein. Schließlich nahm er seinen eigenen Zahnputzbecher vom Nachttisch und stieß mit Hannah an. Beide tranken.
“Lies mir noch mal den Brief vor.”
Sam stand auf und ging zum Sekretär, wo er eine Weile in dem darauf schwankenden Papierstapel kramte. Endlich zog er ein Blatt hervor. Es war dick und gelb und mit spinnwebdünner Schrift bedeckt, deren ursprünglich schwarze Farbe zu einem blassen Blau verblichen war. Sam lehne sich an den Sekretär und begann zu lesen:

August 1894
Liebste Eva,

es wendet sich alles vom Schlimmen zum Furchtbaren. Nun droht uns auch noch eine Überschwemmung durch einen Wasserrückstau von der Elbe her, die soviel Wasser führt, dass der Waterfluss nicht abfließen kann. Wenn der Regen nicht aufhört, dann wird in wenigen Stunden unser gesamtes Gut überflutet sein. Ich wage gar nicht auszumalen, was das für uns bedeutet. Die gesamte Ernte dahin, und wir haben doch schon so viel verloren ...
Adam ist draußen, er will wenigstens die Pferde retten und versucht, sie bei den Deitschenbauern unterzubringen, deren Hof höher gelegen ist als der unsere. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, unsere Ehe ist die reinste Hölle geworden. Beinahe täglich droht er mir, er werde mich verstoßen, sich eine neue Frau nehmen. Vielleicht hat er schon eine? Ich weiß nicht, wie lange ich das noch aushalten kann.
Marie liegt hier neben mir in ihrer Wiege und schläft wie ein Engel. Sie weiß noch nicht, wie grausam diese Welt sein kann, und ich werde alles tun, ihr dieses Wissen zu ersparen.
Bitte komm nicht her. Du könntest mir doch nicht helfen und würdest dich nur unnötig selbst in Gefahr bringen.

Auf bald, in Liebe,
Deine Lilith

Behutsam legte Sam das Blatt zurück auf den Stapel. Dann kam er wieder zu Bett, ließ sich neben Hannah fallen und fasste ihre Hand. Während er mit ihren Fingern spielte flüsterte er: “Manchmal sehe ich sie geradezu vor mir. Ich stelle mir vor, sie hatte Hände wie die deinen, groß, aber elegant, mit langen, kräftigen Fingern und kurzen Fingernägeln.”
“Es gibt kein Bild von ihr?”
“Nicht ein einziges. Dieser Brief ist das einzige schriftliche Beweisstück dafür, dass sie überhaupt jemals existiert hat, und auch ihr Baby, Marie, taucht in keiner Urkunde auf. Deshalb hoffe ich ja auf den Pfarrer und sein Kirchenarchiv. Irgendwo muss ja zumindest die Geburt vermerkt sein.”
Hannah brummte und entzog ihm unwirsch ihre Hand.
“Warum interessiert dich das alles denn so? Irgendeine längst vermoderte Leiche, das ist doch alles, was übrig ist von dieser ach, so unheimlichen Vorfahrin.”
“Urgroßmutter.”
“Woher willst du das wissen? Laut Familienbuch existierte die Lady nicht einmal.”
“Ich weiß es.”
Sam sah sie aus funkelnden Augen an, so starr, dass sie für einen Moment beinahe Angst vor ihm bekam. Dann grinste er.
“Dir gefällt es hier nicht, stimmt’s?”
“Ich hasse dieses Kaff, ich hasse Frotteebettwäsche, ich hasse das Bad im Nachbargebäude, das immer noch nach Kuh stinkt, ich hasse diesen Regen und den Dialekt der Leute. Habe ich was vergessen? Oh, ja, und ich hasse besonders Rotwurst zum Frühstück. Reicht das?”
Sam lachte.
“Mehr als genug. Zwei Tage noch, okay, dann gebe ich auf und wir fahren weiter zur Ostsee. Hm?”
“Hm.”
Hannah kuschelte sich in seine Arme, und sie löschten die Nachttischlampen. Immerhin war Sam ja hier derselbe wie zu Hause, und davon überzeugte Hannah sich ausgiebig in dieser Nacht.

Als ein Donnerschlag sie einige Stunden später aus dem Schlaf riss lag Sam nicht neben ihr. Sie knipste die Lampe an und sah sich im Zimmer um. Sams Jacke war weg, und ebenso der Brief, der zuoberst auf dem Stapel gelegen hatte. Die Digitalanzeige des Weckers zeigte 23:43 Uhr an, und Hannah fragte sich, wo Sam um diese Uhrzeit sein konnte. Sie stand auf und begann, nach einer Nachricht von ihm zu suchen. Es war keine zu finden, und das beuruhigte Hannah. Eigentlich war es nicht Sams Art, einfach so mitten in der Nacht zu verschwinden. Ein weiterer Donnerschlag ließ sie zusammenzucken, und beinahe wie als Antwort flackerte das Licht kurz, verlosch für einige Sekunden, brannte dann aber weiter. Als Hannah noch überlegte, ob sie nun wieder ins Bett gehen oder sich besser anziehen sollte, hörte sie von draußen ein Geräusch. Eigentlich war es schon die ganze Zeit da gewesen, nur hatte sie es bisher nicht wahrgenommen über dem Pladdern des Regens und den vereinzelten Donnerschlägen. Es gluckste vor der Tür. Sie ging zum Fenster, und was sie sah, verschlug ihr den Atem. Der Waterfluss war in den vergangenen zwei Stunden so weit angestiegen, dass sie auf eine wirbelnde Wasserfläche blickte, so weit sie in der Dunkelheit sehen konnte. Nur noch wenige Meter trennten sie von dem tosenden Inferno, in dem Baumstämme ebenso trieben wie tote Tiere, sogar ein Auto wurde schwankend und wiederstrebend von den Fluten vorbeigetragen. Hastig begann sie sich anzuziehen, die Jeans, ein T-Shirt, einen warmen Pullover, darüber die Regenjacke. Dann schnappte sie sich die Taschenlampe vom Regal und drehte den Türknauf. Er rührte sich nicht. Sie begann gegen die Tür zu hämmern, dann zu rufen. Niemand kam, ausser dem Wasser, das nun in einem dünnen Faden unter der Tür hindurchzusickern begann. Der Faden wurde schnell breiter, dennoch stand Hannah einfach nur da und starrte ihn an. Schließlich huschte sie wieder zum Fenster, wo sie erleichter feststellte, dass die Flut immer noch einige Meter entfernt war. Also drehte sie an dem Fenstergriff, aber der saß so fest wie vorher. Sie rüttelte und schüttelte, aber ohne Erfolg. Panik stieg in ihr auf. Wieso hatte Sam sie hier allein gelassen, eingeschlossen, wo die Flut bedrohlich näher kam? Da sah sie einen Schatten durch die Wasser auf sich zustapfen. Zuerst dachte sie, es wäre Sam, aber bald erkannte sie eine weibliche Silhoutte . Hannah starrte angestrengt in das Dunkel, der Regen hämmerte auf’s Dach, und eben wollte sie ans Fenster klopfen, um die Gestalt auf sich aufmerksam zu machen, als sie Sam um die Ecke kommen sah. Er lief geradewegs auf die Frauengestalt zu, bis er direkt vor ihr stoppte und dann langsam zurückwich. Ein Blitz zerriss die Dunkelheit, und nun erkannte Hannah, dass die Frau in ein langes, weißes Kleid gewandet war, das wie eine zweite Haut an ihrem knochigen Körper klebte. Ihr Gesicht war so gelb wie das uralte Papier des Briefes, und die Augen nicht zu erkennen in den schwarzen Höhlen. Ihre Zähne standen vor wie bei einem Totenkopf, und es dämmerte Hannah, dass sie genau das sah: eine wandelnde Tote. Sie streckte die Arme nach Sam aus, der stehengeblieben war, und machte einen Schritt auf ihn zu. Er lächelte und breitete nun seinerseits die Arme aus. Hannah begann, wie wild an das Fenster zu schlagen, doch die beiden beachteten sie gar nicht. Verzweifelt drehte sie sich um und schnappte den Stuhl vom Tisch, um das Fenster einzuschlagen. Dabei bemerkte sie, dass das Wasser bereits knöchelhoch im Zimmer stand. Aber das war ihr egal, sie musste Sam retten vor diesem Ding da draussen, also riß sie den Stuhl hoch und schmetterte ihn gegen die Fensterscheibe. Er prallte ab, als sei das Fenster aus Panzerglas. Erneut holte sie aus, und noch einmal, mit immer dem gleichen Ergebnis: der Stuhl federte wirkungslos zurück. Die Tote drehte sich kurz zu ihr hin und bleckte die langen Zähne. Hannah schluchzte auf und stolperte zum Bett zurück. Aber sie war nicht bereit aufzugeben, wer oder was auch immer das da draussen sein mochte. Suchend ließ sie ihren Blick durch das Zimmer schweifen, immer und immer wieder: der Schreibtisch – nichts Nützliches. Die Kommode – nicht zu gebrauchen. Das Bett – die Nachttische – der Stuhl – der Schreibtisch – der Brieföffner! Sie sprang auf, schnappte das dolchartige Gerät von der Tischplatte und begann damit im Türschloss zu stochern. Früher einmal war sie recht geschickt gewesen im Aufbrechen von Schlössern ... es klickte, und der Riegel sprang zurück. Sofort öffnete sie die Tür, und eine kleine Welle schwappte ihr um die Waden. So schnell sie nur konnte, bahnte sie sich ihren Weg durch die Wassermassen, deren Sog schlagartig stärker wurde, als sie um die Hausecke bog. Keine Spur von Sam oder der Fremden. Wieder und wieder suchten ihre Augen die wirbelnden Wasser ab ohne etwas zu entdecken. Da prallte etwas gegen ihre Beine und riss sie von den Füßen. Panisch schlug sie um sich, und endlich bekam sie glattes Holz zu fassen. Sie klammerte sich daran, schaffte es schließlich, ihren Kopf aus dem Wasser zu heben und zu atmen. Als sie ihre Barke näher betrachtete, hätte sie um ein Haar den Halt verloren: der Griff, in den ihre Hand sich verkrampft hatte, war der Messinggriff eines Sarges, dessen Deckel fehlte. Hannah zog sich mühsam weiter aus dem Wasser und warf einen Blick über den Rand. Bis auf ein Medaillon war der Sarg leer, aber sie schaffte es nicht, sich weiter hoch zu ziehen. Da streifte eine weiche, große Form ihre Beine, und sie erkannte Sam, der wie leblos im Wasser trieb. Schnell streckte sie ihre Hand aus und bekam ihn auch tatsächlich zu fassen. Sie begann mit den Beinen zu strampeln, um ihr seltsames Gefährt näher ans Deichufer zu bringen, doch Sam schien an etwas festzuhängen. Sie versuchte, ihn in den Sarg zu wuchten, aber dafür war sie nicht kräftig genug. Ohnehin begannen ihre Kräfte nachzulassen. Das Wasser war eisig, und in ihren Fingern hatte sie kaum noch Gefühl, so dass sie befürchten musste, jeden Moment den Halt zu verlieren. Auch Sam entglitt ihr mehrmals beinahe. Sie musste entweder den Sarg oder Sam freigeben. Mit einem lauten Schrei ließ sie den Sarg schwimmen und tauchte unter, um festzustellen, woran Sam da hing. Sie tastete sich an seinem Bein entlang, vor sich sah sie nur Dunkelheit, dann einen verschwommenen Schimmer, schließlich eine Gestalt in Weiß, die sich an Sams Beine klammerte. Vor Schreck öffnete sie den Mund und schluckte einen großen Schwall Wasser. Sie musste auftauchen, hustete und spuckte. Tauchte wieder unter. In ihrer Jackentasche steckte noch der Brieföffner, den zog sie heraus und begann, auf die weiße Gestalt einzustechen. Endlich löste sie ihren Klammergriff um Sams Beine und wurde von der Strömung davon gerissen. Hannah tauchte auf, sog in ewigen Zügen Luft ein und drehte dann sich und Sam auf den Rücken, ihn sicher im Rettungsgriff gepackt. Langsam mit den Beinen tretend kam sie bald in seichteres Wasser, und danach an den Deich. Sie hievte Sam soweit als möglich aus dem Wasser, dann begann sie, ihn zu beatmen. Plötzlich erhellte ein Lichtstrahl die Szene, und zu ihrer unendlichen Erleichterung erkannte sie einen Polizeiwagen auf der Deichkrone.
“Hierher, hierher, mein Mann ist verletzt, wir brauchen einen Krankenwagen!”
Dann verlor sie die Besinnung.


Hannah schob die Sonnenbrille ins Haar und blinzelte den Pfarrer an. Dann streckte sie ihm die Hand entgegen, die er mit seinen beiden umschloss und drückte.
“Es tut mir leid, dass sie hier so dramatische Ereignisse erleben mussten, aber wer hätte ahnen können, dass eine neue Jahrhundertflut bevorsteht?”
Hannah nickte und blickte über seine Schulter zum Friedhof, der ein Bild der Verwüstung bot: das Wasser hatte die Gräber aufgerissen, und allenthalben lagen die Särge ganz oder teilweise frei, manche waren ganz weggeschwommen und warteten nun, am Rande des Gottesackers gestapelt, auf eine Wiederbestattung. Darunter war auch derjenige Lilith Lichters gewesen, der Urahnin ihres Mannes Sam, der schüchtern mit der Hand einen Grabstein berührte, unter dem Lilith geruht hatte – namenlos.
Der Pfarrer folgte ihrem Blick und schüttelte den Kopf.
“Es tut mir leid, dass ich nicht mehr weiß, aber alle alten Kirchenbücher sind damals während der Flut verloren gegangen. Die alte Frau Meibucher hat mir erzählt, man habe gemunkelt, der Unfall im Stall, bei dem die Lilith ertrunken ist, sei womöglich kein Unfall gewesen, aber mehr wollte sie auch nicht sagen.”
Er verstummte, und sie sahen Sam entgegen, der lächelnd auf sie zukam. In seiner Hand blitze etwas in der Sonne auf. Es war das Medaillon, und als er es aufklappte, kam eine Miniatur zum Vorschein: eine Frau, die ihm zum Verwechseln ähnlich sah, mit einem Baby auf dem Arm.
“Das lag in ihrem Sarg. Ob ich es wohl an mich nehmen kann?”
Der Pfarrer nickte und lächelte.
“Sie hat sicher keine Verwendung mehr dafür.”


(c) Katja Nathalie Obring

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.47 Uhr
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