Wellensang
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Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
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November 2002
Non recedet
von G. K. Nobelmann


“Und hier”, sagte Sonja, “haben wir das Glanzstück des Severinsdoms, den Marienaltar. Entstanden etwa um das Jahr 1500, sehen Sie dort, von links nach rechts, Petrus, Johannes den Täufer, Maria, Johannes den Evangelisten und Apostel Paulus. Der Altar ist etwa hundert Jahre älter als das Deckengemälde, das diesen Teil des Chors ziert, und wenn Sie genau darauf achten, können Sie sehen, wie der Blick der geschnitzten Figuren sich zu der großen Christusgestalt über ihnen zu erheben scheint. Das ist selbstverständlich Absicht, wie auch der ergriffene Ausdruck im Gesicht der Heiligen. Christus ist hier als Majestas Domini wiedergegeben, als Weltenrichter; deshalb der Thron und die erhobene Hand.”
In dem grauen Herbstlicht, das durch die Glasfenster einfiel, wirkten die blanken, runden Holzgesichter eher blöde als ergriffen, ganz wie die ihrer Gruppe. Ganze acht Leute hatten ihren Weg durch den verregneten Novembernachmittag zur Domführung gefunden. Im ersten Moment hätte Sonja die Tour am liebsten abgeblasen. Daß der Job ehrenamtlich war, hieß schließlich nicht, daß sie die Trinkgelder am Ende nicht brauchen konnte, und die Handvoll mißmutiger Touristen, die sie durch die schattigen Tiefen des Doms schleifte, würde nicht viel rausrücken.
Die Lodenjacken-Frau mit der Dauerwelle war die einzige, die mehr als einen flüchtigen Blick für den Deckenchristus und sein Gefolge übrighatte. Das amerikanische Ehepaar mit der halbwüchsigen Tochter guckte überallhin, nur nicht in die Richtung der Schätze, die Sonja zu präsentieren hatte, und der ältliche Herr mit dem durchnäßten Mantel schien versenkt in den Anblick der hölzernen Maria. Die anderen scharrten nur mit den Füßen, begierig, von der Stelle zu kommen. Wenn sie nicht gerade ihren Sohn zurechtwies, hämmerte die Blonde in unregelmäßigen Abständen mit der Spitze ihres Regenschirms auf den Steinboden, als wären sie hier im Bahnhof.
Nichts schien die Leute zu interessieren, nicht der Taufstein mit seinen eingemeißelten Aposteln, die Orgel aus dem 18. Jahrhundert, die Mosaiken der Fenster, jetzt regenblind und matt, wo sonst Farbe in schillerndem Blau und Rot und Gold den Boden sprenkelte. Die schiere Harmonie des gewaltigen Baus ging glatt an ihnen vorbei, dieses Wunderwerk mathematischer Präzision – das Mittelschiff exakt 48 karolingische Fuß hoch, die Seitenschiffe 12 Fuß breit mit einer Höhe von 24 Fuß, das Querschiff, das mit seinen 84 Fuß exakt halb so lang war wie das Mittelschiff, es machte Sonja fast wahnsinnig, über die schiere Unmenschlichkeit dieser Perfektion nachzudenken, ausgeführt in einer Zeit, die den meisten als dunkel und unzivilisiert galt. Und überall die magische 12, diese zutiefst bedeutsame Zahl, die in sich alle heiligen Nummern vereinte: die Zahl der Apostel, der Tore Jerusalems, der Monate des Jahres; die 6, die vollkommene Zahl, die in sich in die Summe ihrer Divisoren trug; die 4 mit all ihren Assoziationen – die Jahreszeiten, die Himmelsrichtungen, die Elemente; und zuletzt die 3, im christlichen Gedankengut die Zahl Gottes. Sonja, für die ihr Mathematikstudium nur die logische Fortführung eines kindlichen Interesses darstellte, hatte nie daran gedacht, die logische Welt ihrer Zahlen mit der der Religion zu verbinden, aber der Job im Dom hatte eine Tür in ihr aufgestoßen, und der Blick hindurch zog sie im selben Maße an, in dem er sie erschreckte. Gott und Jesus und all seine Jünger und Heiligen; das war nicht ihre Welt. Das war Wunschdenken, blindes Hoffen. Aber die Metaphysik der Zahlen... daran konnte man sich festhalten und verlieren gleichermaßen.
“Sagen Sie mal, Frollein”, meinte der Mann im nassen Mantel unvermittelt. “Die Farben sind aber wohl nicht echt, woll?”
Sonja konnte das Pärchen im zünftigen Bayernlook unterdrückt lachen hören. “Wie meinen Sie das, Herr...”
“Stephan”, knurrte der Mann und wies mit anklagendem Zeigefinger auf den weißen Rock des heiligen Paulus. “Das da, die Farbe ist ja wohl ganz anders als die hier unten.”
Sonja bemühte sich um ein Lächeln. “Da haben Sie ganz recht, Stephan. Der rechte Flügel des Marienaltars wurde bei den Bombenangriffen des Zweiten Weltkriegs beschädigt, wie auch der Obergaden dort hinten mit den Hochschiffenstern. Bei den Fenstern ist die Restauration offensichtlich; wie Sie sehen, fällt die Darstellung stilistisch anders aus, weil man sich damals, 1956, entschieden hatte, den Schäden Rechnung zu tragen, statt so zu tun, als wäre nie etwas passiert. Beim Marienaltar war das selbstverständlich keine Möglichkeit, hier wurde mit allen Mitteln versucht, den alten Zustand wiederherzustellen. Sie haben gute Augen, Stephan.”
“*Herr* Stephan”, sagte der Mann mit einer guten Portion Gift in der Stimme, und das Bayernpaar lachte wieder. Die Amerikaner, von denen Sonja immer noch nicht wußte, ob sie auch nur ein Wort von dem verstanden, was gesagt wurde, rangen sich ein verkniffenes Lächeln ab, abgesehen von der Tochter, die weiterhin mit starrem Gesicht ihre Füße musterte.
“Entschuldigung”, sagte Sonja und fühlte sich rot werden. Sie wandte sich ab. “Das schafft übrigens eine prima Überleitung zu unserem nächsten Programmpunkt. Die Krypta hat unter dem Krieg zwar nicht gelitten, aber das lag nur daran, daß sie bereits im 15. Jahrhundert zerstört wurde.” Niemand verzog eine Miene. Der kleine Sohn der Blonden lutschte mit Hingebung am Daumen und trat auf der Stelle, als müsse er dringend aufs Klo. Langsam führte Sonja ihre Gruppe vom Altar weg.
“Damals”, fuhr sie mit mehr Enthusiasmus fort, als sie empfand, “wurde unser Dom nämlich extensiv im romanischen Stil umgebaut, unter anderem mit neuen Seitenkapellen versehen, und auch der Chorraum, in dem wir gerade stehen, bekam ein anderes Gesicht. Wenn Sie sich nach der Führung draußen ein bißchen umsehen, können Sie noch die Fundamente der alten Gebäudeteile erkennen.”
Mit Sicherheit würde keiner der acht sich mit Ende der Tour auf archäologische Spurensuche machen, aber solange sie nicht von unvorhergesehenen Fragen aus dem Trott geworfen wurde, spulte Sonja unbeirrt ihr vertrautes Programm ab. Nicht auswendig gelernt, aber so verinnerlicht, daß sie die Geschichte des Hochaltars oder der Portalfresken im Traum hätte aufsagen können. Die acht folgten ihr wie eine Herde Schafe. Das amerikanische Paar tuschelte. Bevor Sonja etwas sagen konnte, hatte der Mann seine Kamera gezückt und den Marienaltar über die Schulter hinweg geknipst. Das Blitzlicht schenkte dem Raum auf einmal unverhoffte Farben; dann war da wieder nur das Grau der alten Steine und die Schatten.
“Wenn Sie auf den Blitz verzichten könnten”, sagte Sonja verbindlich in das Lächeln des Amerikaners hinein und überlegte, wie denn nur Blitzlicht auf Englisch hieß.
Oben auf den Stufen hielt sie inne. “So. Jetzt kommen wir also in einen der heiligsten Räume unseres Doms, die Krypta. Weiß jemand, was eine Krypta ist?”
Sie warf dem kleinen Jungen einen aufmunternden Blick zu, dann der gelangweilten Ami-Tochter. Die Erwachsenen wirkten unruhig. “Nein? Also, die Krypta ist eine Art unterirdischer Friedhof, der...”
“Sind nicht alle Friedhöfe unterirdisch?” fragte der Mantelträger – Stephan, *Herr* Stephan – launig, und vereinzelt wurde gelacht. Sonja, die sich vorstellte, wie sie dem Arsch einen Tritt vors Schienbein versetzte, stimmte ein.
“Ja natürlich, da haben Sie schon recht. Nein, was ich meinte, war, hier unten fanden lange Zeit die Ehrwürdigsten der Ehrwürdigen ihre letzte Ruhe, direkt unterhalb des Altars, also am heiligsten Ort des ganzen Doms. Sie müssen aber keine Angst haben, unsere Krypta ist keine finstere Gruft; mit den Ausgrabungen und der Wiederherstellung wurde überall elektrisches Licht verlegt, und eine Lüftung gibt es auch. Ein Besuch ist also normalerweise auch für Leute kein Problem, die Platzangst haben. Trotzdem muß ich Sie natürlich darauf hinweisen, daß jeder anders reagiert. Auch sind die Treppenstufen recht schmal und ausgetreten. Wer also lieber hier oben auf uns warten möchte... vielleicht drüben im Laden ein paar Postkarten oder Andenken ansehen...”
Die Blonde schnaubte ungeduldig. “Also dann”, strahlte Sonja, “auf geht’s!”
24 Stufen, wie konnte es anders sein; die Luft wie üblich kellerhaft klamm. Der Geruch nach Staub und einem Rest mittelalterlichen Atems machte Sonja nichts mehr aus, und, nach Dutzenden von Führungen, fürchtete sie sich auch nicht mehr. Die nackten Glühbirnen an der Decke blichen jede Farbe aus dem alten Stein; das Licht blendete, und es warf harte Schattenrisse an die Wände. Bevor Mitte der 60er die Leitungen gelegt worden waren, hatte es nur vereinzelte Krypta-Führungen gegeben, mit Taschenlampen. Die Taschenlampen dienten jetzt nur noch zur Illustration.
Das Grüppchen sah sich um, die Hälse tief in den Mantelkragen gezogen. “Groß ist das”, hörte Sonja das Bayernmadl murmeln, ohne eine Spur von Alpencharme in der Stimme. “Und kalt, Mensch, Uwe!”
Das Scharren, mit dem die Blonde ihren Schirm nachzog, hallte von den Wänden.
Sonja räusperte sich. “Bevor wir zu den Sarkophagen kommen, möchten Sie vielleicht einmal einen Blick an die Decke werfen.” Sie ließ den Lichtstrahl der Taschenlampe über den ehemals weißverputzten Stein wandern und begann, die Malereien zu erklären, die zwischen den Rippen der Stützsäulen zu erkennen waren, blasse Abbilder von Heiligen und Märtyrern. Obwohl hier unten die meiste Zeit Dunkelheit herrschte, waren die Farben verblaßt, die Umrisse zum Teil nur zu erahnen. Sie sprach lauter als oben, unter den Glasfenstern und dem unendlich hohen Dach; die Akustik hier unten dämpfte jeden Laut, und trotzdem hatte sie das Gefühl, ihre Stimme würde unangenehm durch die Schatten gellen. Die Angst war sie los, aber das Unbehagen würde wohl immer bleiben, das Gefühl, tief in der Erde zu sein, weitaus tiefer, als die zwei Dutzend Stufen ihr weismachen wollten.
Eine Gruft. Kein heiliger Ort. Ein schwarzes, kaltes, stickiges Grab, künstlich, weitab jeder Natur. Widernatürlich.
“Hier vorn”, fuhr Sonja fort, eine leichte Schweißschicht unter dem Pony, “haben wir die ersten beiden Särge. In der Nische hier, wo jetzt die Steine liegen, befand sich irgendwann einmal ein kleiner Altar; das Geröll hier gibt Ihnen einen Eindruck, wie es hier unten ausgesehen hat, bevor die Ausgrabungen anfingen.” Der helle Strahl der Lampe zeichnete die Umrisse eines massiven Steinsargs nach, warf die eingemeißelten Figuren in ein scharfes Relief.
“Wie Sie sehen, befinden sich die Sarkophage in erstaunlich gutem Zustand, ganz anders als die im hinteren Drittel der Krypta, zu denen wir gleich kommen werden. Zu Ihrer Linken liegt Bischof Bonifaz, dem die Gründung unseres Doms zugeschrieben wird; der Sage nach kam er ums Leben, als...”
Dieselben alten Geschichten; ewig dasselbe. Märchen für Erwachsene. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß die Menschen, die etwas so Großartiges erschaffen konnten wie dieses Gebäude, im Gegenzug an albernen Kinderkram glauben konnten wie die Fabel von einem Bischof, der sich für seine Überzeugungen von einem Blitz treffen ließ, nur um ein paar dumme Heiden zu bekehren. Und war das nicht genaugenommen Teufelswerk? Das Wetter seinem Willen zu unterwerfen? Wo war das Heilige daran?
Acht Paar Füße schurrten hinter ihr über den unebenen Boden. Die Amis murmelten wieder. Einen Moment lang spielte Sonja mit dem Gedanken, die Tour abzukürzen. Sie wußte, daß viele die Führung nur der Krypta wegen mitmachten – den Dom konnte man auch allein besichtigen, aber nach hier unten kam man nur mit Tourguide. Das Bayernpärchen etwa sah sich mit einem Interesse um, das Sonja bislang nicht an ihnen bemerkt hatte, und die Amis waren geradezu aufgeregt. Selbst das Töchterlein schien aufgewacht. Nur Herr Stephan trug weiter eine Miene tiefsten Mißmuts vor sich her, als argwöhne er, ein zweitesmal neu für alt vorgemacht zu bekommen.
“Das waren also unsere beiden Bischöfe”, sagte Sonja müde, “aber es sind nicht nur kirchliche Würdenträger, die hier ihre letzte Ruhe fanden. Hier drüben haben wir etwa Gero von Echterdingen, genannt der Rote Ritter, und daneben seine Frau.” Sie beleuchtete den eckigen Sarkophag mit der Ritterfigur, die sich auf dem Deckel ausstreckte, ein Schwert zwischen den Händen, dessen Spitze zu ihren Füßen auslief.
Sonja erläuterte, was es mit dem Schwert auf sich hatte, und mit dem marmornen Hündchen, das zu Füßen der versteinerten Gattin lag, und führte die Gruppe tiefer in das Gewölbe hinein. Hier, in einer Nische, die aussah, als wäre sie nachträglich aus der Wand geschlagen wollen, befand sich der letzte Sarg. Die Säulen, die das Gewölbe trugen, schoben sich aus dieser Perspektive zu einem dichten Wald geschwungener Steinleiber zusammen, der den Blick auf die Treppe verbarg. Die Schatten schienen sich hier dichter zu ballen, der Deckenbirne in ihrem Drahtkäfig zum Trotz.Vorsichtig stieg Sonja über die Geröllbrocken auf dem Boden.
“Hier sollten Sie wirklich aufpassen, wo Sie hintreten. Dieser Teil der Krypta wurde erst Anfang der 70er freigelegt; wie Sie sehen, hat man irgendwann aufgegeben, die Schäden vollständig beseitigen zu wollen.”
“Zu teuer?” wollte die Bayerndame wissen.
“Zu teuer, zuviel Aufwand; und nichts, was diesen Aufwand gelohnt hätte. Verglichen mit den Sarkophagen dort drüben ist dieser vergleichsweise grob behauen, wenn Sie einmal hersehen...” Die Taschenlampe ließ eingemeißelte Buchstaben hervortreten, Wörter, am Fußende des Sargs ein grob herausgehauenes Mischwesen, vermutlich das Wappentier des Toten. “Dazu ist der Stein durchzogen von Rissen, die Deckplatte hat einen Sprung – der Einsturz des Gewölbes hat diesen Sarg effektiv zerstört, daran ändern auch unsere Grabungsarbeiten nichts.”
“Aber sehr pittoresk ist das schon”, meinte der Bayernmann mit deutlich sächsischem Zungenschlag. Aus der Richtung des Herrn Stephan kam etwas wie ein abfälliges Brummen.
In aller Kürze legte Sonja das wenige dar, das man über den Toten in seiner Ecknische wußte – daß er Sproß des örtlichen Grafengeschlechts war, ein langes Leben geführt, aber nie geheiratet hatte; daß sein Name ab einem bestimmten Jahr in den Urkunden nicht mehr erwähnt wurde, was in Widerspruch stand zu seinem Ruheplatz hier unten, der schließlich eine besondere Auszeichnung darstellte. “Wie gesagt, in der Krypta wurde nicht irgend jemand begraben, hier kamen die Wichtigen hin, die Ehrenträger”, und dann dachte sie auf einmal wieder an den Bischof und seinen Blitz, an das Un-Natürliche dieser ewigen Kunstnacht, so stern- wie luftlos. Sie verlor den Faden. Einen Moment griff sie blindlings nach Worten; dann verloren die Silben sich in der Tiefe der Halle. Der kleine Junge starrte sie an wie ein Mondkalb.
Von allen Leuten mußte es Herr Stephan sein, der ihr hier zu Hilfe kam. “Junge Frau”, er stand so dicht bei dem kaputten Sarg, daß seine Nase fast den Stein berührte, “was steht denn da? Können Sie vielleicht mal leuchten?”
Sonja tat ihm den Gefallen, bevor die Steinbrocken unter seinen dicken Schuhsohlen wegrollen und ihn mit dem Gesicht gegen die Sargwand knallen lassen konnten. Sie wartete. Und, tatsächlich: “Das ist ja Latein. Non... non credit quod reverti possit de tenebris. Aha.”
“Die Inschrift zieht sich um den gesamten Sarg”, sagte Sonja und leuchtete bereitwillig. Geröll knirschte, als der breite Mann sich vorarbeitete. Die anderen wurden langsam ungeduldig, aber er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
“Novit quod paratus sit in manu eius tenebrarum dies... Aha, aha... Non recedet de tenebris.” Er richtete sich auf, eine Hand im Nacken, den Blick unverändert auf die verwitterten Buchstaben gerichtet. Sein Gesicht drückte erneut stille Kritik aus.
“Das ist aus dem Buch Hiob”, erklärte Sonja, obwohl es niemanden zu interessieren schien, am wenigsten Herrn Stephan. “Genauer gesagt–”
Das Deckenlicht flackerte, flammte einen Moment hell auf und verblaßte dann, ohne Eile, wie das letzte Licht der Sonne über einem Bergkamm. Nach und nach verloschen die übrigen Glühbirnen, der Reihe nach, eine stille Lawine der Dunkelheit, die sich langsam in Richtung Treppe vorwärtsschob. Innerhalb einer Minute stellte der dünne Strahl der Taschenlampe die letzte Helligkeit im Gewölbe dar. Sonjas Finger umklammerten das Metallgehäuse. Um sie begann ihre Gruppe zu tuscheln, gedämpft, als könne jeder Laut die Schwärze noch erdrückender machen. “Mama?” hörte sie die Stimme des Jungen, und dann das Zischen der Blonden.
“Äh”, sagte Sonja, “also... das war jetzt zwar nicht vorgesehen, aber es besteht kein Anlaß zur Sorge. Wir... wir können das jetzt auf zweierlei Weise handhaben, entweder, Sie warten hier unten, während ich schnell oben nach der Sicherung sehe, o–”
“Sie wollen uns hier im Finstern stehen lassen?” fragte jemand. Sonja hielt den Lichtstrahl der Lampe zu Boden gerichtet; in dem fahlen Halblicht erkannte sie nur die Umrisse ihrer Gruppe, die Schuhe, Hosenaufschläge, Mantelschöße. Etwas scharrte über den Stein, Gott, diese Frau mit ihrem verdammten Schirm. Das Geräusch zog die Muskeln zwischen Sonjas Schulterblättern zusammen. Um wieviel intensiver Gerüche waren, wenn man nichts sah; wenn man umgeben war von absoluter, fast körperlicher Schwärze. Der Muff der Grottenluft umwehte sie. Sonja räusperte sich.
“Natürlich nicht, niemand will Sie hier irgendwo stehenlassen, es ist nur... der Boden ist sehr uneben, und ich möchte nicht, daß sich jemand, ich meine, daß jemand hinfällt und sich vielleicht den Arm bricht oder...”
“Wir sind ja nicht aus Zucker”, sagte der Sachsenbayer so jovial wie sinnfrei, und irgendwo kicherte jemand hinter vorgehaltener Hand. Das mehr als alles andere jagte Sonjas Herz hin zur Treppe, zu Licht und Wärme und offener Weite.
“Ja gut”, ihre Stimme zittrig, “dann gehen wir halt alle zusammen, aber langsam, einer nach dem anderen. Immer mit der Ruhe...”
Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie auch nur das schlafende Ritterspaar vor sich sahen. Eine quälend behäbige Polonnaise über Geröll und abgesackten Boden, die Dunkelheit so dick wie Tinte. Mit gleichmäßigem Schwung strich Sonja mit dem Lichtstrahl ihrer Lampe über den Steinboden, immer gerade so weit, wie es für die nächsten Schritte brauchte. Auf ihrer Schulter die Hand der Blonden, die ihren Regenschirm über den Arm gehängt hatte; von Zeit zu Zeit streiften die steifen Speichen Sonjas Seite, oder sie spürte die Metallspitze in ihrer Kniekehle. Alle paar Meter hielt sie inne und vergewisserte sich, daß keiner zurückgeblieben war, ein kurzes Huschen von Licht über Schultern, Schuhe, Haar – der grüne Loden der Bayerndame, dahinter das Filzhütchen ihres Mannes; der Einheitslook der drei Amis – Turnschuhe, Jeans, Windjacke; eine graue Mantelschulter; grober Jackenstoff in seltsam farblosem Braunbeige; der bunte Ringelstrick einer Kindermütze; nicht zuletzt das Flaschenblond der Frau mit dem Regenschirm. Niemand verloren, allein irgendwo in den Schattentiefe der alten Krypta. Nicht einmal Spinnen gab es hier unten, nicht einmal Mäuse; wer hier zurückblieb, war so einsam wie im Grab.
Sonja stolperte voran, leuchtete, leuchtete, vor sich, hinter sich, bis irgendwann, nach Stunden, wie es schien, vor ihr die schiefen, niedergetretenen Stufen der Wendeltreppe aus der Schwärze traten. Auch hier kein Licht; erst, als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatten, über sich bereits das hohe Dach des Querschiffs. Sonja schnappte nach Luft und blinzelte Tränen zurück; sie wollte lachen und wußte nicht recht worüber. Ihre Gruppe war blaß, die Schuhe staubbepudert, mit Sicherheit würden sie noch lange von dieser Führung erzählen, Gott, vielleicht bekam sie sogar ein anständiges *Trinkgeld*, und dann merkte sie, daß Herr Stephan fehlte.
Hektisch sah sie sich um – war er unbemerkt an ihr vorbei in die Vierung gewandert, in den Chorraum, vielleicht stand er schon vor den Postkartenregalen im Andenkenladen? –, schob die übrigen sieben vor sich her und zur Seite wie Spielfiguren auf einem Brett, ließ versuchsweise den Lichtstrahl ihrer Lampe, die ihr hier oben seltsam sinnlos erschien, die schiefen Zähne der Wendeltreppe hinunterwandern, bis er in der sanften Steinkurve verschwand, aber nirgendwo ein mißmutiger älterer Herr im grauen Mantel, nirgendwo, wie konnte das sein?
Sonja ließ ihr Grüppchen stehen und rannte zum Laden, wo Felix hinter der Kasse „Krieg und Frieden“ las. “Was ist denn los?” wollte er wissen, “du siehst ja furchtbar aus!”, und Sonja sagte es ihm.
Felix legte den Tolstoi zur Seite. “Jetzt laß uns erstmal nachsehen. Der macht sich bestimmt nur einen Scherz mit dir.” Sonja antwortete nicht. Sie weinte.
Die Glühbirnen in der Krypta brannten, ohne zu flackern, jede einzelne von ihnen. Die Bischöfe bewachten den zerstörten Altar zwischen sich. Die Rittersleute schliefen, mit Schwert und Hund. Das Gewölbe war leer, abgesehen von seinen üblichen Bewohnern. Felix warf Sonja einen Blick zu und neigte den Kopf. Sie sah weg.
In seiner Ecke lag der verstoßene Graf in seinem zerbrochenen Sarg, umgeben von Schutt und Geröll; die Schatten kamen ihr hier immer noch dichter vor als im Rest des Gewölbes, zu dicht für das Licht der nackten Birne über ihrem Kopf, „er wird der Dunkelheit nicht entweichen.“ Etwas hing von der zersplitterten Kante des Kopfteils, ein Stück Dunkelheit, das sich hier verfangen hatte, und Sonja streckte die Hand aus und zog einen Fetzen Stoff unter der Deckplatte heraus, grau und weich und unverändert ein kleines bißchen feucht.


(c) G.K. Nobelmann

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.07 Uhr
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