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November 2002
Die Rache der Stadt
von Michael Metzner


Christian Baumert holte tief Luft, bevor er unterhalb der Burg in die Pegnitz abtauchte. Eiskalt umschloss ihn das Wasser und mit Mühe öffnete er seine Augen. Es ist schon verrückt im November baden zu gehen, schoss es ihm durch den Kopf. Aber seine Neugierde war größer als die Angst vor dem kalten Wasser.
Langsam tastete er sich an dem porösen Sandstein nach unten, bis seine rechte Hand eine halbrunde Vertiefung spürte. Schnell fasste er mit beiden Händen in den Rundbogen und zog sich mit einem Ruck in den sich öffnenden Gang. Noch drei kräftige Schwimmzüge und er erreichte eine offene Wasseroberfläche. Über ihm wölbte sich kuppelförmig ein Hohlraum.
Er wollte das Geheimnis lüften, das diesen unbekannten Raum im Burgberg umgab. Keiner kannte ihn, und er lag noch unterhalb der letzten erhaltenen Felsengänge des Nürnberger Labyrinths. Rasch erklomm er einen schmalen Absatz am Rand der Wasseroberfläche und richtete sich auf. Seltsamer Weise war ihm hier unten nicht kalt, trotz seiner nassen Sachen. Ihm fiel jetzt auch auf, das grünliches Flimmern die Luft im Raum erhellte und seine wasserdichte Akkulampe überflüssig machte.
Christian schaute sich die Wände genauer an und entdeckte in einer Wandnische ein Buch. Es leuchtet ebenfalls in ständig wechselnden Grünschattierungen und war über einen schmalen Felssteg am Rand des Wassers leicht zu erreichen. Er konnte kaum noch seine Neugierde zähmen. Was für ein Tag, wer weiß was es hier alles zu entdecken gab.
Zielstrebig eilte er zu der Nische und erstarrte. Hasserfüllt blickten ihn zwei Augen aus der Tiefe der Sandsteinhöhlung an. Im grünen Licht des Buches erkannte er einen krummen, spitzen Schnabel welcher sich begierig in seine Richtung reckte. Zwei dünne angewickelte Arme mit scharfen messerförmigen Krallen stützten sich auf die Ecken des Buches. Ihm wurde kalt, schrecklich kalt und bevor sein Leben vor seinen Augen vorbeiziehen konnte, stieß die Schnabelspitze mit einem kräftigen Hieb in seine Brust. Kein Laut des Schmerzes schaffte es noch bis in die Kehle vorzudringen.
.
Es ist Montag, 17.00 Uhr. Nürnberg atmet tief durch. Der Berufsverkehr presst wie jeden Wochentag um diese Zeit die Brust der Stadt zusammen, lässt sie röcheln und nach Luft ringen.
Ein Schreien durchdringt ihre Strassen, gellend kreischen Frauen, Kinder und Männer.
Die Stadt rächt sich, jeden Tag aufs neue, jeden Tag zwei Stunden lang. Autos drängen sich im Schritttempo über den Plärrer, ihre Insassen, eingeklemmt zwischen Lenkradspeichen und umgeklappten Rücksitzen, Finger eingepresst in Zigarettenanzünder und Aschenbecher. Fußgänger werden auf die Fahrbahn gepresst. Das Profil der Autoreifen gräbt sich tief in ihre Hände, in die Weichteile der Oberschenkel und Arme. Die Stadt schreit.
In den Krankenhäusern halten die Betten dem Druck nicht mehr stand. Patienten werden tief in die Matratzen gedrückt bis ein lauter Knall die Stahlfedern zerspringen lässt. Dumpf prallen die Körper auf den Boden. Im OP kämpft der Chirurg mit dem Skalpell, Seine Hand zittert unter der mächtigen Kraft, hoffnungslos. Das Messer, scharf wie eine Rasierklinge, dringt erbarmungslos in den Bauch des Wehrlosen unter ihm.
Fürther Strasse 253, Altbau, 3. Stock. Ich bekomme keine Luft mehr. In der Badewanne schäumt das Wasser, wie wild schlagen meine Beine und versuchen den Oberkörper nach oben zu bringen. Mein Kopf steckt bis auf dem Wannengrund in der seifigen Brühe, meine Lungen schmerzen und unbarmherzig verbraucht mein Lebenswille den letzten Sauerstoff. Meine Gedanken lösen sich von allen Feststoffen die meinen Körper ausmachen und versuchen dem Hirn zu entweichen. Glitschig wie der Schleim eines Karpfens,
versuchen sie die Augenhöhlen zu durchdringen,
um sich dann gnadenlos davonzustehlen. Doch auch sie sind der Rache der geschändeten Stadt ausgeliefert. Kaum haben sie die Augäpfel umrundet, den Wasserdruck überwunden und den Wannenrand erreicht, kracht mit lautem Getöse die mittelalterliche Decke meiner Wohnung herab. Gesteinsbrocken lassen den geistigen Rest meines einst stattlichen Körpers in alle Richtungen spritzen. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.
Der gut geschürte Badeofen liegt auf dem Boden und Flammen züngeln die Handtücher empor. Die ersten Schleimspritzer meiner,
im ganzen Raum verteilten Gedanken, fangen an zu kochen. Wie Fett in der Friteuse ballen sie sich zu kleinen Kügelchen und zerbersten zu weiteren unzähligen Teilchen.
Endlich, endlich erreiche ich den Zustand der ewig unerreichten, im tiefsten Innern gewünschten Leichtigkeit. Leicht wie ein Molekühl, unangreifbar, frei ohne Schmerz, ohne Bindungen und ohne Verpflichtungen. Was kann mir jetzt noch passieren?
Aus der Dunkelheit rast ein anderes Molekühl auf mich zu. Sekunden später ein greller Lichtblitz und ich öffne die Augen.

19.00 Uhr sagt mir meine Armbanduhr. Das Badewasser ist schon kalt und meine Haut fühlt sich an wie ein Schwamm.
„Mist, wieder eingeschlafen.“ Ich öffne das Fenster, hohle tief Luft und meine Zunge spürt diesen leichten Geschmack von Autoabgasen und trocknen Staub. Dabei überkommt mich ein ungutes Gefühl, so als wenn man sich schuldig fühlt. Schnell wende ich mich ab und verdränge alle lästigen Gedanken. In einer halben Stunde muss ich im Ratskeller sein. Schnell ziehe ich mich an, renne die Treppen hinunter, steige in mein Auto und düse die 1000 Meter meinem Ziel entgegen.

Gerade noch rechtzeitig 19.30 Uhr betrete ich das Lokal. Christian Baumert, ein alter Schulfreund, hatte mich gestern angerufen und etwas von einer Entdeckung gefaselt. Seit ich für das Nürnberger Tageblatt kleine Storys schreibe, ging er mir ständig mit neuen Geschichten auf die Nerven. Am Ende kam nie etwas Spektakuläres dabei heraus. Und doch, irgendetwas war anders in letzter Zeit. Ich kam nur nie dahinter was es war. Einfach ein Gefühl, mehr nicht. Aber was hatte das mit Christian zu tun. Ich schaute mich im rauchverhangenen Gastraum um und konnte ihn nicht entdecken. 19.45 Uhr, wo bleibt der Kerl nur? An der Theke bestellte ich mir ein Weizen und tauschte ein paar belanglose Worte mit dem Schankwirt aus.

Durch die alten Katakomben unter der Stadt huschte ein schwarzer Schatten. In seinem Gefolge funkelten winzige grüne Fünkchen und erzeugten einen schillernden Schweif. Unterhalb des Ratskellers durchflog es die Verbindungsschächte, welche alle drei Stockwerke der alten Bierkeller miteinander verbanden und steuerte auf die seit langem verschlossene Eichentür eines Seitenzugangs zu. Schwere Schläge erschütterten die Hunderte von Jahren alten Holzbohlen. Dann trat Stille ein.

20.00 Uhr. Mein Weizen ist leer, Christian ist immer noch nicht da und der Wirt geht mir langsam auf den Nerv. Ich zahle und will das Lokal verlassen, da ertönt lautes durchdringendes Schlagen durch die Räume der Gaststube. Die Gläser klirren und der Wirt flucht vor sich hin. „Punker, Gesindel immer diese Alternativen! Hätte ich schon längst an die Wand gestellt.“ Packt sich hinter der Tür eine Eisenstange und stürmt nach draußen. Ich natürlich hinterher. Vielleicht gibt es doch noch eine Story abzufassen.
In der Nacht ist nicht viel zu sehen. Die Laternen leuchten schwach und es ist wieder alles ruhig. Vorsichtig schaute der nun etwas ruhig gewordene Gastwirt um die Ecke des alten Patrizierhauses. Nichts, kein Mensch, kein Lärm einfach nur Stille.
Ein gellender Schrei ließ mich zusammenzucken. Die Stahlstange meines Vordermannes fiel klirrend zu Boden und grässlich klingende Laute ertönten durch die Nacht. Oh Gott, was war hier nur los? Die korpulente Gestalt vor mir verschwand um die Ecke und Geräusche von Brechreiz durchbrachen die Nacht.
Vorsichtshalber machte ich meine Kamera, die ich immer bei mir trug, startklar und sprang um die Hausecke. Ich landete direkt vor einer alten Eichentür. Da war er, Christian, zu spät aber er war da.
Der leblose Körper war an die Tür praktisch angetackert. Sein Fleisch an Armen, Beinen und Hals war so in das Holz geschlagen, das sich der Körper nicht von seinem Untergrund lösen konnte. Der Brustkorb war aufgerissen und gähnte mir leer entgegen. Keine Gedärme, keine Innereien, wie ausgekratzt, als wenn er noch säuberlich ausgelöffelt worden ist.
Das Gekotze des Wirtes wurde mir nun doch etwas zuviel und da auch schon die Polizei im Anmarsch war machte ich schnell noch ein paar gute Fotos und verdrückte mich.
Zu Hause angekommen, schlug ich mir zwei Eier in die Pfanne und kappte erst einmal eine Flasche Bier.
Was war nur mit dem Christian passiert? Nachdenklich ging ich ins Bad und begann den Film zu entwickeln.

Aus dem Eck oberhalb des Duschvorhangs starten zwei gierige Augen auf den gebückten Menschen unter ihnen. Der spitze gekrümmte Schnabel beugte sich nach vorn und zwei messerscharfe Krallen stützten sich auf das Gestänge des Vorhanges. Im Dämmerlicht des Zimmers schimmerten grünlich fluoreszierende Fünkchen.

Es ist Dienstag, 17.00 Uhr. Tief unter der Burg sitzt ein vogelähnliches Wesen. Sein krummer Schnabel berührt den Deckel des vor ihm liegenden Buches und bringt es zum Leuchten. Grünes Licht erhellt den gewölbten Raum. Es wird immer heller und heller, seine Strahlen durchbrechen den porösen Sandstein und dringen unsichtbar an die Erdoberfläche. Menschen schreien ihre Qualen dem zu Ende gehenden Tag entgegen. In der Fürther Strasse 253, Altbau, 3. Stock presst ein starker Druck das letzte Blut aus der Wanne. Die entwickelten Filme verschwinden im Abfluss und ein Atom rast auf die letzten Molekühle zu. Ein Blitz dringt grell durch den Raum.

© Michael Metzner

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.00 Uhr
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