'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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Das Ruhrgebiet ist etwas besonderes, weil zwischen Dortmund und Duisburg, zwischen Marl und Witten ganz besondere Menschen leben. Wir haben diesem Geist nachgespĂĽrt.
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November 2002
Allein Zuhause
von Matthias Marzy


Dieses Buch war das mit Abstand spannendste, das sie in der letzten Zeit gelesen hatte, dachte sie bei sich, als ihre Augen über die letzten Zeilen hinweggefegt waren. Die morbide Person des Frauenmörders war auf solch eine lebendige Art und Weise dargestellt, dass man meinen könnte, es mit einer realen Persönlichkeit zu tun zu haben. Gott sei Dank lebte der Mörder nur in der fiktionalen Welt des geschriebenen Wortes. Sie war eine richtig kleine Leseratte und Horror oder sehr spannende Thriller Literatur hatte es ihr einfach angetan. Ein einsamer, mutiger Protagonist gegen das Böse, leider war sie nicht so ein Heldennatur und Pazifist. Gemächlich erhob sie sich aus dem Schaukelstuhl. Der vorhergesagte Sturm war tatsächlich gekommen, dachte sie bei sich, als sie einen Blick auf die große Uhr, die über dem Kamin hing, warf und das Flackern des fast herab gebrannten Feuers bemerkte. Auch fiel ihr jetzt zum ersten Mal das Toben und Pfeifen auf, das das ganze Haus umgab, die Fenster erzittern ließ und die Welt da draußen in eine tobende Hölle verwandelte. Sonnenschein war ihr ohnehin lieber, so ein Sturm mit all seinem pompösen Getöse bedrückte sie immer – verängstigte sie und ließ sie einen sehr unruhigen Schlaf haben. Um auf andere Gedanken zu kommen dachte sie an ihre Großeltern zurück, die ihr das abgeschieden gelegene Haus am Rande der Ortschaft vermacht hatten. Es war umgeben von einem großen Garten, mittlerweile erinnerte ihr Garten immer mehr an eine Wildnis. Sie war einfach viel zu faul, sich um die Gartenarbeit zu kümmern. Doch nun war es langsam Zeit ins Bett zu gehen, immerhin hatten die Zeiger die zwölfte Zahl – Mitternacht – schon hinter sich gelassen. Morgen musste sie wieder an ihren ruhigen Arbeitsplatz zurück, sie unterrichtete an der nahen Universität. So machte sich Christina Wilson auf den Weg in ihr kleines, behagliches, aber leider leeres Bett. Durch ihre momentane, einsame Situation leicht betrübt, legte sie sich nieder. Nur schnell einschlafen, morgen war wieder ein neuer Tag, was dieser bringen würde – Gutes wie Schlechtes, konnte keiner wissen.

Christina hatte sicherlich nicht länger als drei Stunden geschlafen, als sie abrupt von etwas aufgeweckt wurde. Der Sturm war mittlerweile verklungen, doch ein Geräusch hatte sich in ihr Unterbewusstsein eingeschlichen und sie aus ihren Träumen gerissen. Da war es schon wieder, ein Kratzen und Schaben, wie es Tiere verursachen könnten, oder ein Mann der um das Haus schlich. Ein Mann mit dem einzigen Ziel, sie zu töten – lächerlich. Sie sollte in Zukunft vor dem Einschlafen kein Buch über Mörder lesen. Ein Tier, das musste es einfach sein. Sollte sie nachsehen, ihr Gewissen beruhigen, oder doch lieber sich unter der Bettdecke verkriechen und darauf hoffen, dass alles gut gehen würde? Die Frage, ob und wenn, war eigentlich hinfällig. Ihre einzige Möglichkeit, heute noch friedlich weiter schlafen zu können, war die Gewissheit, dass alles in Ordnung war. So packte sie ihre kleine Portion Mut zusammen und schwang die Beine aus dem Bett. Tastete vorsichtig, genauestens darauf bedacht, kein unnötiges Geräusch zu machen, nach ihren Hausschuhen. Als sie einen Moment über ihre gegenwärtige Situation nachdachte, überkam sie ein mitleidiges Lächeln. Mitleid für sie selbst. Sie, die hier saß und sich wie ein kleines Schulmädchen aufführte, das Angst davor hatte, alleine in den dunklen Keller zu gehen. Wieder frischen Mutes, schlug sie rasch die Decke vollständig zurück. Durchschritt ihr Schlafzimmer und machte sich daran, über die Treppe in das Erdgeschoss hinunter zu steigen. Plötzlich hielt sie jäh im Schritt inne, war das ein Schatten da vor dem Fenster? Schlich jemand um ihr Haus? Unmöglich hier in ihrem Viertel. Sicherlich nur ein Hirngespinst. Doch mittlerweile war sie sich ihrer Sache nicht mehr ganz sicher, immerhin las man jeden Tag von den unzähligen Verrückten, die sich da draußen in dieser kranken Welt herumtrieben.

Doch was hatte ein Verbrecher hier in diesem kleinen, überschaubaren Vorort verloren? Was sollte sie nur tun, etwa die hiesige Polizei verständigen und als hysterische Frau gelten? Nein, man musste seine Furcht einfach unter Kontrolle haben, immerhin schien nichts weiter zu passieren. Gerade als sie in ihrem Arzneischränkchen nach einer Schlaftablette kramte, vernahm sie an der Hintertür ein Kratzen. Jetzt warf sie ihre anfängliche Vernunft endgültig über Bord. Sie musste die Polizei verständigen, selbst wenn hier kein Mörder herumlief, sondern nur ihre Fantasie mit ihr durchging. Das Telefon befand sich an der Wand direkt neben der Küche. Geduckt, so dass man sie von außen nur schwer erspähen konnte, schlich sie zum Hörer. Ihre zitternde Hand versuchte krampfhaft die richtige Nummer der Polizei zu wählen. Doch erst nach dem dritten Versuch gelang es ihr. Hoffnungsvoll lauschte Christina auf das rettende Freizeichen und die darauf folgende beruhigende Stimme eines Beamten, aber diese blieb aus. Die Leitung war tot! Ein komisches Knacken war in der Leitung zu vernehmen, es klang irgendwie nach entfernten Atemzügen. Fassungslos weiteten sich ihre Augen, blitzschnell schleuderte sie den Hörer wie eine giftige Schlange von sich. Ihr Handy, sie hatte ein Handy im Auto liegen. Doch das Auto befand sich draußen– im Dunklen. Sie hätte es zwar in die Garage stellen können, aber dafür war sie einfach zu faul. Da kam ihr ein rettender Einfall. Ein Freund hatte ihr einst eine Pistole zu ihrem Schutz geschenkt, an Weihnachten. Den kleinen Revolver hatte sie im Wohnzimmer hinter einem Regal gehabt. Sie hasste Waffen, doch jetzt, wo war sie? Da fiel es ihr wieder ein: Erst vor einigen Jahren hatte sie ihn hinauf in ihr Schlafzimmer geschafft. Das Verschwindens eines ihrer Nachbarn – Pete O’Harra, gab den Ausschlag dafür, den Revolver an einen Platz in der Nähe ihres Bettes zu bringen. Damals ging das Gerücht um er könnte ermordet worden sein. Die Waffe lag noch immer in ihrem Schrank. Geschwind eilte sie die Treppe hinauf, wenig später bewaffnet wieder herunter. Ein Blick auf ihre Uhr rückte die Hoffnung auf eine baldige Dämmerung in weite Ferne. Langsam, die handliche Pistole schützend von sich gestreckt, näherte sie sich der Eingangstür, bereit, sich ihren Ängsten zu stellen.
Bis zu ihrem Auto waren es nur ein paar Schritte – ein Katzensprung, bei hellem Tage nicht mehr als der Weg vom Bad zum Schlafzimmer. Doch im gespenstischen Mondlicht, begleitet von dem Schreien einer entfernten Eule, streckte sich diese Distanz wie Kilometer dahin. War da nicht ein Knacken im Gestrüpp, da eine schnelle, schemenhafte Bewegung, kaum wahrzunehmen? Zu ihrer Gänsehaut die sie schon hatte, gesellten sich nun zu Berge stehende Nackenhaare hinzu. Wer trieb hier sein Spiel mit ihr, Feinde hatte sie doch keine. Mit eiligen Schritten bewegte sich Christina auf ihren Wagen zu, nur das Handy einschalten, die Polizei anrufen und alles würde wieder gut werden. Prompt verlor sie in ihrer Aufregung den Autoschlüssel. Wo war er nur? Immer hektischer wurden ihre Bewegungen, Tränen der Verzweiflung rannen mittlerweile wie reißende Flüsse ihr Gesicht herab. Endlich fand sie ihn! Er lag schon die ganze Zeit auf dieser, sehr offensichtlichen Stelle. Wie konnte sie ihn nur übersehen? Musste sie unbedingt einen schwarzen Schlüsselanhänger nehmen? Ihre Abneigung gegen allzu grelle Farben machte sich hier richtig bezahlt. „Sie sind am falschen Ort, junge Frau“, flüsterte ihr plötzlich eine rauchige Stimme ins Ohr. Gehetzt fuhr sie herum und drückte unbewusst den Hahn durch, ein Schuss löste sich. Entsetzt blickte sie in das Gesicht eines alten, adrett gekleideten Herrn der zu dieser Stunde mit seinem Hund unterwegs war. „Mein Hund, ich suchte nur meinen Waldo“, gab er fassungslos von sich. „Nachts kann es hier draußen unter Umständen gefährlich werden“, stammelte er noch, bevor er aus einer Wunde im Brustbereich blutend, zusammenbrach. Der Köter begann Christina wie wild anzukläffen, doch als sie ihm einen leichten Tritt versetzte, machte er sich jaulend davon.

Was hatte sie getan? Er war tot! Stellte sie fest, als sie seinen Puls fühlen wollte. Was sollte sie nur tun? Die Polizei, war nun ihr Feind und würde ihr sicherlich nicht glauben. Wohin nur mit der Leiche? Einer plötzlichen Eingebung folgend nahm sie den Körper auf ihre Schultern und schleppte ihn nach hinten in den Garten. Das Adrenalin hatte ihre Angst mittlerweile ganz vertrieben, und so fand sie den Weg zum Komposthaufen – dem idealen Versteck – problemlos. Sie hatte den Haufen schon seit Ewigkeiten nicht mehr benützt. Mühsam schob sie das verrottete, nasse Laub und einen Großteil der guten Düngererde zur Seite, um Platz zu machen. Was sie unter dieser Schutzschicht aus Erde zu sehen bekam, ließ sie in ihrem Hoch für einen kurzen Moment stocken – Knochen und eine Uhr. Die Knochen stammten gewiss von einem Tier, das hier im Winter verendet war. Doch wie kam diese Uhr in ihren Humus? Mit diesem Problem konnte sie sich morgen auch noch beschäftigen. Schnell begrub sie ihr Ärgernis, als Christina anschließend auf ihr Werk herabblickte musste sie feststellen, dass die Leiche gänzlich ihren Blicken entschwunden war. Zuerst hatte sie Erde darüber gestreut, dann reichlich Blätter anschließend das Ganze glatt getreten. Warum wusste sie wie man in ihrem Garten so gut Tote verbarg – es war irgendwie eine instinktives Wissen, dessen Grundlage ihr verschlossen blieb. Langsam machte sie sich auf den Weg zurück in ihr Bett. Oben angekommen, wurde ihr plötzlich ziemlich schwindlig und sie fiel taumelnd ins Bett, wo sie regungslos lag, bis der Wecker losging.

Was hatte sie letzte Nacht getan? ging es durch ihren Kopf, als sie mit abscheulichem Halsschmerzen erwachte, sie würde sicherlich bald krank sein. Erschrocken musste sie feststellen, dass sie in einer Hand eine Pistole hielt. Schlafwandelte sie etwa? Wenn die Waffe geladen wäre, hätte sie sich damit im Schlaf unabsichtlich erschießen können. Gespannt ließ sie das Magazin herausfallen. Tatsächlich sie war geladen, doch es fehlten zwei Kugeln. Wo waren diese geblieben, für diese und ähnlichen Fragen musste wohl der Nachmittag herhalten. Jetzt war es an der Zeit aufzustehen, ihre Studenten erwarteten sie schließlich zu ihrer Psychologie-Lesung: „Die Macht der Fiktion und wie man seine Ängste unter Kontrolle hat.“


The End

(c) Matthias Marzy

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.16 Uhr
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