'paar Schoten - Geschichten aus'm Pott
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November 2002
Kuss der Schneeprinzessin
von Hanno Erdwein


Satt und zufrieden. Randvoll Erotik. Jörg streicht sich genüsslich übers Kinn, wo vor Minuten noch Ritas Lippen lustvoll gesaugt hatten. War das eine Nacht! Vorsichtig, um niemanden zu wecken, schleicht er die Holzstiege abwärts. Denkt flüchtig an Doris, die daheim das kalte Ehebett füllt. Doris und Rita! Gegensätze wie Tag und Nacht. Rita, jung, knackig und voller Einfälle. Seine Frau Doris, eine Katastrophe! Sex erträgt sie mit zusammengebissenen Zähnen, diese Betschwester! Ärgerlich wischt er Gedanken an Doris von der Stirn. Holt sich Ritas laszive Formen ins Gedächtnis und verspürt schon wieder Lust. Nochmal zurück? Ach nein. Bereits nach Mitternacht und morgen muss er zeitig zu einem Kunden hinaus. Seufzt ergeben. Bückt sich und bindet den Schuhriemen fester. Angeblich hatte er heute Abend eine langwierige Besprechung. So lügt er sich allwöchentlich einen freien Abend für Rita zusammen. Rita,. die goldige kleine Tippse, die er bei Koch und Söhne im Vorzimmer kennen gelernt hat. Beim dritten mal brachte er ihr Rosen mit. Beim vierten mal fielen sie abends regelrecht übereinander her. "Lass dich doch endlich scheiden", bittet sie ein übers andere mal. Scheiden? Ach was. Dann ist der Spaß auch gleich zum Teufel. Gerade das Heimliche gibt der Sache doch den richtigen Kick. Aber das verstehen Frauen eben nicht. Sie wollen den Mann mit Haut und Haar. Und wenn man in der Falle sitzt, ist die Potenz auch perdu.

Noch einmal übers Haar gestrichen. Hose auch richtig zu? Na dann! Wind reißt ihm die Haustür aus der Hand. Weht Schnee herein. Er schlägt den Mantelkragen hoch. "Immer diese Wetterüberraschungen!", flucht er. Nach drei Jahren hat er sich ganz und gar nicht an das Leben im Gebirge gewöhnen können, Jörg Tappert, der rheinische Stadtmensch. Anders Doris. Sie fühlt sich im Ländlichen eher zu Hause. Seine diversen Eingaben in die Chefetage halfen nichts. "Tappert, Sie sind der richtige Mann für die hartschädeligen Hochgebirgler." Basta! Auch der zarte Verweis auf die Herzprobleme halfen nichts. "Mensch Jörg! Du bumst doch alles, was nicht rasch genug auf den Bäumen ist! Komm mir bloß nicht mit Deinem schwachen Herz!" War Personalchef Kunos augenzwinkernder Kommentar. Es lohnt eben nicht, bei all zuviel Cognac mit seinen Amouren anzugeben. Herz? Natürlich fühlt er den ziehenden Schmerz in der Brust. Und die Tropfen stehen ausgerechnet auf Ritas Nachtschränkchen. Nochmal rauf? Besser nicht. Die Versuchung ist zu groß. Mensch! Rita ist aber auch ein Weib!

Sturmböen. Schneegestöber. Und das Mitte Oktober! Zu dumm, dass er den Wagen nicht mit hat. "Liebling, kannst du nicht ausnahmsweise zu Fuß in die Firma?" Ein Blick auf den strahlenden Sonnenschein. "Hier sind die Autoschlüssel. Aber zerbeul nicht wieder den Kotflügel an einer grasenden Kuh." Das war gemein. Doris wütender Blick tat dennoch gut. Sie weiss, dass er Fußmärsche hasst. Und weshalb musste sie ausgerechnet für ihre teure Frisur in die Kreisstadt fahren, wo doch ein Friseurladen am Ort existiert? Jetzt muss er die weite Strecke zu Fuß bewältigen. In der Nachmittagssonne war das ein leidlicher Spaziergang. Aber nun bei diesem Unwetter mit einem dünnen Mantel, der kaum Nässe und Kälte abhält. In Halbschuhen, wo der Schnee bereits knöchelhoch liegt. "Willst du nicht besser ein Taxi nehmen Liebling?" Er glättete Ritas Sorgenfalten durch Küsse: "Keine Angst. Ich nehm die Abkürzung." Hätte doch besser auf sie hören sollen. Jetzt umkehren? Jetzt keine Blöße geben. Hält ihn hernach noch für einen Waschlappen. Schneetreiben derweil immer heftiger. Und kein Schwein auf der Straße. Autos zum Anhalten? Fehlanzeige um diese Zeit. Kunststück! Bei dem Wetter! Kämpft sich verbissen zur Kreuzung vor, hinüber zur Telefonzelle. Muss erst die Schneewehe dort wegräumen. Dann Enttäuschung, Flüche. Idioten haben den Hörer abgerissen. Wütend tritt er gegen den Kasten, dass es kracht. Also weiter und wieder ins weiße Chaos hinaus. Gehen wird immer beschwerlicher. Zehen taub. Füße erstarren. Fühlt kaum noch Beine. Bleibt alle paar Schritte stehen, massiert Extremitäten. Erreicht heftig atmend eine weitere Kreuzung, den Eingang zum Wettersteig. Beleuchtung wird spärlich. Verliert sich ganz. Verirren? Ach was! Er wird sich zurechtfinden. Ist den Pfad in den drei Jahren oft genug gegangen. Würde ihn mit geschlossenen Augen gehn. Bei normalem Wetter - versteht sich. Aber das hier! Nur weiter! Nicht stehen bleiben! Auch wenn ihm der Schneesturm den Atem nimmt. Schritt um Schritt kämpft er die Beine frei. Weißes hier angeweht und wadenhoch. Ist das noch Weg? Stapft er nicht quer durch Wildnis? Hält an. Greift sich ans hart pochende, leicht stolpernde Herz. Gähnt in die erstarrte Hand. Nur einen Augenblick ausruhen. Mal kurz an den Baum lehnen und Atem schöpfen. Puls flimmert, rast hektisch weiter. Jaja, hat sich ganz schön bei Rita ausgepulvert. Rita, die kleine Schlampe. Versteht es raffiniert, ihn immer wieder kommen zu lassen. Lippen haben noch den süßlichen Nachgeschmack und er lehnt den Kopf an den Stamm.

"Hallo Jörg", kichert es leise neben ihm. Er reißt seine Augen auf, glaubt, sie aufzureißen. Schneegriess verklebt Wimpern. "Rita, bist dus?" Kichern wird stärker. "Dummer Jörg. Rita liegt in ihrem Bett. Träumt von deiner Manneskraft." Er lächelt: "Das glaub ich." Etwas presst sich kalt an ihn. "Wärme mich, du Starker!" Geschmeichelt greift er nach ihr. Umfasst sie mit froststeifen Armen. Fühlt vage, dass sie unter dünnem Mantel nackt ist. Ein Abenteuer hier im Schnee? Warum nicht?! Lust hat er für einen ganzen Stammtisch. "Lieb mich! Gib mir dein Feuer!" Je stärker er presst, um so kälter wird ihm. Beugt sich vor. Fragt in ihr starrkaltes Gesicht: "Wer bist du?" Da reißt sie seinen Kopf zu sich hinab. Haucht in sein Ohr: "Die Schneeprinzessin." Drückt Frostlippen auf die seinen. Letzte Wärme entweicht Jörgs Mund. Zieht ihn unter den Schnee. "Komm mit ins Bett." Versinken in einer innigen, endgültigen Umarmung.

Tage später findet man Jörg Tappert. Erfroren. Frau Doris steht mit trockenen Augen an seinem Grab. Dann sieht man dort ab und an einen bescheidenen Blumenstrauß. Niemand weiß, wer ihn vorbeibringt.

© 3. Dezember 1999)

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.18 Uhr
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