Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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November 2002
Essen vom Nachbarn
von Luisah & Desiree Hoese


Der alte Kombi war der einzige Wagen auf der Straße. Das Radio im Inneren des Autos wurde vom lauten Donner übertönt. Blitze überzogen den Himmel und erleuchteten alles taghell. Dann setzte der Regen ein, und das Donnern wurde schwächer, doch das Trommeln des Regens auf dem Wagendach war fast ebenso laut wie vorher der Donner und übertönte noch immer die Rockmusik, die nur leise aus dem Radio erklang.
Das Auto fuhr von der Landstraße ab und durchfuhr den Vorort der kleinen Stadt. Vor einem etwas abseits stehenden Haus hielt der Wagen endlich an. Vielleicht lag es an der Dunkelheit, dass das Haus so abweisend wirkte, bei Tag mochte es gemütlich und einladend aussehen. Die zwei im Auto verließen rasch ihr Gefährt und rannten auf das Haus zu.
„Ist es nicht wunderschön, Liebling?“
Die Sprecherin war dünn und hochgewachsen. Das lange Haar klebte ihr nass ums Gesicht. Inzwischen versuchte ihr beleibter Begleiter ungeduldig die Tür aufzuschließen, während ihm der Regen in den Nacken rann.
„Mist, sie klemmt!“
„Lass mich mal, Robert!“ Die Frau drängte den Mann beiseite und tatsächlich, innerhalb weniger Augenblicke bekam sie die Tür auf. Grummelnd folgte ihr der Mann hinein. Im Haus roch es muffig. Ein Hauch von Essig und alten Socken lag in der Luft.
„Buäh, hier ist ja seit Ewigkeiten nicht mehr gelüftet worden!“
Der Mann schnupperte. „Ich riech nichts.“
Er ging durch zu dem Raum, der später sein Arbeitszimmer werden sollte. „He Jenny, da liegt ein toter Vogel auf dem Boden!“
„Wirf ihn eben weg!“
„Ich dachte, sie übergeben das Haus schlüsselfertig.“
„Was du immer zu meckern hast.“
Jenny sah sich nur kurz im Flur um und kehrte dann zurück zum Auto, um den Käfig mit der schwarzen Katze zu holen.
Während ihr Mann noch in seinem zukünftigen Arbeitszimmer saß und sich die beste Stelle für den Arbeitstisch überlegte, ging sie im Haus umher und versuchte zu entscheiden, welches der zahlreichen Zimmer ihr gehören sollte.
„Liebling, ich nehme das oben rechts.“
„In Ordnung!“ Robert quälte sich noch einmal durch den Regen und holte seine Stereoanlage aus dem Kofferraum. Bald darauf scholl laute Musik durch das Haus.

Der Lärm weckte die Nachbarin, die ans Fenster ihres Schlafzimmers schlurfte und böse auf das hellerleuchtete Nachbarhaus blickte. „Wartet es nur ab“, murmelte sie. „Das wird euch noch vergehen.“
Endlich wurden die frischgebackenen Hausbesitzer müde, und Ruhe kehrte ein.

Am nächsten Tag kam der Umzugswagen. Es dämmerte bereits wieder. Die wenigen Habseligkeiten und Möbel der beiden waren schnell ausgepackt und ins Haus geschafft. Robert gab dem Fahrer ein Trinkgeld und kehrte dann zurück ins Haus. In der Küche stand Jenny am Ofen und strubbelte sich durch die Haare, wie sie es immer tat, wenn sie ratlos war oder aufgeregt.
„Du Robert, da ist eine Ratte im Ofen.“
„Echt?! Lass mal sehen!“ Er beugte sich vor und steckte den Kopf in den Ofen, was angesichts seines runden Bauches nicht ganz einfach war. „Eine Ratte“, bestätigte er. „Eine echt widerliche, fette und tote dazu.“
„Komm, das ist hier nicht eines deiner Computerspiele. Schaff das Biest nach draußen.“
„Willst du etwa kochen?“
„Unsinn, aber tote Ratten gehören eben nicht in die Küche.“
„Wie mein Schatz befiehlt, soll es geschehen. Der enorm gutaussehende weisse Ritter macht sich auf den Weg zu den Mülltonnen, um seiner Herzensdame zu gefallen.“ In der Tür drehte sich der weisse Ritter noch einmal um. „Wir hätten das alte Zeug der Vorbesitzerin nicht mitkaufen sollen. Wer weiß, was wir noch für Aas finden.“
„Sehr witzig!“
„Und nebenbei - mein dummes Computerspiel hat uns erst ermöglicht, den Kasten hier zu kaufen.“
„Sei nicht beleidigt! Außerdem habe ich die Geschichte erfunden.“
„Zum Teil.“
„Den besten Teil.“
Die nächsten drei Tage über waren die beiden damit beschäftigt, sich häuslich einzurichten.

Ihre Nachbarin beobachtete sie durch das alte Fernglas ihres verstorbenen Mannes. Dabei schüttelte sie immer wieder den Kopf. „Diese Freaks!“ schimpfte sie. „So ein fetter Kerl - und dann diese Vogelscheuche von Frau.“ Sie beugte sich hinunter zu ihrem asthmatischen Pudel und strich ihm über die Locken.
Das Telefon klingelte. Die Frau sah auf ihre Uhr; es war genau sechs Uhr am Abend. „Das wird Gaby sein!“ erklärte sie dem Pudel und lief rasch zum Telefon. Es war wirklich ihre Tochter. Schon nach kurzer Zeit kamen sie auf die neuen Nachbarn zu sprechen. „Stell dir vor, Kindchen; die tragen immer schwarze Klamotten, und dann sind die auch noch geschminkt, selbst der Mann. Wie auf diesen Musikvideos, die auf diesem schrecklichen Sender laufen, den sich deine Kinder immer ansehen. Wo die nur das Geld für das Haus herhaben?“
Endlich musste sie auflegen, damit es nicht zu teuer wurde. Mit einer Tasse Kaffee kehrte sie zurück zu ihrem Beobachtungsposten am Fenster.
Wenn nur diese jämmerlichen Freaks nicht gekommen wären! Seit fünf Jahren stand das Haus nun leer, und sie und ihre Tochter hatten so sehr gespart und jeden Pfennig zweimal umgedreht, und endlich war das Geld beisammen gewesen, um es zu kaufen. Sie hatten sich alles so schön ausgemalt; die Gärten hätten sie zusammenlegen können, und mit der ewigen Telefoniererei wäre Schluß gewesen. Sie hätten sich jeden Tag sehen können. Alles vorbei! Wegen dieser schrecklichen Leute, die einfach daherkamen und ihnen das Haus vor der Nase wegkauften.

„Schatz, da ist jemand draußen an der Tür!“
„Geh du hin.“
Jenny war gerade dabei, die Vorhänge im Bad aufzuhängen. Sie seufzte und kletterte von der Leiter. Wenn Robert an seinem Computer klebte, war mit ihm nicht zu rechnen. Vor der Tür stand eine alte Frau mit spitzer Nase und falschem Lächeln. Am liebsten hätte Jenny die Tür sofort wieder zugeschlagen. Sie zauberte ein ebenso falsches Lächeln in ihr eigenes Gesicht. Ihr Blick fiel auf einen Teller mit Keksen, wahrscheinlich selbstgebacken.
„Sind die für mich? Wie nett!“ Sie rupfte der Frau die Kekse aus der Hand. Ob sie die Tür jetzt wohl wieder schließen durfte? Nein, wohl noch nicht. Das Lächeln der Alten geriet ins Wanken. „Ja, ja, schon. Nehmen Sie nur. Entschuldigen Sie die späte Störung, aber vorher war ja bei Ihnen alles dunkel. Ich bin Gisela Brecht, Ihre Nachbarin; in dem Haus gleich rechts hier wohne ich.“ Sie wies auf ein Haus, an dem der Gipsstuck wie Zuckerguss klebte und dessen Vorgarten eine Unmenge von Rehen und Gartenzwergen zierte.
„Bezaubernd“, sagte Jenny.
„Mein Mann und ich leben hier schon seit unserer Hochzeit. Nun ja, mein Manfred ist ja nun schon vor einer ganzen Weile von uns gegangen.“
Sie redete noch weiter, doch Jenny hörte nur noch mit einem halben Ohr zu. Im Geiste überlegte sie, welche Farbe der Flur bekommen sollte. Robert war natürlich für Schwarz, aber das war ja immer so. Wenn es nach ihm ginge, gliche ihr ganzes Haus der Gruft des Obervampirs aus dem Computerspiel, das sie beide erfunden hatten.
Endlich merkte sie, dass die Frau aufgehört hatte zu reden und sie erwartungsvoll ansah. Was hatte sie nur gefragt? Sie hatte doch etwas gefragt? Oder wollte die Schreckschraube ins Haus? Jenny war vorsichtig damit, wen sie ins Haus bat. Eine Angewohnheit aus alten Tagen. Hinter ihr maunzte die Katze und sah die Alte mit grünen Augen vorwurfsvoll an.
Jenny nahm das Tier hoch und vergrub ihr Gesicht in dem weichen Fell. „Hat mein Liebling Hunger?“ murmelte sie zärtlich.
„Meine Frage war doch nicht etwa indiskret?“ Die Parodie eines süßen Lächelns huschte über die verwitterten Züge der Alten. „Arbeiten Sie beide?“
Ach so, es ging ums Geld.
„Ab und zu mal“, sagte Jenny lässig und genoss, wie die Züge der Frau gefroren. „Immer, wenn wir Geld brauchen.“
Sie tauschten noch einige Höflichkeiten aus, doch jetzt hatte es die Frau eilig. Jenny schloss lächelnd die Tür. Leute wie die Alte mochten es nicht, wenn man das Geldverdienen auf die leichte Schulter nahm. Für sie und ihresgleichen war das ein heiliger Akt, dem mit Respekt begegnet werden musste. Auf dem Weg nach oben warf sie die Kekse in den Mülleimer. Den Teller stellte sie auf die Anrichte.

„Schatz, da ist ein Skelett im Keller!“
„Spinner!“
„Nein, ehrlich.“
Jenny verdrehte die Augen. Das war typisch Robert: er sollte im Keller eine Leine spannen und die Wäsche aufhängen. Natürlich konnte er das nicht erledigen, ohne Faxen dabei zu machen. Sie ging hinunter zu ihm und stieß sich dabei den Fuß an einer der beiden Kisten, die noch immer im vorderen Kellerraum standen. „Mist!“ fluchte sie. „Wir müssen sie unbedingt weiter nach hinten schaffen.“
„Aber wir müssen da doch immer dran“, maulte Robert.
„Du und deine verdammte Bequemlichkeit.“ Jenny seufzte. „Die Kisten stehen hier einfach nicht gut. Und jetzt zeig mir dein blödes Skelett! Oder hat es sich inzwischen in Luft aufgelöst?“
„Mitnichten, meine ungläubige Tausendschöne.“ Triumphierend wies Robert in die Ecke, und da lag wirklich ein Skelett. Es war halb mit Schutt und Gerümpel bedeckt.
Jenny runzelte die Stirn. „Der Keller muss dringend aufgeräumt werden. Außerdem ist das ein ziemlich müder Scherz. Man sieht doch schon von weitem, dass das ein Plastikskelett ist.“
„Ja, so eins, was beim Onkel Doktor immer herumhängt“, bestätigte Robert. „Aber ich habe es dort nicht hingelegt.“ Er sah sie besorgt an. „Ganz ehrlich nicht, holde Gebieterin.“
„Aber wer war es dann?“
„Es kommt noch schlimmer!“ Robert ging zu Jenny hinüber und legte seinen Arm um ihre Schultern. „Das Ding lag gestern noch nicht hier. Ich habe mir den Keller kurz nach dem Aufstehen schonmal angesehen, und da war kein Skelett.“
„Dann war also jemand hier unten, während wir geschlafen haben?“ Jenny wurde noch blasser, als sie ohnehin schon war.
„Wir werden herausfinden, was das zu bedeuten hat“, versprach Robert, ganz edler Ritter, obwohl er sich inzwischen selber sehr elend fühlte.
„Eigentlich läuft das schon seit unserem Einzug. Diese toten Tiere, die an den unmöglichsten Stellen im Haus auftauchen.“ Jenny schniefte. „Meinst du, da will uns jemand vergraulen?“
Robert runzelte die Augenbrauen und nun sah er wirklich ein wenig gefährlich aus. „Der soll sich nur in Acht nehmen.“ knurrte er.

Gisela holte die Tüte mit der toten Katze aus dem Kühlschrank. Darauf freute sie sich schon seit Tagen. Es war ganz leicht gewesen, dem Mistvieh das vergiftete Futter zu geben. Ja, was die Schlauberger von drüben nicht wussten, war, dass sie schon seit Jahren einen Schlüssel zum Nachbarhaus besaß. Sie hatte die Blumen gegossen, als die alte Besitzerin das erste Mal ins Krankenhaus gekommen war. Seit die alte Hertha tot war, hatte niemand nach dem Schlüssel gefragt, und da hatte Gisela ihn behalten. Immer wieder war sie nach drüben gegangen und hatte in der Vorstellung geschwelgt, dass ihre Tochter dort leben würde. Aber noch war es nicht zu spät - das mit der Katze würde den beiden schon zeigen, dass sie nicht willkommen waren!

„Das geht zu weit!“
Jenny hockte weinend auf dem Küchenfußboden. Neben ihr lag die tote Katze. Robert hatte am Maul des Tieres gerochen und den leicht süßlichen Geruch entdeckt, der verriet, dass dieser Tod kein Zufall war. Wütend ging er im Raum auf und ab, seine grünen Augen glitzerten fast so stark, wie die der Katze es immer getan hatten.
„Wer immer das war, wir werden ihn uns schnappen.“
Jenny sah auf. Ihre Nase war rotzverschmiert, und die Tränen hatten ihre Wimperntusche verlaufen lassen, aber sie sah nicht minder entschlossen aus. „Wer immer das war, er kommt immer tagsüber, wenn wir fort sind.“
Robert lächelte böse. „Aber jetzt werden wir auf ihn warten.“

Als Gisela zwei Tage später die Haustür vorsichtig öffnete, lag der Flur dahinter in tiefer Dunkelheit. Ihre komischen Nachbarn hatten alle Läden heruntergezogen und vor das Flurfenster, das keinen Laden besaß, hatten sie ein Tuch aus weinrotem Samt gehängt. Gisela war so damit beschäftigt gewesen, den Lichtschalter zu suchen, dass sie nicht auf den Boden geachtet hatte und über ein Band gestolpert war, das jemand kurz oberhalb des Bodens gespannt hatte. Was war das nur für ein Unsinn? Gisela horchte, aber als nichts geschah, ging sie einfach weiter. In ihrer rechten Hand hielt sie einen kleinen Topf roter Lackfarbe und einen Pinsel. Voller hämischer Freude ging sie auf die Treppe zu, die nach oben führte. Wie denen wohl eine nette Botschaft an der Schlafzimmerwand gefallen würde?
Da knarrte eine Tür. Gisela blieb wie angewurzelt stehen. Was war das? Die waren doch tagsüber sonst immer weg.
„Ich habe dir doch gesagt, dass die Klingelfalle eine gute Idee war“, hörte Gisela eine Männerstimme sagen.
„Eine Falle aus einem Comic-Heft“, antwortete eine zweite Stimme, die ziemlich verschlafen klang. „Das kann doch nur dir einfallen.“
Die beiden Nachbarn kamen um die Ecke. Sie trugen Schlafanzüge aus schwarzer Seide, ihre langen Haare waren zerzaust. Gisela rührte sich nicht. Was sollte sie jetzt nur sagen?
„Ist das nicht die komische Alte?“ fragte Robert. Jenny nickte. Sie sah den Eindringling böse an.
„Sie haben unsere Katze getötet.“
Die Alte wollte widersprechen, aber sie brachte offenbar kein Wort heraus.
„Heute müssen wir nicht auswärts essen“, knurrte Robert. Mit einem Satz war er bei Gisela und packte sie. Jenny verzog das Gesicht. „Ist das dein Ernst? Altes Blut schmeckt so - so buäh.“
„Ich finde, das schulden wir unserem Katerchen.“ Robert entblößte ein Paar sehr spitz und sehr scharf aussehender Eckzähne.
„Seit der Pest in London habe ich kein altes Blut mehr gehabt“, maulte Jenny. „Ich wette, wir werden uns an der alten Giftspritze den Magen verderben.“


(c) Luisah und Desiree Hoese 2002

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.17 Uhr
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