Futter für die Bestie
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Gruselig geht's in unserer Horror-Geschichten-
Anthologie zu. Auf Gewalt- und Blutorgien haben wir allerdings verzichtet. Manche Geschichten sind sogar witzig.
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November 2002
Unglaubliches Unglück
von Anni Bürkl


Zuerst war die Wohnung Lenas Traum. Ein Platz der Ruhe. Das Haus eine Idylle. Fast zu idyllisch. Ihre Fenster gingen in einen altmodischen, früher typischen kleinen Wiener Hof: ein alter Nussbaum, der im Sommer etwas Schatten in ihre nach Süden gelegenen Räume spendete. Eine Bank, auf der sich Nachbarn unterhielten, als wäre die Zeit stehen geblieben. Wäscheleinen, auf denen bunte Wäsche ihr Unwesen trieb. Ein Holzverschlag, früher Waschküche, diente jetzt als Lager für Gartengeräte. Der Rasen war immer gepflegt, Blumen blühten und dufteten. Auf den Mauern rankte Efeu bis unters Dach, auch um die ein wenig gotisch wirkenden Fenster des Erdgeschosses, das drinnen Gewölbe auswies. Vielleicht Pferdeställe früher, überlegte Lena. War ja mal ein feines Bürgerhaus, vor hundert oder mehr Jahren, hatte ihr der Vermieter erzählt.

Aber dann. Plötzlich, nach ein paar Wochen, der gedachte Satz in Lenas Kopf, beim Aufwachen aus süßem Schlaf: ich werde hier unglaubliches Unglück erleben. Sie war sich nicht sicher: eine Stimme oder ein Gedanke? Sie fühlte unerklärliche Angst. Etwas an dem Satz schien wirklich.

Ein paar Tage später diese Mädchen. Weißgekleidet rannten sie lachend die Treppen hinauf. Lena kam gerade nach hause. Sie sah sie vom Haustor aus. Sie hatte nicht gewusst, dass hier überhaupt Kinder wohnten. Die beiden waren vielleicht elf, zwölf Jahre alt. Sie achteten nicht auf Lena mit ihren Einkaufstaschen. Lena folgte ihnen unwillkürlich bis in den vierten Stock. Oben war niemand, als sie ankam. Auf den zweiten Blick erst sah sie den uralten Herrn Berger in der Tür seiner Wohnung stehen.
„Sie kommen wegen der Mädchen, was.“
Sein Ton war keine Frage, mehr eine Feststellung.
„Nein, nein.“
Lena fühlte sich durchschaut.
„Hm“ machte der Alte und knallte seine Tür vor Lenas Nase zu.

Da stand sie jetzt. Was hatte das zu bedeuten? Langsam stieg sie durch das dämmrig werdende Stiegenhaus hinunter in den ersten Stock zu ihrer Wohnung. Der Samstag abend war schon zu spüren, die Leute fingen an, das Wochenende zu genießen, kein Mensch schien zu hause zu sein. Aufmerksam lauschte Lena, aber nichts war zu hören. Totale Stille, dann entfernt eine Polizeiwagen-Sirene. Wer waren die Mädchen? Und was hatte Herr Berger mit ihnen zu tun? Was benahm er sich überhaupt so seltsam? Sie hatte noch kaum etwas mit ihm zu tun gehabt, doch bisher hatte er wie ein normaler alter Mensch gewirkt.

Als sie ihre Wohnungstür aufsperrte, war ihr, als huschte jemand Schwarzer an ihr vorbei. Sicher eine Einbildung. Sie schleppte die Taschen in die Küche. Jetzt wo sie allein wohnte, war das Einkaufen mühselig. Dann wandte sie sich der Post zu, die sie mit heraufgebracht hatte. Wieder Absagen von Verlegern, bei denen sie sich als Redakteurin beworben hatte. Erschöpft ließ sie sich auf das Sofa fallen. Wie sollte das weiter gehen? Sollte sie auf ewige Zeiten „Deppen-Arbeit“ tun, weil sich in ihrem gelernten Metier keine Chancen auftaten? Sie döste vor Erschöpfung ein wenig.

Plötzlich hörte sie eine Stimme. Ein Mann in einem altmodischen Trenchcoat und Hut lehnte lässig beim Bücherregal, in dem Lena lauter kluge Bücher stapelte. Wer trug heute noch Hüte?! Der Mann war jung, dunkel und gutaussehend, wenn auch etwas klein. Zart wirkte er.

„Kränk dich nicht“, sagte er sanft, „das sind doch Kinkerlitzchen, diese Jobs. Ist es dir so wichtig, den täglichen Unsinn zu schreiben, aus dem die Nachrichten bestehen? Du hast andere Geschichten zu erzählen!“
Lena schniefte.
„Oder nicht?“
„Doch“ flüsterte Lena. „Natürlich.“
Neben dem hübschen Herrn stand ein noch jüngerer Mann, rosig wie frisch gebadet und rasiert. Unwillkürlich dachte Lena an Rasierschaum und alte Messer. Er trug dunkle Kleidung und einen kleinen dunklen Bart. Er lächelte leicht. Machte er sich über sie lustig? Das fehlte gerade noch. Sicher waren ihre Probleme gar nichts im Vergleich zu denen anderer Leute. Doch sie machten Lena nichtsdestoweniger unglücklich. Sie hungerte nicht und musste nicht um ihr Leben bangen. Doch was sie tat, erfüllte sie nicht. Allein und einen Beruf, der ihr nichts gab. Der Herr hatte recht – auch über sinnlose Themen schreiben würde ihr nicht allzu viel mehr bringen.
„Ich bin Feuilletonist...“ sagte er gerade „man muss schon kämpfen... “ Seine Stimme wurde zu einem Murmeln.

Tatsächlich beruhigte sich Lena ein wenig. Sie dachte an ein paar Ideen und Bilder. Ihre Fantasie war mit ihr spazieren gefahren, seit ihre Erinnerung zurück reichte. Darüber schlief sie ein. Als sie erwachte, war sie schön erfrischt. Und gar nicht mehr so verzweifelt. Es stimmte – sie sollte sich um ihre Träume kümmern. Um das zu tun, was sie gern tun wollte. Lieber als alles andere. Sie musste es endlich anpacken. Anstatt das Leben dahin plätschern zu lassen, alles nur passieren zu lassen.
Draußen war es finster. Die Wohnung lag in einem seltsamen Zauber. Ab und zu zeichneten Autoscheinwerfer ein seltsames Muster an den Plafonds. Langsam stand sie auf, ging zu ihrem Schreibtisch, drehte die hübsche Lampe an, die sie extra gekauft hatte, um sich in eine angenehme Stimmung zu versetzen. Lena fühlte sich tatkräftiger und entschlossener als seit langem.

„Komm“ hörte sie den Mann mit dem Hut leise sagen, „sie braucht uns einstweilen nicht mehr.“ Er verschwand. Der jüngere Mann ging zum Fenster – und sprang hinaus! Gehen und springen war eine Bewegung. Lena schrie auf. Sie stürzte zum Fenster. Nichts war zu sehen. Das Glas war heil. Unten war niemand. Ihr fiel auf, dass sie kein Geräusch gehört hatte. Weder von berstendem Glas noch von einem Aufprall.

Sie war wieder allein. Grübelnd schrieb sie ein paar Sätze über das Erlebte. Wer waren diese hübschen Männer, die sie so freundlich beruhigt und an ihre eigentlichen Ziele erinnert hatten? Lena schüttelte sich. Sie schüttelte die Gedanken ab. Ihre Fantasie war mit ihr durchgegangen. Besser sie kümmerte sich um etwas Anderes. Zur Ablenkung unternahm sie einen Spaziergang. Obwohl es finster war, fühlte sie sich wohlig warm und in sich zuhause.

Ein paar Tage später saß Lena grübelnd vor unbeschriebenem Papier. Sie wollte ihr Talent nicht weiter brachliegen lassen und machte sich Gedanken, worüber sie schreiben mochte. Sie dachte an vieles, aber sie brachte keinen roten Faden in ihre Ideen. Noch nicht. Das Papier blieb so weiß wie ihr Kopf voll der diffusesten Dinge, Empfindungen, Erlebnisse, Gedanken.

Da hörte sie einen Schrei... von oben... sie stieg schnell die Treppen hinauf... die Tür von Herrn Berger war nur angelehnt. Sie versuchte, von draußen hinein zu sehen, konnte aber nichts erkennen. Zögernd trat sie ein. Was würde sie erwarten?
„Hallo? Herr Berger?“ Ihre Stimme war wider willen unsicher, das merkte sie selbst in der Kehle. Die Töne kamen einfach nicht wie sonst raus.

Der Vorraum war zugleich die Küche. Lenas Blick fiel auf eine altmodische weiße Holzkredenz, hinter gemustert geschliffenem Glas standen geblümte Kaffeehäferl. Auf dem Herd ein blecherner Wasserkessel. Krug und Waschschüssel daneben. Sie ging weiter, öffnete zögernd mit einer Hand eine weitere Tür. Sie blieb auf der Schwelle stehen. Herr Berger saß leblos vornüber gebeugt an einem großen quadratischen Tisch mit Plastik-Tischtuch über hübschen Spitzen. In der Ecke ein Sofa mit allerlei Sachen, auf der anderen Seite ein Messingbett, auf dem sich Decken türmten. Alle Fenster zu, Rollos, Vorhänge. Die Luft wirkte stickig. Alte-Leute-Geruch, Essen, alte Dinge und Kleider, die ihre eigenen Geschichten hatten. In der Ecke eine riesige Pflanze, ein wunderbarer Ficus. Wie alt der sein mochte? Lena sah ihn bewundernd an: bei ihr überlebten Pflanzen nie lange.

Lena trat näher an den Alten heran. Keine Frage – er schien tot zu sein. Sein Mund war offen, seine Hand lag leblos auf dem Tisch. Vor ihm aufgeschlagen die vergilbten Seiten eines Buches, mit zierlicher akkurater Schrift beschrieben. Ein billiger BIC-Kugelschreiber war zu Boden gefallen. Lena hob ihn auf, obwohl es ja wohl sinnlos war. Ihr Blick fiel auf das Buch. Sie nahm es an sich und ging hinunter in ihre Wohnung, um die Rettung zu benachrichtigen.

Während die Sanitäter ihre Arbeit taten, ging Lena wieder hinunter. Zögernd schlug sie das alte, in Leinen gebundene Buch auf, das auch noch in einen Plastik-Schutzeinband gehüllt war. Bis zur Mitte war das Buch dicht Seite um Seite beschrieben. Dann hörte es mit einem Schlag auf. Zum Schluß waren ein paar Zeilen in einer ähnlichen, aber doch anders wirkenden, krakeligeren Schrift geschrieben... : Immer noch kann ich nicht darüber sprechen – was damals passiert ist... Lena blätterte zurück und las folgendes: Am 24. Jänner 1943 holten sie die Familie Abraham, die die große Wohnung im 1. Stock hatte. Moshe, der älteste Sohn, keine 20 noch, konnte sich verstecken. Er schlüpfte bei Melchior, dem Zeitungsredakteur unter, mit dem er befreundet war. Die Katze seiner Schwestern konnte Moshe auch retten... Die Mädchen, seine Schwestern, gingen direkt ins Gas, süße Dinger, immer gut gelaunt. Von den Eltern hat man nie wieder was gehört. Ein paar Wochen später trat die SS Melchiors Tür ein, veranstaltete lautes Chaos, um Moshe Abraham zu finden. Sie hatten einen Tip gekriegt. Die Katze, ein weißes fluscheliges Ding, hatte ihn verraten... die jungen Männer haben sehr acht gegeben auf alles, aber einmal ist die Katze entwischt. Auf das hat die alte Hausmeisterin Pospischil nur gewartet. Kaum war die Katze weg, war die SS schon da. Melchior hielt diese „Helden“ von der SS noch auf, aber wo sollte Moshe hin? Er rannte durch Melchiors Wohnung in seiner Verzweiflung, und sprang aus einem Fenster. Durch die geschlossenen Scheiben. Die Ssler trampelten wütend hinterher, über den gebohnerten Parkettboden mit ihren Stiefeln, warfen Möbel um und glotzten durch das Fenster. Einer war die Katze, die gerade in dem Moment wieder herbei spaziert, maunzend, und offenbar hungrig, Moshe hinterher aus dem Fenster...

© Anni Bürkl

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.32 Uhr
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