Der Cousin im Souterrain
Der Cousin im Souterrain
Der nach "Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten" zweite Streich der Dortmunder Autorinnengruppe "Undpunkt".
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November 2002
Verloren
von A. Piorr


Mae war gerade aufgewacht, als sie bemerkte, daß Serge nicht neben ihr lag. Mit einem Mal war ihre Angst vom Vorabend wieder da, als Serge mit diesen Leuten gesprochen hatte. Diese Leute, die sie nicht mochte. Die blickten auf sie herab, für die war sie nur die „Kleine“, die Ahnungslose, das naive Anhängsel.
Serge kannte die von früher, er sagte, sie seien unglaublich alt, haben alles menschliche hinter sich gelassen. Er alberte mit ihnen herum, war ausgelassen. Trotzdem war sie froh, als die Clique wieder verschwand und sie Serge wieder für sich allein hatte.
Sie hatte am frühen Abend einen jungen Fixer getötet, sein Blut war bitter gewesen aber reichlich und sie hatte Serge von ihr trinken lassen, als sie sich später wiedertrafen um ihre neue Wohnung zu feiern. Mit diesem Rausch hatte die Nacht begonnen und geendet als sie sich liebten, nachdem sie zurückgekehrt waren in den frühen Morgenstunden, bevor die Sonne sie verbrennen konnte.
Das alte Haus war völlig verlassen. Mae setzte sich auf und rief nach ihm. Keine Antwort.

Serge blinzelte und öffnete kurz darauf die Augen. Es war dunkel um ihn herum. Er lag auf steinernen Boden, es war feucht und roch nach Moder, wie in einem Keller. Und das schien es auch zu sein, ein Keller.
Er setzte sich auf und versuchte sich zu orientieren. Es war so dunkel, daß nicht einmal er viel sah. In Ansätzen konnte er die Ecken des Raumes ausmachen. Die Tür.
Es war ein Kellerraum. Er war völlig leer und die Tür aus massiven Eichenholz, verriegelt von außen.
Serge erinnerte sich an den Abend. Mit Mae in den Clubs, ihr Blut, ihr weicher Körper und ihre sanften Hände. Er dachte auch an seine alte Clique, die er getroffen hatte und wie eifersüchtig Mae gewesen war. Und an ihre Angst..
Er versuchte sich zu konzentrieren und glaubte bald Schritte in dem Gebäude über sich wahrzunehmen. Er konnte auch eine Stimme hören. Und sie klang wie- er stutzte. Dann stand er auf und bemerkte die Wunden an seinen Beinen. Seine Knie waren bis aufs Fleisch aufgeschürft, als habe man ihn über den Asphalt geschleift. Seine Jeans waren aufgerissen. Er stolperte zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Er mußte trinken. Damit er heilen konnte und klarer denken. Wenn er ein Ohr an die Tür legte, konnte er die Stimme deutlicher hören. Es war Mae und sie rief seinen Namen.
Er war in ihrem eigenen Haus. „Mae,“ flüstere er, „Mae...“

Mae öffnete die Haustür und stolperte über einen Toten, der zusammengekrümmt im Eingang lag. Sie schrie spitz auf vor Schreck und bückte sich dann um nachzusehen, ob sie ihn kannte.

Serge hörte plötzlich ein schrilles Aufschreien. „Mae!“ rief er jetzt mit einem Mal aufgebracht und hämmerte auf die Tür ein in der Hoffnung gehört zu werden. Sie hätte ihn schon spüren müssen als er flüstere und an sie dachte, aber sie war noch so jung. Sie hatte diese Fähigkeiten noch nicht. Er schwieg einen Moment um auf eine Reaktion zu lauschen. Sie hatte das Haus verlassen.

Mae hatte die Leiche an der Jacke gepackt und vom Eingang weggezerrt, die Straße hinab bis zum Fluß. Hier ließ sie den jungen Mann ins Wasser gleiten. Die Spuren an seiner Kehle wiesen recht eindeutig auf die Todesursache hin. Sie ging weiter in Richtung Club. Sie hoffte, Serge würde sie dort finden.
Aber er kam nicht. Sonja sagte hallo, sie hatte ihn auch nicht gesehen. Mae glaubte fast, daß sogar Sonja die Sorge in ihren Augen erkannte, denn plötzlich legte die ihr die Hand auf die Schulter und lächelte sie aufmunternd an. Sie hatte sie noch nie angelächelt, geschweige denn so berührt. Mae erinnerte sich noch an ihre erste Begegnung und ihre harten Griffe, mit denen Sonja sie gegen die Wand geschleudert und festgehalten hatte.
Sie verließ den Club wieder und fragte auch den Türsteher noch nach Serge. Hein sah zwar mit seiner Masse an Gewicht, der Glatze und dem ganzen Blech im Gesicht aus wie ein Serienkiller, war aber der wahrscheinlich netteste Typ, den sie je getroffen hatte. Aber auch er wußte nichts und wünschte ihr Glück.

Serge spürte den Hunger aufsteigen. Eine Angst kam hinzu, konnte er verhungern? Er mußte auch Blut verloren haben und war nun schon seit einigen Stunden hier. Die Nacht war bald vorbei. Sie mußte ihn doch finden, verdammt. Er sah sich im Raum um und dachte über eine Möglichkeit nach zu entkommen. Aber das Zimmer war absolut leer. Mit den Fingerspitzen tastete er die Tür ab und ihren Rahmen, in der Hoffnung einen Mangel an ihr vorzufinden oder eine Öffnung. Er stand auf und warf sich mit Anlauf gegen das Holz, aber es gab keinen Zentimeter nach.
Wieder blieb er einige Minuten an der Tür sitzen. Er war völlig außer Atem von seinen Versuchen die Tür zu zerstören. Dann nahm er einen Geruch wahr von außen, der ihm vorher nicht aufgefallen war, da die Feuchtigkeit und der Stein ähnlich rochen. Er konzentrierte sich darauf und erstarrte. Es roch nach Zement.

Mae war so weit in der Stadt herumgelaufen, daß sie nicht rechtzeitig wieder am Haus angekommen wäre. So war sie im Club geblieben. Als sie nun wieder aufwachte, waren alle anderen schon aufgestanden. Sie war erst verwundert hier die Augen aufzuschlagen und glaubte eine erlösende Sekunde lang sogar es sei alles nur ein Traum gewesen. Ein verwirrter, grausiger Traum. Aber das war es nicht.

Die Sonne war noch nicht ganz versunken, als der Hunger Serge weckte. Er erwachte wie mit einem Holzhammer getroffen und sog erschrocken die Luft ein. Ihm war furchtbar warm und er schwitzte vereinzelt blutige Tropfen, die ihm über Gesicht und Brust rannen. Einige konnte er mit der Zunge auffangen, wenn sie seine Lippen passieren wollten. Er gewann nichts dadurch, sein Durst wurde nur größer, aber es ging nicht verloren. Mae konnte er nicht ausmachen in seiner Nähe.
Als schon einige Stunden vergangen waren hatte er Schwierigkeiten etwas zu sehen. Seine Hände verschwammen vor seinen Augen. Die Wände verschoben sich. Unter der Decke glaubte er Blut aus den Spalten im Gemäuer sickern zu sehen. Es rauschte in seinen Ohren. Er kroch hinüber zu der Mauer nur um festzustellen, daß er sich das Blut nur eingebildet hatte.
Selbst wenn er stark genug gewesen wäre die Tür und das Mauerwerk dahinter zu durchbrechen, jetzt war er zu schwach um noch irgendetwas zu schaffen. Er hob sich mit Mühe auf die Beine und ging zurück zur Tür. Eingemauert, schoß es ihm durch den Kopf, man hat mich eingemauert, in meinem eigenen Keller.

Sie raffte sich auf und durchquerte den Club, der bereits voller Gäste war. Sonja kam ihr auf der Treppe nach draußen mit ihrer Freundin an der Hand entgegen.
„Kennst du diese Clique, mit denen Serge früher herumgezogen ist?“
Sonja überlegte kurz. „Ich glaube ich weiß, wen du meinst, ja.“
„Weißt du, wo sie sich aufhalten?“

Als die Sonne aufging, konnte Serge sie spüren, als läge nur Glas zwischen dem Licht draußen und ihm. Wahrscheinlich war es aber der Hunger, der schmerzte, als zöge man ihm die Haut vom Körper oder reiße ihn in Stücke. Noch war es erträglich, wenn er einfach dalag und seinen Leib mit den Armen umklammerte. Aber es würde schlimmer sein, wenn er wieder zu sich kam am Abend. Mae war immer noch nicht wieder gekommen.

Mae hatte einige der Clubs besucht, in den sie mit Serge gewesen war, hatte aber niemanden gefunden. Am Ende war sie zurück zu Sonja und den Anderen gegangen um nicht allein zu sein im Haus und um sich von Hein sagen zu lassen, daß Serge schon wieder auftauchen würde.
„Ich weiß nicht, wo ich noch suchen soll. Warum kann er mich nicht finden? Will er mich vielleicht nicht finden? Ist er geflohen und hat mich allein gelassen?“

Der Schmerz konnte in der Tat noch schlimmer sein. Serge stand auf und stolperte wie ein krankes Tier immer wieder gegen die Tür, als könne er ihr etwas anhaben. Er schrie sie an und hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz. Am Morgen glaubte er Mae zu spüren, daß sie das Haus wieder betreten hatte. Er klopfte schwach noch und kratzte in Krämpfen zentimetertiefe Furchen in die Bretter. Er kämpfte oft gegen die Tränen, weil er nicht noch mehr Blut verlieren wollte und ging dazu über mit seinem letzten bißchen Willen die Wände anzuschreien. Nicht einmal zum randalieren reichte jetzt noch seine Kraft.
Vielleicht hört sie mich...vielleicht kann sie mich hören...kann sie mich denn nicht endlich hören?...

Mae suchte in einer Nacht das gesamte Umfeld ab so weit sie kommen konnte. Die Stadt war so ungeheuer groß. Schließlich kehrte sie zurück zum Haus. Vielleicht ist er schon wieder hier... vielleicht ist er auch mich suchen gegangen...
Aber da war keiner zu finden. Alles war, wie sie es verlassen hatte und keiner war hier gewesen.
Wer hatte die Leiche vor ihrer Tür gelassen? War das eine Botschaft? War Serge vielleicht tot?... Sie ließ sich auf die Matratze sinken und blieb apathisch liegen. Blut rann ihr aus den offenen Augen. Sie hatte soviel geweint in den letzten Nächten, daß sie zwei mal in der Nacht tötete, wenn sich die Gelegenheit ergab. Es war so still im Haus. Sie lauschte auf ihren eigenen Atem und schlief schließlich ein.

Serge konnte nun auch nicht mehr schlafen. Es war ihm nicht mehr möglich einen klaren Gedanken zu fassen. Überall sah er nur Blut und spürte den Entzug am ganzen Körper. Er lag zusammengekrümmt auf dem Boden und zuckte in Krämpfen, zitterte und stöhnte wie schwer verwundet. Er fror sogar. Gott, wie lange hatte er nicht gefroren. Er hatte aufgegeben zu schreien, nur manchmal, wenn ein Schub so unerträglich war, stieß er laut einen gequälten Ton aus in der Hoffnung es dann ertragen zu können. Er nahm auch Mae im Haus nicht mehr war. Er konnte nicht sehen und in seinem überempfindlichen Gehör rauschte und knisterte es wie bei einer Bildstörung. Sein Puls pochte in seinen Schläfen. Viel zu schnell.

Noch für einige Tage lief Mae jede Nacht durch andere Straßen in der Stadt und suchte nach Serge. Inzwischen glaubte sie nicht wirklich mehr daran ihn zu finden. Sie hatte begonnen um ihn zu trauern, als sei er schon tot und überlegte ein paar Nächte lang ob sie die Stadt wieder verlassen sollte. Zurück zu ihrem Mentor, wo sie hergekommen und von wo sie geflohen war vor der Enge und ihrem Leben, daß sie dort gehabt hatte.
Und als sie ein paar Wochen später mit dem Entschluß zu gehen verstummt auf dem Bett lag und ein letztes Mal darauf wartet auf diesem Lager den Tag zu verbringen, drängte sich mit einem Male ein Gefühl in ihren Kopf, kaum daß sie die Augen geschlossen hatte. Das war ein ungeheurer Schmerz, wie Sommersonne zur Mittagszeit, ein Brennen und Ziehen am ganzen Körper. Sie saß aufrecht, wie elektrisiert und versuchte den Schwindel zu verscheuchen, den der Schmerz hinterlassen hatte.
„Serge...“

Serge dachte nicht mehr. Er war in seinem Elend unfähig etwas anderes zu tun als am Boden zu liegen. Jeder Muskel war dennoch angespannt und zuckte, seine Augenlider flatterten. Er hatte sich selbst unzählige Male in die Arme gebissen und das Wasser vom Boden versucht aufzunehmen, weil er in seinem Wahnsinn dachte es sei Blut. Er war in seiner rasenden, unruhigen Apathie nur noch ein Tier, daß eigentlich schon jenseits vom Hungertod sein müßte. Es war viel schlimmer als der Tod. Spärlich aber unkontrolliert rann ihm noch Blut aus den halbgeschlossenen Augen und aus seinem offenem Mund. Es mußte doch ein Ende geben...

Serge mußte hier sein. Mit einem Male glaubte sie, ihn spüren zu können. Vermisse ich ihn schon so sehr, daß ich glaube er sei nahe?...
Unruhig begann sie das ganze Haus abzusuchen. Manchmal war das Gefühl stärker, manchmal weniger. Schließlich stieg sie die Kellertreppe in der Küche hinab. Hier war ihr, als könne sie sogar seinen Geruch wahrnehmen. Und weiter unten, da stand ein Eimer mit erstarrtem Spieß vor einer Wand aus braunem Backstein, eine Kelle war darin eingetrocknet. Sie sagte seinen Namen. Ungläubig und einen kalten Schauer nach dem nächsten durchlebend legte sie erst die Hände auf die vor ihr stehende Wand, dann das Ohr. „Serge...bist du hier?...“ Sie flüsterte nur und kam sich dumm vor. Aber da war etwas hinter der Mauer.

Da war jemand auf der anderen Seite. Serge konnte nicht unterscheiden, ob es real war oder nicht. Es war kein Mensch, der Geruch hätte ihn augenblicklich wahnsinnig gemacht. Wahrscheinlich hätte er sich selbst in Stücke gerissen, wenn er diese Wärme nicht hätte erreichten können. Trotzdem- da war jemand...und er hatte Blut in sich. Er stöhnte laut auf bei dem Gedanken daran.

Sie hatte ihn gehört. Sie hämmerte gegen die Wand und machte sich dann auf die Suche nach einem Werkzeug um die Mauer damit einzureißen. In einem Seitenflur fand sie Spaten und eine Hacke. Mit der Hacke und der ungeheuren Wut in sich zerstörte sie die Wand und fand dahinter tatsächlich eine Tür. Die war verriegelt und verschlossen. Das Schloß riß sie mit bloßen Händen ab.

Was immer es ist, es kommt. Und dann wird es meinen Hunger stillen...

02.2001©a.piorr

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.33 Uhr
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