Liebesgeschichten ohne Kitsch? Geht das? Ja - und wie. Lesen Sie unsere Geschichten- Sammlung "Honigfalter", das meistverkaufte Buch im Schreiblust-Verlag.
Ihr war unendlich schlecht. Die Eingeweide spielten verrückt und der endlose Drang, zu weinen und nie mehr aufzuhören, war längst zu ihrem übermächtigen Begleiter geworden.
Die letzten Nächte hatte sie fast kein Auge zugetan. Kaum überwältigte sie die Müdigkeit, schreckte sie kurz darauf bereits wieder schweißgebadet auf. Traumlose, schwarze Tiefschlafphasen, bar jeglicher Erholung für Körper und Seele.
Seufzend wusch sie ihr Gesicht. Unter ihren blauen Augen hatten sich dunkle Ringe eingefressen. Die sonst so neckischen Sommersprossen erschienen leichenblass und selbst ihr knallig rot gefärbtes, eigentlich blondes Haar, wirkte stumpf und strohig.
Den anderen war ihr Zustand nicht verborgen geblieben. Selbst Pierre, der Spaßvogel und nervige Jungmacho aus Paris hatte sich mit der ihm größtmöglichen Anteilnahme bei ihr erkundigt, ob sie nicht lieber abbrechen wolle. Jedenfalls musste der internationale Gruppenabend rund ums Lagerfeuer heute ohne sie stattfinden. Ihre Absage hatte niemanden wirklich verwundert, sondern war allseits auf Verständnis und ehrliches Mitgefühl gestoßen.
Hatte sie sich übernommen? War die Uckermark ihre Grenze?
An Warnungen hatte es nicht gefehlt.
Die Freundesclique, der harte Kern ihrer Berliner Lesbengruppe, hatte unverhohlen mit völligem Unverständnis auf ihre Absicht reagiert, im Anschluss an die gemeinsame Paddeltour über die Seenplatte, die beiden letzten Wochen ihrer Semesterferien auf diesem Workcamp zu verbringen. Noch deutlicher war Tine, ihre Freundin, geworden, hatte sie für total bekloppt und zugleich rücksichtslos erklärt. Warum musste sie sich und ihr das antun? Zwei Wochen trautes Zusammensein im Ostseebad Banzin einfach auszuschlagen, um statt dessen mit einem schlechten Karma behaftete Steine aus dem Boden zu buddeln?
Uckermark – Teil des Stammlagers Ravensbrück, dem größten Frauen-KZ und einzigstes Lager zur Inhaftierung weiblicher Minderjähriger.
Hatte Tine recht? Sie seufzte, wollte allein sein und sollte zu einer Entscheidung finden.
Eigentlich waren ihr Depressionen fremd. Allen die sie kannten, galt sie als quirlig, frech und aufmüpfig. Selbst die Wirren ihres Comingouts hatte sie schnell und ohne besondere Seelenpein hinter sich gebracht. Von Thomas, ihrem damaligen Freund, mal abgesehen.
Noch strahlte die krautige Heide die gesammelte Wärme des Tages ab, aber schnell würde es feucht und kühl werden. Sie schlüpfte in den dicken, übergroßen Pullover und wandte sich dann in östliche Richtung, hinein in die Einsamkeit der Heidelandschaft. Als sie die kleine Mulde mit dem Mauerrest hinter den Krüppelkiefern erreichte, war es bereits dunkel. Das babylonisch klingende, ausgelassene Lachen und Scherzen der anderen rund ums Lagerfeuer war mit zunehmender Entfernung verklungen.
Die Mulde war wie ein Nest. Sie kauerte sich auf den sandigen Boden, zog die Beine eng an den Körper und den Pullover über die Knie bis zu den Knöcheln. Dann starrte sie vor sich hin, der Blick verlor sich in der endlosen Weite der öden Landschaft. Sie fühlte sich leer und verzweifelt zugleich. Zudem müde, unendlich müde. Die aufsteigende Schwärze hatte leichtes Spiel.
Der hässliche Klang der Sirene war ebenso durchdringend wie gnadenlos. Instinktiv wehrte sie sich, versuchte zu widerstehen und das gefundene Bisschen von Behaglichkeit und Wärme zu retten Es mußte sehr früh, noch Nacht sein. Die Sonne in weiter Ferne. Die bleierne Kälte zog ihr eisig bis in die Knochen. Sie kuschelte sich tiefer in den Pullover und versuchte in den Schlaf zurückzuflüchten.
Erfolglos.
Scheinwerfer flammten auf und tauchten die Heide unbarmherzig in ihr gleißendes, kaltes Licht. Blinzelnd und gequält öffnete sie die Augen. Vor ihr lag ein Sandplatz, dahinter niedrige Baracken und Stacheldrahtverhau. Ein Wachturm ragte schemenhaft in die Höhe. Die Krüppelkiefern waren verschwunden. Anstelle des Mauerrestes lehnte sie gegen die schäbige Wand eines Lagergebäudes. Die schaurige Szenerie erwachte.
Schwatzend löste sich die Gruppe der Aufseherinnen aus dem Schlagschatten der Wachkaserne. Der wöchentliche Besuch des schnittigen, jungen Untersturmbannführers galt ihnen als besonderes Ereignis im Lageralltag. Ein pickeliges Jüngelchen, war er, blond, blauäugig, hochgewachsen und immer zu einem Scherz und Flirt aufgelegt, ihr erklärter Liebling. Dabei aber auch eiskalt und schonungslos. Bewundernswert. Welche Insassinnen würde er diesmal für die Offiziersmesse des Stammlagers bestimmen? Die Wetten liefen.
Er war wählerisch und traf seine Auswahl stets nur unter den rosa gekennzeichneten Winkeln. Nie die Asozialen, die Kriminellen oder gar mal einen gelben Stern.
Die Türverschläge der Baracken wurden aufgerissen. Ausgemergelte Gesichter erschienen und zuckten vor dem grellen, künstlichen Licht eines neuen, schrecklichen Tages zurück, wurden aber von den Nachfolgenden einfach weitergedrängt. Erneut war die kurze Schonfrist einer Nacht zu Ende. Neuer Horror für die, die sie überlebt hatten.
Die in blaugraue Sackkleider gehüllten Gestalten begannen in gespenstischen Schweigen in langer Kolonne auf dem Appellplatz Aufstellung zu nehmen. Nur nicht stöhnen, hinfallen oder sonst auffallen. Die Aufseherinnen betrachteten Augen, Wuchs und Körperkraft und selektierten, auf ihre Wetteinsätze bedacht, vor.
„Es ist nur ein Traum, ein schlimmer Alptraum!“
Sie versuchte ihre Augen aufzureißen, dem Traum zu entrinnen. Vergeblich. Dann, die Augen zu schließen. Es ging nicht. Sie wollte sich abwenden, zwicken, weglaufen, war aber wie gelähmt und verdammt, als Augenzeugin das unsägliche Leiden weiter zu verfolgen.
Aus Richtung der Wachkaserne erklangen Männerstimmen, dann Stiefeltritte. Wie auf ein unsichtbares Kommando schwangen die Köpfe der Aufseherinnen herum. Ihre verhärteten Gesichter hellten sich auf. Der junge Herr Untersturmbannführer, sanft lächelnd, in Begleitung des Kommandanten und dreier Wachmänner.
Es war Herrmann Ohlsen! Sie schrie, schrie, schrie...
Sie hatte ihn sofort erkannt, kannte ihn wie sich selbst, wusste alles über ihn, seinen Namen, seinen Werdegang, sein Verschwinden bei Kriegsende, seinen mysteriösen Selbstmord am 30.4.1980 in Argentinien. Tatsächlich jedoch ein Kommando des Mossads. Sie kannte alles, wusste alles, erinnerte sich an alles!
Nur wenige Sekunden nach seinem späten Tod hatte der verhasste Massenmörder und Menschenschinder Heinrich Ohlsen als Susanne Glauber in Berlin das Licht der Welt wiedererblickt. Und sie, sie war Susanne Glauber.
(c) Andreas Kurth
Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.38 Uhr Dieser Text enthält 6563 Zeichen.