Ganz schön bissig ...
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November 2002
Angstmann
von Nils-Peter Henning

“Silent attack
the shadows are talking
silent attack
but no-one can hear.

Silent attack
the shadows are walking
silent attack
in the night of fear.”

(Die Krupps – “The dawning of doom”)




Angstmann



22:43 Uhr:

Die Schatten schlossen sich um Ralf.

Langsam krochen sie an ihn heran, gleich einer Vogelspinne, die sich bedächtig über heißen Asphalt bewegt. Mit langen, dunklen Fingern griffen die Schatten nach der Lehne des Stuhles, auf dem er Platz genommen hatte. Sie krallten sich an der Rückenlehne fest, zogen sich empor, bis sie ihn überragten. Einen leisen, schwarzen Hauch bliesen sie in ihm entgegen. Reizten damit die feinen Haare in seinem Nacken, die sich sofort aufrichteten. Dann drangen die Schatten in sein Blickfeld vor. Zauberten neue, künstliche Blinde Flecke auf seine Netzhäute. Sperrten nach und nach den Rest der Menschenwelt aus. Machten ihn zu einem Gefangenen in seiner eigenen Welt.

Bis er reagierte.

Bis er herumfuhr.

Leise wie ein fernes Wispern gesellten sich die Schatten wieder zu Ihresgleichen.
Und Ralf schlug sich mit der flachen Hand mehrmals auf seinen Nacken.
“Scheiße!” rief er aus.

Krabbelnde Beine auf seinem Körper. Spinnenbeine. Die Tiere, die er so sehr hasste. Doch er mußte sie in seinem Kellerappartment täglich ertragen. Er schlug noch einmal zu. Noch fester. Seine Haut färbte sich augenblicklich rot. “Mistviecher!”

Er fuhr nun endgültig von seinem Stuhl hoch. Dem blauen Schreibtischstuhl, den er von seinem Vater zum achtzehnten Geburtstag bekommen hatte.

“Wenn du schon den ganzen Tag vor diesem Computer verbringst, dann sollst du auch vernünftig sitzen.”

Die Worte des Vaters waren schon seit sieben Jahren in den dunklen Gängen von Ralfs Gedächtnis verhallt. Das Kribbeln ließ nach. Mit einer unbeholfenen, hektischen Bewegung ließ Ralf seine beiden Hände über seinen Rücken streichen. Falls die Spinne noch auf seinem Rücken saß, wollte er sie schnellstmöglich entfernen. Doch da war nichts.

Er schaute sich panisch um. Stampfte einige male heftig mit den Füßen auf den Boden. Ein Präventivschlag gegen eventuell anwesende, ungebetene Gäste.

Doch da war nichts.

Nur der hellgraue, saubere Teppichboden. Keine verräterischen Flecke, die sich mit hoher Geschwindigkeit bewegten. Getragen von acht Beinen und dem festen Willen, die Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen, der offensichtlich allen Spinnen zu Eigen war.

Doch da war nichts!

Er schaute sich noch einmal sorgfältig um. Ließ seinen Blick in jede Ecke des Kellerappartements wandern. Ohne Ergebnis. Im Stillen schwor er sich, demnächst umzuziehen. Weg von diesem Kellerloch. Hinein in eine geräumige, übersichtliche Wohnung. Mindestens fünf Meter über dem Erdboden. Dort, wo sich kein Ungeziefer anschleichen konnte. Er beruhigte sich rasch.

Einbildung. Es war nur seine Phantasie, die ihm einen Streich gespielt hatte. Er rückte seinen Stuhl zurecht, nahm wieder Platz und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Monitor seines Computers, der das Appartement mit einem geisterhaften, kränklichen Licht erfüllte. Rasch tauchte er wieder in die Welt seines Videospieles ein, schickte sein Alter Ego jenseits der Mattscheibe durch dunkle Wälder, die Thompson-Maschinenpistole im Anschlag, stets bereit, den virtuellen Feind zu stellen und zu töten.

Und hinter ihm erhoben sich die Schatten erneut.

Sie schlichen im Appartement umher. Richteten Schaden im Badezimmer an, um ihre Anwesenheit zu untermauern. Dabei achteten die Schatten sorgfältig darauf, dass Ralf seinen softwareinduzierten Traum weiter träumte. Er sollte kein anderes Geräusch wahrnehmen, als die knarzenden Schritte seiner Spielfigur im Unterholz und das gelegentliche Bellen von automatischen Waffen. Geräusche, die aus den Stereo-Lautsprechern des Computers drangen.
Als die Zeit gekommen war, legten die Schatten ihre Hände auf Ralfs Schultern.

Hart.
Bestimmend.
Fordernd.

Erneut schrak Ralf auf.
Keine Spinnen, dieses mal. Nur das bläuliche Licht des Monitors, das nicht alle Winkel des Appartements zu erfüllen vermochte. Zum ersten mal an diesem Abend nahm Ralf die Dunkelheit im Appartement bewußt wahr. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Einsamkeit. Er war alleine, gefangen in einer vierzig Quadratmeter großen, dunklen Wohnung. Gefangen von mächtigen Schatten, die sein Blickfeld begrenzten. Ein winziger Ausstoß von Adrenalin in seinem Körper. Plötzlich wollte er das Geschehen auf dem Monitor nicht mehr verfolgen. Er wollte Licht! Helles Licht, das die Schatten aus den Ecken des Appartements vertrieb.

Mit einer entschlossenen Bewegung griff er am Monitor vorbei und schlug auf den Lichtschalter. Er erwartete, dass die beiden an der Decke gespannten Halogen-Seilsysteme augenblicklich zu gleißendem Leben erwachten. Seine Erwartung wurde enttäuscht.

Ein müdes, verzagtes Glimmen war alles, was die sieben Strahler der Beleuchtungsanlage zustande brachten. Ein orangefarbenes Schimmern, gleich dem erschöpften Licht einer Taschenlampe, die mit verbrauchten Batterien betrieben wird. Die Überraschung währte nicht lange. Ralf drückte energisch den Knopf seiner Schreibtischlampe. Ein Designerstück, das er zu einem Spottpreis im nahe gelegenen Baumarkt erstanden hatte. Die Lampe leuchtete augenblicklich hell auf. Doch sie spendete kein Licht. Nicht das geringste Leuchten drang in die Winkel des Appartements vor.

In diesem Augenblick spürte Ralf die Präsenz.

Die Anwesenheit der Schatten.

Er war nicht alleine hier. Ein anderes Wesen teilte sich das Appartement mit ihm. Ein Wesen, das er nicht sehen konnte. Ein Wesen, das er mit seinem Verstand nicht erfassen konnte. Ein Wesen, das eine Überlegenheit ausstrahlte, der Ralf nichts entgegensetzen konnte.

Noch nie in seinem Leben war er einem Konflikt aus dem Weg gegangen. Er hatte noch nie zurückgesteckt, wenn die dunkle Wolke der Gewalt über ihn hereingebrochen war. Und bis heute war er immer als Sieger hervorgegangen, wenn die Macht der Fäuste und der Füße gefragt war. Doch dieses mal war da ein anderer Gegner. Ein Gegner, den er nicht bekämpfen konnte.

Er wußte, dass er diesen Gegner nicht bekämpfen konnte. Die Schatten sagten es.

Und Ralf lernte ein neues Gefühl kennen: Die Angst.

Die Schatten umhüllten ihn, berührten ihn. Er riß sich los, stürmte blindlings vorwärts. Licht! Er brauchte Licht!

Ein letzter Ausweg: Das Badezimmer. Ein vager Hoffnungsschimmer erhellte sein Inneres. Vielleicht war sein Besucher noch nicht bis hierher vorgedrungen. Der Lichtschalter befand sich vor der Tür. Ralf schlug heftig darauf. Plastik splitterte. Er riß die Tür auf und erblickte die Toilette.

Der Deckel war zerschmettert. Von einer unheimlichen Kraft zerschmettert. Auf der dunklen Badematte waren weiße Plastiksplitter zu sehen. Mehr nicht. Der Rest des Badezimmers war in Dunkelheit gehüllt. Nur die Deckenlampe glühte finster.

“Raus!” schrie Ralf, an sich selbst gewandt. Er setzte sich mit rudernden Armen in Bewegung und nahm Kurs auf die Wohnungstür. Die Dunkelheit ragte vor ihm auf. Er rammte sie – und prallte zurück.
Schwere Hände umfassten seinen Hals.

“Gib’s mir!” sagte die Dunkelheit.

Ralf kniff seine Augen zusammen. Da war etwas in den Schatten.
Etwas, das er nicht sehen wollte.

“Jaaaaa!” hauchte die Dunkelheit leise. Und noch einmal: “Gib’s mir!”

Und er gab es der Dunkelheit.
Der Dunkelheit, in der der Angstmann lebte.

23:07 Uhr:

Schreiend hatte er das Licht dieser Welt erblickt. Schreiend fanden ihn seine Nachbarn. Auf dem grauen Teppichboden seines hell erleuchteten Appartements liegend, vor der weit geöffneten Wohnungstür. Die Nachbarn beugten sich über ihn, redeten beruhigend auf ihn ein. Einige gaben ihn verloren, plädierten dafür, den Notarzt zu rufen. Andere glaubten, er sei betrunken. Die dunkle Ecke an der Haustür beachteten die Nachbarn nicht. Die Ecke, die nicht vom Licht der Treppenhausbeleuchtung erreicht wurde. Sie bemerkten auch nicht das lautlose Öffnen der Haustür.

Erst als die Tür, gezogen von ihrem Schließmechanismus, mit einem dumpfen Knall in das Schloss fiel, schreckten die Nachbarn auf. Sie bemerkten, dass es plötzlich sehr hell war. Und es schauderte ihnen.
Niemand hätte in diesem Augenblick sein Unbehagen zugeben wollen. Doch alle verspürten das kalte Kribbeln.

Die Angst hatte über ihre Schultern geblickt.

23:09 Uhr:

Vor der Tür stand der Angstmann.

Kraft durchströmte ihn. Ihm war, als hätte er die Energie eines Kernkraftwerkes absorbiert. Sein Körper zitterte wie ein überbeanspruchter Muskel. Der Angstmann breitete die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und fauchte in die Nacht hinaus. Die Menschen im hell erleuchteten Treppenhaus hinter ihm nahmen das Fauchen nicht wahr – nicht bewußt. Doch sie fühlten es und blickten verstört auf. Sie sahen nur Dunkelheit vor der Tür.
Der Angstmann hielt die Arme von seinem Körper gestreckt. Die Angst der Nachbarn überrollte ihn, hüllte seine Gedanken in eine Woge aus elektrischem Blau. Es war eine gute Nacht! Die beste Nacht seit langer Zeit.

Ein unbeschreiblicher Kick. Eine Flutwelle der Macht, die seinen Körper überschwemmte wie eine Flutwelle. Sie kam über ihn wie ein Gewitter, wie der Blitz einer Atombombe, der die Welt in gnadenlosem Licht verblassen läßt. Nur mit Mühe bewahrte der Angstmann Selbstkontrolle. Zu groß war die Gefahr, dass er seine Tarnung aufgab. Die Gefahr, dass die Menschen ihn erblickten, von Angesicht zu Angesicht, und ihn damit zurückschickten zu seiner jämmerlichen, irdischen Existenz. Er spürte, dass seine Macht über die Menschen im Treppenhaus schwand. Es waren zu viele, die sich dort gegenseitig Mut zusprachen und den armen Ralf bemitleideten. Zu viele, die gemeinsam zu stark waren, um sich in den Bann der Schatten ziehen zu lassen. Den Angstmann kümmerte es nicht. Ralf war ein gutes Opfer gewesen. Das einzige Opfer, das zählte. Beinahe hatte er es geschafft, ihn in den Wahnsinn zu treiben. Die süße, schwarze Raserei, die den Platz aller Sorgen für sich beanspruchte und den Menschen zu einer Marionette machte – einer Marionette der Angst, an deren Fäden er nach Belieben ziehen konnte. Doch er wußte, dass Ralf bereits wieder auf dem Weg der Besserung war. Zu viele Menschen kümmerten sich um ihn.

Und gemeinsam waren sie immer stark. Immer.

Morgen würde Ralf an einen bösen Traum denken. Die Angst würde zurückweichen, das Spielfeld für die Scham räumen.
Mit einem energischen Ruck wandte sich der Angstmann ab und stapfte los. Er hätte enttäuscht sein müssen, denn er war seinem Ziel so nahe gewesen. Beinahe war es ihm gelungen, einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben.

Beinahe war es ihm gelungen, einen Menschen zu seinem Werkzeug zu machen. Zum Werkzeug seiner Erlösung. Doch in diesem Augenblick kümmerte es ihn nicht. In diesem Augenblick strömte die Angst, die er aus Ralfs Seele gesaugt hatte, durch seinen Körper wie ein Lebenselixier. Er wünschte sich mehr von diesem köstlichen Trank, doch Der Alte hatte die Regeln klar definiert. Nur ein Opfer pro Nacht. Das Opfer musste bereits in der vorhergehenden Nacht ausgesucht werden. Dann konnte die Jagd beginnen.
Nicht immer war es dem Angstmann gelungen, sich einem Opfer bis auf Schlagdistanz zu nähern. Seine Macht war im Laufe der Zeit gewachsen, doch er benötigte noch immer körperlichen Kontakt, um ein Opfer auszusaugen. Und er durfte sich keine Fehler erlauben. Falls es ihm nicht gelang, ein Opfer in Angst und Schrecken zu versetzen, würde seine Macht schwinden. Der Jäger wurde dann zur Beute, und die Beute war schnell zur Strecke gebracht. Er würde den Rest seines Daseins in kümmerlicher, menschlicher Form verbringen. Der Form, der er auf Dauer entfliehen wollte.

Er ging weiter.

Immer weiter.

Hinaus aus der Stadt. Hinein in die Dunkelheit, die er lieben gelernt hatte.
Die Dunkelheit empfing ihn mit offenen Armen.
Hier oben in den Feldern, jenseits der Straßenlaternen und der beleuchteten Fenster, ließ der Angstmann seiner Euphorie freien Lauf. Hier schrie er seine Freude in die Nacht hinaus. Und das Gefühl wollte nicht enden. Anhaltende Euphorie, die seinen Körper durchströmte...

Er war ein Vampir. Ein Vampir, der seinen Blut saugenden Artgenossen überlegen war.
Ein Vampir, der sich von der Essenz der menschlichen Seele ernährte – und die menschliche Seele besitzen konnte, wenn es ihm gelang, die Vernunft seines Opfers zu töten und ihm den Weg in die Raserei zu zeigen. Er fühlte sich überlegen. Unbesiegbar. Perfekt.

Niemand konnte ihm etwas anhaben.
Denn er war der Angstmann.
Er ging weiter.
Immer weiter.

Und die Dunkelheit wurde dichter. Greifbarer. Aufdringlicher.
Er war der Angstmann, der den Menschen den Weg zur Welt des Schreckens zeigte. Es gab nichts, wovor er sich fürchten mußte. Die Dunkelheit war sein Revier. Er stoppte abrupt.
Die Dunkelheit war sein Revier.
Wieso fürchtete er sie plötzlich?

Er fuhr herum.

Waren da Schlangen? Schlangen, die sich mit ekelerregenden, gleitenden Bewegungen um ihn versammelten, leise und boshaft zischend? Die sich in der Dunkelheit an ihn heranpirschten, um ihn mit ihrem Gift zu lähmen?
Er tadelte sich selbst. Er war der Angstmann. Es gab keinen Grund, sich vor Schlangen zu fürchten. Er lachte nervös und schaute zur Stadt zurück.
Doch die Stadt war nicht mehr da.
Da war nur noch Dunkelheit, die ihn umfing. Und Schlangen. Lange, schuppige Schlangen. Die Energie war verbraucht.
Die Überlegenheit des Angstmannes verrann, wie Sand in einer Sanduhr. Die Zeit des Nehmens war abgelaufen. Nun musste er geben, was er genommen hatte.
“Sohn!”
Die Stimme des Alten brach über ihn herein, kalt und zischend.

“Eine gute Jagd in dieser Nacht, nicht wahr?”

Der Angstmann krümmte sich wimmernd. “Ja.”
“Ja, Vater!” bellte Der Alte.
“Ja... Vater.” wiederholte der Angstmann voller Demut.
Die Dunkelheit verdichtete sich. Schwarze Schwingen breiteten sich über ihm aus. Der Alte war gekommen, um sich zu nehmen, was ihm gehörte.
“Gib’s mir!” flüsterte Der Alte.
Der Angstmann gab es ihm. Er gab ihm alles, was er genommen hatte. Nur einen winzigen Rest behielt er zurück. Den Rest, den ihm Der Alte in jeder Nacht überließ. Doch es war nicht genug. Die Jagd war gut gewesen, die Beute reich. Doch es war nicht genug. Es war niemals genug.
Und die rasende Achterbahnfahrt des Angstmannes begann. Die Fahrt zu seinem schwachen, sterblichen, menschlichen Körper.

23:21 Uhr:

Er schrie, und das weiße Licht blendete ihn.
Er sah Gesichter. Ein männliches und ein weibliches Gesicht. Besorgt.
Und er spürte Hände auf seinem Körper, die ihn festhielten.
Er war wieder zurück. Zurück in seinem menschlichen Körper. In seinem privaten Gefängnis, in dem der Wahnsinn regierte.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als zu schreien, zu schreien, zu schreien.
Dann ein scharfer Stich in seinem Arm. Und der gnädige Nebel der Beruhigungsmittel, die sie ihm in jeder Nacht injizierten.
Das Licht verblasste. Dunkelheit...

23.24 Uhr:

Er war zurück.

Zusammengesunken ruhte er auf seinen Knien. Schwärze umgab ihn. Keine bedrohliche Dunkelheit voller Schlangen. Nur Schwärze. Das Nichts.
Der Nullraum.

“Sehr gut.” sagte Der Alte. Seine Stimme war überall.
“Du hast viel gelernt. Sehr viel, und sehr schnell. Wie lange dienst du mir schon?”
“Ein Jahr.” stammelte der Angstmann.
“Ein Jahr... Vater!” tadelte Der Alte.
“Vater...” hauchte der Angstmann.
“Beinahe wäre es dir gelungen. Das Opfer war stark, doch du hättest fast gewonnen.” Anerkennung schwang in der Stimme des Alten mit. “Vielleicht gelingt es dir, das nächste Opfer in den Wahnsinn zu treiben. Und mächtiger zu werden. Endlich deinen elenden Körper endgültig zu verlassen.”
Hohn schlich sich in die Stimme ein. “Ob du dann wohl mächtig genug bist, um dich von mir zu lösen?” Der Angstmann witterte die Falle.
“Ich... ich weiß es nicht.” stammelte er vorsichtig.

Im nächsten Augenblick war Der Alte bei ihm. Überdeckte sogar die Schwärze des Nullraums. Ein Schatten der Nicht-Existenz, irgendwo jenseits der sichtbaren Dimensionen.
“Nein!” schrie Der Alte. “Du wirst niemals meine Macht erlangen! Ich werde immer da sein, bis an dein Ende!”
Der Angstmann krümmte sich zusammen, presste die Hände auf die Ohren. Doch die Stimme des Alten ließ sich nicht aussperren. Sie war in ihm, erfüllte sein Wesen mit dröhnenden Schallwellen: “Wir sind eine Pyramide! Eine Pyramide, die ständig wächst. Heute bist du das Fundament der Pyramide. Vielleicht bist du morgen ein Stück weiter nach oben gekrochen. Und vielleicht bist du irgendwann einmal sehr weit oben. Aber ich werde immer ein Stockwerk über dir sein! Und die Spitze der Pyramide wirst du niemals erreichen. Übe Demut vor dem Höchsten!”

Der Angstmann blickte auf, starrte in das absolute Dunkel des Alten.
Er investierte alles, was von seinem Mut übrig war.
“Wer ist der Höchste?” fragte er.
Der Alte ließ ein gefährliches und doch unsicheres Lachen ertönen. “Ich weiß es nicht. Und ich will es nicht wissen. Ich habe Angst vor ihm. Wie wir alle.”

In der Dunkelheit erschienen fahl leuchtende Punkte. Aus den Punkten wurden Laternen. Sie säumten Straßen. Um die Straßen herum schmiegte sich die Stadt. Der Angstmann verließ den Nullraum, den Alten an seiner Seite.
“Wollen wir die Wahl für die nächste Nacht treffen?” Es war keine Frage.
Es war ein Befehl.
“Ja, Vater.” antwortete der Angstmann gehorsam.

Sie zogen davon, dem Himmel entgegen.
Der Angstmann liebte das Gefühl, schwerelos zu schweben. Ein Gefühl, das er nur in der Gegenwart des Alten genießen durfte.

23:47 Uhr:

Sie kreisten über der Stadt.

Unsichtbar und lautlos.

“Wie geht es deinem Körper?” fragte Der Alte beinahe beiläufig.
“Gut.” antwortete der Angstmann. “Er wird täglich gefüttert. Sie sorgen wirklich gut für ihn in dieser Psychiatrie. Nur die Beruhigungsmittel machen ihm zu schaffen.”
Der Alte stieß ein meckerndes Lachen aus. “Im Irrenhaus, umgeben von Narrendoktoren, vollgepumpt mit Haldol, Modicate und Thorazin! Armer Sohn. Ich erinnere mich an die Zeit, in der ich an deiner Stelle war. Diese ständige Angst, den Körper zu verlieren und zu sterben. Diese Abhängigkeit von einem schwächlichen, irdischen Dasein. Doch das wird bald hinter dir liegen.” Die Stimme des Alten klang verträumt. “Ich erinnere mich auch an deine Ausbildung. Die Zeit, in der du die Grundlagen der Jagd lernen musstest. Wir haben schlafenden Menschen Albträume gebracht. Weißt du es noch?”
“Ja.” antwortete der Angstmann. “Es ist gerade einmal ein Jahr her. Selbstverständlich erinnere ich mich.”
“Und die Menschen fragen sich immer noch, woher die Albträume kommen. Wenn sie nur wüßten, wie viele Angstmänner in jeder Nacht ihr Handwerk erlernen müssen!” Sein Tonfall wurde schärfer. “Es ist schon heute eine große Pyramide, mein Sohn. Und sie wächst mit jeder Nacht und jedem Albtraum, der in der Welt der Menschen geträumt wird. Und nun wählen wir dein Opfer für die kommende Nacht.”

23:59 Uhr:

Sie schwebten rasend schnell von Haus zu Haus. Durchdrangen Wände und Decken.
Schauten Menschen an.
Menschen, die sich liebten.
Menschen, die schliefen.
Menschen, die tranken.

Ein Mensch erregte die Aufmerksamkeit des Angstmannes.
Ein Mensch, der gebannt auf den Monitor eines Computers blickte.
“Vater”, flüsterte der Angstmann, “dieser hier ist es.”
Sie schwebten näher an den Menschen heran. Tasteten mit unsichtbaren Fühlern nach seinem Geist.
“Warum dieser hier?” fragte der Alte.
“Weil er sich fürchtet.” antwortete der Angstmann. “Er fürchtet sich vor einem Text im Internet. Wenn ich ihm nahe genug kommen kann, wird es reiche Beute geben.”
Der Alte nutzte seine Kräfte und prüfte den Menschen noch einen Augenblick.
Ja, der Mensch fürchtete sich. Fürchtete sich vor der Dunkelheit, in der sich seltsame Dinge bewegen konnten.
“Eine weise Wahl, mein Sohn.”
“Danke, Vater.”
“Geh‘ nun schlafen. Die Nacht hat ihren Zenit erreicht. Kehre in deinen Körper zurück und ruhe dich aus für die Jagd.”
Der Angstmann konnte sich vom Anblick des Menschen nicht losreißen. “Einen Augenblick noch, Vater. Nur noch einen Augenblick.”

0:00 Uhr:

Der Angstmann beobachtete den Menschen, der den Text zu Ende las.
Plötzlich rückte der Mensch vom Monitor ab, griff mit einer hektischen Bewegung zur Maus und klickte auf das "Zurück"-Symbol des Internet-Browsers. Der Mensch blickte sich verunsichert um. Ein erster Anflug von Angst überschattete sein Gesicht. Im letzten Augenblick war der Angstmann dem Menschen nahe genug gekommen, um auf dem Monitor noch einige Details wahrzunehmen.
Ein roter Hintergrund. Die Buchstaben “S” und “L”. Der Name “Andreas”.

“Ja!” dachte der Angstmann. “Du bist es. Meine Eintrittskarte zur Ewigkeit.”

Er entfernte sich langsam von dem Menschen.
Glitt zurück in den Nullraum.
“Morgen wirst du das Fundament der Pyramide sein.”

0:01 Uhr:

Die Medikamente zeigten Wirkung.
Die Schreie hatten aufgehört.
Der Patient schlief.

Und er lächelte.


(c) Niels-Peter Henning

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.43 Uhr
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