Ganz schön bissig ...
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November 2002
Catwalk
von Thomas Wehr


Das grelle Licht macht mich blind und taumelnd. Die tosende Musik verführt mich, in ihr auf und ab zu wippen. Menschen umzingeln mich und nehmen mir die Luft zum Atmen. Aber ist es nicht das, was ich immer wollte? So sein wie alle anderen auch. Schneller und lauter pulsiert die Musik in meinem Herz, unruhig vibriert ein monotoner Bassloop durch den Raum, ständig zucken bunte Blitze durch die Dunkelheit. Mein Körper windet sich unter dem Einfluss der Musik, meine Konturen schmelzen dahin, fast bin ich eins mit dieser Nacht. Hier kann ich sein, was ich bin. Ich warte darauf, dass ich so werde, wie ich bin.
Gefangen bin ich, umgeben von tanzenden Körpern und ausdruckslosen Gesichtern. Ich gleite zu Boden, der Alkohol hat mir die Knochen aufgeweicht. Irgendjemand hebt mich wieder auf und spricht mit mir, aber ich höre ihn nicht und kaum noch die Musik, vielmehr bloß noch weißes Rauschen auf beiden Kanälen, und irgendwo in der Tiefe meines hohlen Körpers der alles bestimmende Herzschlag. Ihre Arme und Hände sind überall. Man berührt mich, ich stoße sie angeekelt fort. Aber wollte ich nicht, dass sie mich berühren?
Ich halte die Flasche fest in meinem Griff, unzählige andere habe ich vor ihr geleert, aber es nützt nichts, ich stehe weiterhin neben ihnen und bin ein Fremder wie der Taucher im Meer oder der Raumfahrer im All. Wollte ich nicht mit der Welt verschmelzen und endlich diesen Schmerz der Einsamkeit ablegen, den ich wie einen Mantel überall mit mir herumtrage? Aber niemand bietet sich an, mir aus dem Mantel zu helfen und ich beginne unter ihm zu schwitzen wie unter der Sonne der Sahara.
Die Erkenntnis trifft mich spät und hart: Wir sind wie Bäume, wir sind viele und doch steht jeder für sich allein. Wir sind alle Ichs und damit gibt es kein Wir.
Mir kommt die Legende von dem kleinen Jungen aus Atlantis in den Sinn, der einmal an Land ging, weil er dachte, von dort aus könne er das Leben im Meer besser beobachten und verstehen, wieso er unter Wasser leben musste, während alle anderen auf Erdschollen lebten; dann sah er etwas ungemein Schönes auf der Wasseroberfläche funkeln und meinte, es wäre die Reflexion eines Raumschiffs vom Himmel, aber als er hinauf sah, war nichts mehr da; der Junge wollte doch so gerne fort von hier, also wartete er sein Leben lang am Strand des Meeres darauf, dass dieses Raumschiff ihn holen käme. Aber er sah weder die Reflexion noch einmal, noch sah er jemals ein Raumschiff, und über all die Jahre hatte er auch noch vergessen, wo seine Unterwasserstadt gelegen hatte. Die Geschichte machte mir schon immer Angst, denn der wartende Junge war nie wieder in das Meer zurückgegangen, noch kehrte er in den Himmel heim. Seine Seele wurde zwischen diesen beiden Welten schier zerrissen.
Ich weine ein wenig.
Wie lange kann man unter einer Maske atmen?
Vereinigung: Eine Lüge. Warum?
Ist es richtig oder falsch, die Maske abzunehmen?
Ich sehe in die Gesichter der Menschen, die mich umgeben, aber sie sind es nicht, sie tragen alle Masken. Was ist mit ihnen? Sie sind so unendlich traurig. Das sehe ich jetzt zum ersten Mal an diesem Abend.
Ihre Gesichter wie feuchter Ton, durch den eine Hand gefahren ist.
Sie greifen in die Luft als wäre da was, ein Halt, eine Frucht. Es ist, als sähe ich in einen verwunschenen Spiegel, wenn ich in ihre Gesichter schaue. Wir erleiden Isolation und denken, wir sind vereint. Diese alles bestimmende Lüge lässt meinen Magen rebellieren, und ich wühle mich durch die Gesichter. Verzweifelte Augen begegnen lachend den meinen wie rastlose Glühwürmchen und verlieren sich wieder. Mir ist schwindlig, ich brauche Luft. Schon sehe ich die Tür, laufe, stoße sie auf, lasse alles zurück: meine Hoffnung, meinen Traum, die anderen.
Ich gehe an Land. Dunkelheit hüllt mich ein. Ebenso die plötzliche Stille. Es ist so ruhig, dass ich das Gras unter meinen Schritten rascheln höre. Mein Weg führt mich zu einer Baumgruppe, in etwa hundert Meter Entfernung. Dort bleibe ich stehen und zähle die Sterne am Himmel. Ich habe kurze Zeit wieder Hoffnung, aber dann sehe ich, dass ich blute. Was ist passiert? Blut an meinen Händen, an meinem Hemd, der Rest einer zerbrochenen Flasche baumelt zwischen zwei Fingern. Irritation. Ich zittere, in mir beginnt etwas aufzuleben.
Ganz langsam, aber unaufhaltsam.
Es ist der Geruch meines eigenen Blutes, meiner Sterblichkeit, meiner Zeit, die ich nicht mehr habe. Tief in mir bebt etwas, aber es sitzt tief unter dem Magen. Es ist da und richtet sich auf. Es kann mich riechen. Es hat das salzige Rot gewittert. Es hat daran geleckt. Der Schweiß rinnt mir bis in die Schuhe. Es grunzt und brüllt. Es öffnet seine Augen und sieht durch mich hindurch in den Irrsinn, der uns umgibt.
Blutend sinke ich langsam in die Nacht, vom kühlen Nebel bedeckt. Dieses Blut an meinen Händen macht mich wütend, ich habe wohl eine wichtige Ader getroffen, so leicht fließt es dahin. Ich beginne, wie ein Hund zu hecheln, an meinem Kinn läuft etwas Zähflüssiges herab, meine Augen funkeln. Ich bin gefährlich. Keiner ist da, der mich bemerken kann. Ich bin allein. Ich trete wahllos gegen die Bäume, immer wieder. Ich sinke wieder erschöpft auf den feuchten Boden, mein Puls rast, der Magen – endlich – dreht sich um.
So viele Sterne funkeln in dieser Nacht. Ich will sie alle löschen, denn sie können ja nicht ewig leuchten. Da höre ich plötzlich ein Rascheln irgendwo hinter den Bäumen. Ich erstarre und lausche. Es ist eine Katze. Das kleine Tierchen kommt geschmeidig aus dem Gebüsch hervor gesprungen, steuert direkt auf mich zu, bleibt dicht vor mir stehen und schaut mich aufmerksam an, als wäre ich der lang ersehnte Katzengott. Ich liebe Katzen, aber diese hasse ich sofort. In ihrem Blick liegt Neugier. Sie ist munter und erfüllt von frischem Leben, nicht traurig. Vor allem nicht traurig. Die Katze lächelt mich an. Spottet sie mir nun oder will sie bloß gestreichelt werden? Ein wenig Zuwendung in dieser bitterkalten, einsamen Nacht, das will doch jeder. Ich wünsche mir in diesem Moment nichts sehnlicher, als ihr diesen Wunsch zu erfüllen. Doch so sehr ich es auch will, ich kann mich nicht bewegen. Ahnungslose Katze. Kennt sie einen anderen Gedanken als den der Gleichgültigkeit? Als den der Gelassenheit? Der Unsterblichkeit? Weiß sie denn nicht, dass sie sterben muss?
Die Katze beginnt sich an meinem Bein zu reiben und schnurrt dabei.

Später, so ungefähr zwei oder drei Stunden nach der Begegnung mit der Katze wurde ich von einem alle Ruhe dieser Nacht zerreißenden Schrei aus meinen Gedanken gerissen. Ich fuhr erschrocken auf, wobei ich mir den linken Fuß verstauchte, da er hinter einer Baumwurzel hängen blieb. Ich fluchte und stolperte in Richtung des Schreis und riss mir irgendwie auch noch die linke Hand an einem tiefhängenden Ast auf.
Ich sah ein Mädchen, welches sofort wieder zu schreien begann, als es mich auf sich zukommen sah. Erst verstand ich kein Wort von dem, was sie mir entgegen schrie, dann wurde ich allmählich wieder etwas klarer im Kopf.
- Die Katze, die Katze, rief sie immer wieder.
Ich war wohl sehr betrunken, denn verstand ich zwar endlich die Worte, aber nicht deren Sinn. Welche Katze? Und wieso?
Es kamen andere Leute hinzu, und bald befand ich mich wieder inmitten eines Rudels Menschen und wurde unruhig. Nun wollte ich aber endlich wissen, was passiert war und ging auf das Mädchen zu. Irgendjemand hatte einen Arm um sie gelegt und sprach etwas in beruhigendem Ton zu ihr. Das arme, verstörte Mädchen. Es war so dunkel, ich erkannte nicht viel.
Dort lag die Katze.
Ihr Kopf lag etwa einen Meter neben ihrem Rumpf und war jämmerlich verbeult. Ein Ohr war ihm abgerissen worden. Ich begann augenblicklich zu weinen und schrecklich zu jammern, denn ich liebe Katzen über alles. Der Kopf schien von dem Rumpf abgebissen worden zu sein. Macht ein Hund so etwas?
Ich stand noch eine ganze Weile dort zwischen dem Mädchen und der Katze, ohne zu merken, wie sich die Menschen langsam mehr um mich denn um das Mädchen scharrten.
- Ja, sagt: Macht denn ein Hund so etwas? rief ich verzweifelt. Das Mädchen war jetzt verstummt. Es sprach, glaube ich, überhaupt keiner mehr. Ich selbst starrte fassungslos auf den blutigen Hals der Katze.
Dann bemerkte ich den scheußlichen Geschmack in meinem Mund.

(c) Thomas Wehr

Letzte Aktualisierung: 27.06.2006 - 00.45 Uhr
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