Weihnachten, Heiligabend! Im Radio erklangen schon Weihnachtslieder. „Lasst uns froh und munter sein ...“, wurde gerade gesungen.
Aber so war Marlene noch nicht zumute. Sie schwitzte. Der Herd, in dem die Weihnachtsgans zum Abendessen brutzelte, verbreitete in der Küche seine Wärme. Marlene war abgehetzt, fühlte sich erschöpft von den letzen Vorbereitungen für das Fest. Das bedeutete für sie alle Jahre wieder auch drei Tage Anstrengung und Arbeit. Doch sie hielt fest an der Tradition, erst im kleinen Familienkreis, dann im größeren und zuletzt noch mit Freunden Weihnachten zu verbringen. Und es sollte ein schönes Fest werden, auch das hoffte sie alle Jahre wieder.
Sie hatte Unmengen dazu eingekauft, Plätzchen und Stollen gebacken, Geschenkpäckchen gepackt, die Wohnung geputzt und geschmückt. Eine Woche arbeiten im Betrieb war für sie nicht so anstrengend wie drei Tage Vorbereitungen zum Weihnachtsfest. Nur die Küche musste sie noch aufräumen und sich ein festliches Kleid anziehen. Sie wurde langsam nervös. In der Wohnung roch es schon nach Gänsebraten und Bratäpfeln, aber kein würziger Duft nach Tannengrün mischte sich darunter.
Lange konnte es nicht mehr dauern, dann würden ihre Mutter, ihre Schwiegermutter und Onkel Henri kommen, um mit ihnen und den achtzehnjährigen Zwillingen, Simone und Timo, den Heiligen Abend zu feiern. Und Bruno, ihr Mann, war noch immer nicht zurück mit einem Weihnachtsbaum.
Jedes Jahr war es dasselbe, er allein wollte den Baum besorgen. Aber er ging erst los, kurz bevor die Händler ihren Verkauf am Heiligabend einstellten. Seit zwanzig Jahren, seit sie verheiratet waren, ließ er sich nicht davon abbringen. „Warum soll ich so viel Geld ausgeben, wenn ich jetzt eine Tanne fast geschenkt bekommen kann?“, verteidigte er sich beharrlich.
Jedes Mal nahm sie sich vor, sich darüber nicht mehr aufzuregen. Ruhig und besinnlich sollte das Fest sein. Doch es gelang ihr nicht, sie verging fast vor Sorge, er könnte einmal ohne Baum wiederkommen. Ein gereiztes Wort dann von ihr, eine ungeduldige Antwort von ihm, wenn er endlich kam, und alles drohte im Chaos zu enden. Wie ein Wunder kam es ihr vor, dass es ihnen gelang, stets ihre Missstimmung zu überspielen, sobald die Gäste eintrafen.
Sie hasste diese Hetze um den Baum, wenn er noch aufgestellt und geschmückt werden musste, kurz bevor die Gäste kamen. Gerade zu dieser Zeit hatte sie damit zu tun, dafür zu sorgen, dass das Essen rechtzeitig aufgetragen werden konnte. Alles sollte fertig sein, ehe es an der Wohnungstür klingelte, sonst würde ihre Mutter wieder mit diesem vorwurfsvollen Blick sagen: „Also, ich hatte immer das Essen bereit und heiß in der Röhre. Bei mir konnten sich alle gleich an den Tisch setzen.“ Marlene wollte sich nicht ausmalen, wie ihre Mutter erst darauf reagieren könnte, wenn einmal kein Weihnachtsbaum im Zimmer stand. Ihre Schwiegermutter dagegen wusste bestimmt wieder eine Entschuldigung für ihren Sohn und würde ihr die Schuld daran geben.
Im Radio sangen sie: „Der Christbaum ist der schönste Baum ...“
Wenn sie nur schon einen hätte. Wo blieb Bruno? Die Zeit wurde immer knapper. Hastig strich sie sich eine Strähne aus dem Gesicht und lief an der gedeckten Tafel im Zimmer vorbei auf den Balkon, um nach ihm Ausschau zu halten. Nichts! Weder mit noch ohne Baum war er zu sehen. Das geht schief! Heute passiert es! Er wird keinen Baum mehr bekommen. ‚Nächstes Jahr frage ich ihn nicht mehr und besorge selbst einen. Auch wenn er sich darüber bis ins neue Jahr hinein ärgert’, nahm sie sich vor.
Aber wer weiß, wie es im nächsten Jahr sein würde. Es hatte sie sehr getroffen, als gestern Abend Simone und Timo erklärten, sie würden nicht den ganzen Heiligen Abend bei ihnen bleiben. Tradition hin, Tradition her, sie wollten bis in die Nacht hinein mit Freunden zusammen bei einem Weihnachtsfest mit Tanz auf ihre Art feiern. Sie meinten, das Gelaber der Alten sei doch jedes Jahr dasselbe, darauf hätten sie keinen Bock mehr, das müssten sie, die Eltern, verstehen. So ein Weinachten wie früher, worauf sie wert legten, sei nun einmal abgefahren in der heutigen Zeit.
Erst hatte sich Marlene empört, Heiligabend gehöre die Familie zusammen, aber sie begegnete nur Trotz. Sie sei von gestern, musste sie sich anhören, die Freunde hätten keine Probleme, von ihren Familien loszukommen. Sie blieben ja auch noch lange genug bei ihnen, gingen erst nach der Bescherung weg. Natürlich, die Geschenke wollten sie noch in Empfang nehmen. Die Wünsche wurden ja immer größer und die Omis, gut betucht, waren spendabel. Bruno nahm das erstaunlich gelassen hin. „Es hat keinen Sinn, sie zwingen zu wollen. Lass sie gehen! Eines Tages werden sie wieder nichts lieber tun, als mit uns am Heiligabend zusammenzusitzen. Hör auf, zu viel von Weihnachten zu erwarten, umso schöner wird es für dich sein.“, sprach er beruhigend zu ihr.
Aber es fiel ihr schwer, das einfach so hinzunehmen. Doch sie wollte kein Wort mehr dazu sagen, das würde bestimmt schon ihre Mutter besorgen.
Aus dem Radio erklang inzwischen: “Ihr Kinderlein, kommet ...“
Wenn doch Bruno mit dem Baum schon da wäre. Er wolle mit dem Auto nur zum nächsten Händler fahren, hatte er gesagt. Das konnte eigentlich nicht so lange dauern. Die Werkzeugkiste, Baumständer und der Christbaumschmuck standen bereit. Die Gans würde pünktlich fertig sein, der Tisch war gedeckt und die Geschenkpäckchen warteten darauf, unter den Weihnachtsbaum gelegt zu werden.
Ja, wenn es in diesem Jahr überhaupt einen Weihnachtsbaum geben würde! Vielleicht bekam er so spät gar keinen mehr.
„Am Weihnachtsbaum, die Lichter brennen ...“, hörte sie im Radio.
Das machte sie noch nervöser.
„Mama, in der Küche brennt was an!“ Simone riss sie aus ihren Gedanken.
„Der Rotkohl!“ Marlene jagte zur Küche. Vorbei an ihrer Tochter, die wieder in ihr Zimmer verschwand. „Mann, das ist nicht mein Ding, so eine Hektik bloß wegen Weihnachten“, hörte sie Simone zu Timo sagen.
Ihr war zum Heulen. Für wen machte sie das eigentlich alles, das Einkaufen, das Backen, das Vorbereiten?
Jetzt waren sie im Radio schon bei dem Weihnachtslied „Oh, du Fröhliche ...“ angekommen, fehlte bloß noch „Stille Nacht, heilige Nacht ...
Sie hatte den Rotkohl gerade gerettet, da schloss es an der Wohnungstür. Zuerst schob sich ein riesiges Ungetüm von Tannenbaum herein, verkrüppelt mit dünnen Ästen. Hinterher kam Bruno.
„Na, was sagst du? Hast du schon mal so einen großen Baum gesehen und zum halben Preis?“, fragte er.
„Zu groß! Der passt doch gar nicht auf den kleinen Tisch neben dem Esstisch im Zimmer. Und hässlicher ging es wohl auch nicht?“
„Schlechte Laune, was?“
„Schau mal auf die Uhr? Wie willst du das schaffen, bis ...?“
„Hat doch immer geklappt, all die Jahre. Du nervst!“ Ärgerlich wandte er sich ab, stolperte über den Baum und ließ ihn fallen.
„Nein! Was ist das? Der nadelt ja schon. Als hätte ich nicht genug zu tun.“
„Dann mach du das doch und stell den Baum auf, wenn du das kannst, ohne dass er Nadeln verliert.“
„Kannst du nicht einmal zeitiger einen Baum besorgen, so, wie es andere tun?“
„Dann hättest du dir einen anderen Mann nehmen müssen. Dein Gezeter geht mir auf den Geist!“
Timo steckte den Kopf aus seiner Zimmertür. „Fröhliche Weihnachten!“, murmelte er und verschwand gleich wieder.
Simone ging ihrem Vater zum Balkon nach, um ihm zu helfen, und sang: “Alle Jahre wieder ...“
Grollend begoss Marlene die Gans im Herd.
Bruno sägte verbissen an dem Baum herum, kürzte ihn, drückte ihn in den Ständer und richtete ihn aus. Simone half ihm dabei. „Der ist aber störrisch heute, mach ihn nur gut fest“, mahnte sie ihn.
„Der ist fest!“, brummte Bruno und sah zur Uhr. „Hol Timo! Zu dritt schaffen wir es noch, den Baum zu schmücken.“ Hastig setzte er ihn auf den Tisch.
„Wo hast du den denn her, vom Flohmarkt?“, rief Timo, als er das Zimmer betrat.
Bruno streifte ihn nur mit einem gereizten Blick.
„Tut mir Leid, aber der hat ja fast nur an einer Seite Zweige. Den musst du drehen“, meinte Timo unbeirrt.
„Wenn erst Schmuck und Lametta dranhängen, sieht man das nicht mehr“, murrte Bruno, drehte den Baum aber noch so um, dass die volle Seite des Baumes zum Zimmer zeigte.
Dann machten sich alle drei daran, den Baum zu schmücken, im Eiltempo. Sie waren schon ein eingespieltes Team. Marlene, bereits im Festtagskleid, saugte die Tannennadeln auf.
Der letzte Lamettafaden war gerade angehängt worden, die elektrischen Kerzen leuchteten auf, da klingelte es. Die Gäste waren da, belanden mit bunten Päckchen.
„Fröhliche Weihnachten!“ – „Fröhliche Weihnachten!“ Umarmen, Küsschen, Lachen, gespielte Fröhlichkeit. „Hm! Das riecht hier aber wieder gut!“ – „Ich bin sehr neugierig, was ihr mir diesmal schenkt“ – „Und was ich euch schenke, das erratet ihr nicht!“ Sie überboten sich an guter Laune.
Und aus dem Radio erklang: „Süßer die Glocken nie klingen ...“
Marlene verschwand schnell in die Küche. Da stand schon ihre Mutter in der Tür. „Hast du etwa noch nicht alles fertig?“
Im Zimmer jauchzte die Schwiegermutter: “Bruno, was hast du wieder für einen schönen Baum besorgt. Das muss man dir lassen, das verstehst du.“
„Ja, ja! Und die elektrischen Kerzen daran strahlen richtig. Früher allerdings gab es nur Wachskerzen am Weihnachtsbaum, aber die flackerten so schön. Das war anheimelnd.“ Onkel Henri träumte wie immer von der Vergangenheit und setzte sich auf den ersten Stuhl, den er erreichen konnte. Er schaute über den gedeckten Tisch. „Und eine Weihnachtsgans gehörte auch immer dazu. Gibt es die hier heute auch? Es riecht so gut danach.“
„Ja, wie immer, Onkel Henri“, antwortete Simone, als sie schon mit der ersten dampfenden Schüssel hereinkam. Die Mutter und Marlene trugen weiter das Essen auf, zuletzt, von Ah-Rufen begrüßt, die knusprige Gans auf einer Platte.
Alle setzten sich um den Tisch.
„Also ich weiß nicht. Hätte die Gans nicht etwas brauner sein müssen“, fragte die Schwiegermutter.
„Frieda, wenn die bei dir brauner war, dann war sie verbrannt!“, empörte sich die Mutter.
„Hauptsache sie schmeckt!“, meinte Onkel Henri. Und er steckte sich seine Serviette schon in den Halsausschnitt. Er bekam auch als Erster eine Gänsekeule.
Bald war nur noch Geklapper von Bestecks und Teller zu hören, jeder aß, hier und da fiel mal ein Lob, mal ein Ah.
Und währenddessen sangen sie im Radio: „Vom Himmel hoch da komm ich her ...“
Bruno wollte gerade sein Glas erheben, ein Lob der Hausfrau und Köchin für das gelungene Mahl aussprechen, da sagte Timo: „Papa, schau mal, der Baum steht ganz schief.“
„Ach, wo! Das kommt dir nur so vor“, tat es Bruno ab.
Onkel Henri, der direkt davor saß, drehte sich um. „Also von hier aus gesehen ist er gerade.“
„Papa, der wird immer schiefer, der fällt um!“, rief Simone.
„Bruno, da stimmt was nicht!“ Auch Marlene wurde unruhig.
„Nun esst mal! Bruno hat noch jeden Baum gerade und fest in den Ständer bekommen. Da ist noch keiner umgefallen.“ Die Schwiegermutter wollte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Aber als Marlene rief: „Henri steh auf! der Baum kommt“, da sprang auch sie auf wie die andern, keinen Moment zu früh. Raschelnd krachte er auf den Tisch, zerschlug die Schüssel mit Rotkohl, dass der nur so umherspritze, und schob mit seinen Zweigen die schon stark reduzierte Gans von der Platte.
Stille, alle starrten auf den umgefallenen Weihnachtsbaum.
„O Tannenbaum, o Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter ...“, erklang aus dem Radio.
„Guckt mal, sogar die Kerzen brennen noch. Ein Glück, das es keine echten sind! Habe ich euch schon mal erzählt, wie bei uns der Weihnachtsbaum gebrannt hat?“ Onkel Henri fand als erster wieder Worte. Er stand da, die Serviette wie ein Latz vor der Brust und in der Hand die angeknabberte Gänsekeule. Die hatte er gerettet.
„Ja, Onkel Henri, hast du“, versuchte Simone die Erzählung zu verhindern. Sie bückte sich und hob eine Weihnachtskugel auf, die ganz geblieben war.
„Schöne Bescherung! So etwas ist bei uns nie passiert“, erklärte die Mutter.
Marlene drehte sich um und rannte weinend aus dem Zimmer.
„Wo rennt sie denn hin?“, fragte die Schwiegermutter.
Bruno sah ihr einen Moment nach, dann packte er den Baum. „Komm, Timo, fass mit an!“ Zusammen richteten sie ihn wieder auf und er drehte die Schrauben des Ständers fester in den Stamm des Baumes.
Simone sammelte das Lametta und die zerbrochenen oder runtergefallenen Kugeln ein.
Schweigend, doch mit vorwurfsvollem Blick, hob die Mutter die Scherben der Schüssel auf und kratzte den Rotkohl auf dem Tischtuch zusammen.
Die Schwiegermutter wechselte die Teller aus, auf die Tannennadeln gefallen waren. „Kartoffeln und Soße haben wir ja noch, und von der Gans ist auch genug übrig“, meinte sie. „Ist ja alles gar nicht so schlimm, Junge. Wo bleibt denn Marlene?“
Bruno sah auf. Der Baum stand wieder. Oben in der Spitze hing noch etwas Rotkohl in den Zweigen. Wortlos ging er Marlene suchen. Er fand sie im Schlafzimmer. Sie stand am Fenster und sah hinaus auf die Straße, zu den Häusern gegenüber. Fenster, hinter denen Weihnachtsbäume standen, erstrahlten vom warmen Schein der Kerzen. Sie leuchteten hinaus in die Dunkelheit, ließen die Schneeflocken, die lautlos herabschwebten schimmern und glitzern. Weihnachtsstimmung.
Er trat hinter sie, sagte nichts, nahm sie in die Arme, so, dass kein Wort mehr nötig war. Sie lehnte sich an ihn. Schweigend hielten sie sich fest. Ein Weihnachtsbaum konnte sie nicht trennen. Dann wischte er ihr die Tränen aus dem Gesicht. „Alle Jahre wieder“, sagte er leise, nahm ihre Hand und ging mit ihr zurück ins Weihnachtszimmer.
„Wo bleibt ihr denn? Jetzt ist alles kalt geworden“, rief die Schwiegermutter ihnen entgegen.
„Wie konnte das passieren? Nur was man in Eile mit heißer Nadel näht, fällt schnell auseinander“, schoss die Mutter noch einen Pfeil ab.
Bruno reagierte nicht darauf.
Simone und Timo sahen verstohlen auf die Uhr. Sie zählten die Minuten, bis die Bescherung vorbei war und sie nach einem kurzen überschwänglichen Dankeschön gehen konnten.
Onkel Henri lehnte sich zurück, er war satt. Nun erzählte er die Geschichte, wie bei ihnen damals der Weihnachtsbaum gebrannt hatte. Jedes Jahr erzählte er diese Geschichte, alle kannten sie, aber niemand unterbrach ihn. Es war Weihnachten.
Und aus dem Radio erklang: „Stille Nacht, heilige Nacht ...“
(c) Ingeborg Restat
Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr Dieser Text enthält 14648 Zeichen.