Es lebte einmal in den unendlichen Weiten der Taiga, zwischen Ostsibirischer See und Ochotskischen Meer, ein junger Bär. In der Nähe des kleinen Ortes Zyryanka, am Fluss Kolyma, hatte er sich eine trockene geräumige Höhle für den strengen sibirischen Winter ausgesucht. Gut versteckt im dichten Nadelwald hoffte er in Ruhe seinen Winterschlaf halten zu können. So wie es Jahr für Jahr seine Vorfahren getan hatten.
Mischa war in Zyryanka den Menschen schon bekannt. Von Zeit zu Zeit holte er sich seinen Vorrat an Verpflegung aus den kleinen Hühnerställen der russischen Bauern. Mit mancher Mistgabel konnte sein dichtes braunes Fell dabei Bekanntschaft machen. Trotzdem war er von Grund auf friedlich und hatte sich im Laufe der Zeit mit den Bauern arrangiert. Solange er in der Nähe des Dorfes war, blieben die Wölfe fern und das Dorf wurde vor einem sehr viel größeren Schaden an Mensch und Tier bewahrt. So waren am Ende alle zufrieden und lebten in gebührenden Abstand zusammen.
Eines Nachts hatte Mischa einen bösen Traum. Schreiende Menschen mit Fackeln und spitzen Stöcken umringten seine Höhle, warfen ihm ein Netz über den Körper und schlugen auf ihn ein. Immer wieder und immer wieder, bis seine Lebensgeister in den Wald flüchteten.
Am nächsten Morgen wachte er brummelnd auf, fassungslos über dieses nächtliche Erlebnis. Die Sonne kletterte Stück für Stück die prächtigen Lärchen vor seiner Höhle empor und Mischa trapste gemächlich in die warmen Sonnenstrahlen, welche weiße leuchtende Flecken auf sein Nachtquartier zauberten. Er streckte sich und seine zwei Meter kräftiges Fleisch verlangten nach Nahrung. Mischa schüttelte den Kopf und bewegte sich kurz entschlossen in Richtung Dorf.
Nach einer viertel Stunde erreichte er die ersten Gehöfte von Zyryanka. Es war mittlerweile in der zehnten Stunde und ungewöhnlich ruhig zwischen den grauen Holzhäusern. Kein Kindergekreische war zu hören, keine alten Frauen und Männer auf den Bänken vor den Häusern zu sehen. Nur die Kühe in den Ställen rasselten mit ihren Ketten.
Mischa schaute sich misstrauisch um und wusste nicht recht, was das bedeuten sollte. Aber der Magen knurrte und sein Hunger vertrieb die aufkommende Unsicherheit. Drei Häuser weiter steuerte er den Bretterverschlag eines Hühnerstalls an. Da war er schon öfters gewesen und kannte die losen Latten im Holzzaun, hinter denen sein Frühstück gackerte. Geschickt schob sein dicker Kopf die Latten auseinander und mit einem kräftigen Satz landete er hinter der Abgrenzung.
Sein ohrenbetäubendes Brüllen durchbrach die Stille des Dorfes. Sofort strömten aus allen Richtungen Männer, Frauen und Kinder zu dem Hof des Bauern Fjodor Semjonow.
„Er sitzt in der Falle, der Mörder! Tötet ihn! Erschlagt ihn!", schallte es aus vielen Kehlen. Ein Todeskonzert für den armen Mischa. Er konnte nicht wissen, dass in der letzten Nacht ein Mann von einem fremden, vagabundierenden Bären getötet worden war. Nun lastete die ganze Schuld auf ihm und wer weiß, ob er die Wut der Einwohner überleben würde.
Alle Dorfbewohner versammelten sich um die Grube, in die Mischa gefallen war. Kurze angespitzte Holzpflöcke hatten die Bauern in den Boden geklopft und diese verursachten jetzt dem Bären fürchterliche Schmerzen. Was für eine Qual, immer wieder brüllte er sein Unglück in die Weite der Taiga hinaus.
„Was sollen wir mit ihm tun?“ Die Menge schaute erwartungsvoll den Dorfvorsteher Wassili Petrowitsch an. „Ersäufen!“, riefen die einen, „Steinigen!“, die anderen. „Nichts von dem werden wir tun!“ Wassili Petrowitsch war schon alt, mehr als 60 Sommer und Winter hatte er in diesem Dorf kommen und gehen sehen, auch viele Einwohner, die von Wölfen und Bären zerrissen wurden, in harten Wintern erfroren und verhungert sind. Er kannte den Tod in allen seinen Facetten und wusste, ein schneller Tod ist ein leichter Tod.
„Der Bär soll an seinen Wunden sterben, er soll verhungern oder erfrieren. Der Winter ist nah und er wird den Frühling nicht mehr erleben. Der Bär bleibt in der Grube, nur ein Dach werden wir ihm errichten, damit er nicht im ersten Schnee erstickt. So wird er die Qualen aller möglichen Tode erleiden und die richtige Strafe für seine fürchterliche Tat an unserem Mitbürger erhalten." Voller Bewunderung über die Weisheit des Alten errichteten die Männer widerspruchslos einen Wetterschutz über dem Loch. Nach Tagen verstummte das Geheul des Bären. Das Tier wurde nicht mehr beachtet und das Dorf kehrte zum Alltag zurück.
Zwei Wochen vor Neujahr brach der sibirische Winter mit all seiner Macht über die Taiga herein. Mischa lag noch in seinem Gefängnis ohne sich zu bewegen. Sein Instinkt gab ihm die richtigen Ratschläge zum Überleben. Sein Körper hatte alle Energiefunktionen auf Sparflamme geschaltet, so dass er nur noch von den angefressenen Fettreserven des Sommers lebte. Ein mächtiger Schneesturm, der russische Purga, trieb dichten Schnee durch den kleinen sibirischen Ort. Drei Tage wütete er und häufte riesige Schneewehen auf. Alles versank unter einer meterhohen Schneedecke. Am vierten Tag strahlte wieder die Sonne und die Dorfbewohner schaufelten ihre Häuser und Wege frei.
Anna Garitonowa, die kleine sehnige Frau von Sergej Garitonow, stieß die geschnitzte Holzschaufel in den Schnee und drehte sich mit Schwung auf die andere Seite des bereits frei geschaufelten Weges zu ihrem Haus. Wie Pulver rieselte der frosttrockene Schnee auf den bereits aufgetürmten Hügel. Seit ihr Mann vor ein paar Wochen von dem Bären getötet wurde, lastete die ganze Arbeit auf ihr. Leise seufzend drehte sie sich wieder um und erstarrte. Eine Hand ragte aus der von ihr freigelegten Stelle. Ein unterdrücktes Stöhnen erreichte ihren Mund. „Nicht schon wieder!", drang es von ihren Lippen. Hastig befreite sie den Körper vom Schnee und erkannte nun, wen sie vor sich hatte: Iwan der Einsiedler. Ein Mann, der schon lange einsam und allein am Ende des Dorfes wohnte. Er wies deutliche Spuren von Bärenkrallen auf und war im Sturm wahrscheinlich bis zu seiner letzten Liegestatt geschleift worden. `Wieder ein Bär!´, dachte sie erschüttert bei sich. `Wo kommen nur auf einmal diese angriffslustigen Bären her? Sie haben uns doch sonst in Ruhe gelassen.` Ratlos lief sie zu Wassili Petrowitsch, dem Dorfvorsteher, und berichtete von dem neuen Todesfall. Da aber eine Verfolgung des Tieres im Moment aussichtslos war, ließ man den Vorfall auf sich beruhen. Keiner verschwendete auch nur einen Gedanken an Mischa, den Bären.
Am 31. Dezember schmückten alle Bewohner des Dorfes die Neujahrstannen in ihren Häusern und die Kinder warteten sehnsüchtig auf die Geschenke von Väterchen Frost und Snegurotschka, seiner Enkelin, dem Schneeflöckchen. Die Erwachsenen saßen bei Brot, Speck, Zwiebeln und Wodka beisammen und diskutierten angeregt über die letzten Vorfälle mit den Bären. Die Nacht war klar, klirrend kalt und der Bauer Fjodor Semjonow stiefelte in einem dicken roten Mantel durch den Schnee auf seinem Hof. An der Hand hielt er seine 16jährige Tochter Maruschka, die dieses Jahr Snegurotschka, das Schneeflöckchen, spielte. So war es Sitte, jedes Jahr übernahm eine Familie aus dem Dorf das Beschenken der Kinder. Als sie bei dem Loch des Bären Mischa vorbei kamen, liefen sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, vorbei.
Zwei Häuser weiter richtete sich plötzlich ein riesiger Braunbär vor den zwei Menschen auf. Ein Hieb genügte, um Fjodor zu Boden zu schleudern, Maruschka konnte in das Haus entkommen.
Der Hausherr erkannte sofort, was geschehen war, holte Äxte und Mistgabeln aus dem Stall und stürzte er hinaus in die Nacht. Schreiend alarmierten sie die restlichen Dorfbewohner und Dutzende Fackeln erhellten die Nacht. Der Braunbär war darauf nicht gefasst und verlor durch das flackernde Feuer aus allen Ecken des Dorfes die Orientierung. Die ersten Stahlspitzen durchbohrten sein Fell, Äxte trafen seinen mächtigen Schädel und hilflos sackte er zusammen.
Nachdenklich schaute Wassili Petrowitsch, der Dorfvorsteher, auf das tote Tier herab. Hatten sie vielleicht den falschen Bären verurteilt? Musste einer leiden, nur weil er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war? Einer, der sie immer beschützt hatte ohne Böses im Schilde zu führen? Es war die Nacht des Väterchens Frost, die Nacht der Güte und Verzeihung. Kurz entschlossen richtet der alte Mann seinen Blick fest in die Runde der versammelten Einwohner. „Lasst ihn frei.“ Verständnislos blickte ihn die Menge an. „Lasst den gefangenen Bären frei. Er trägt keine Schuld am Tode von Sergej Garitonow. Gebt ihm Nahrung, versorgt seine Wunden und spendet ihm Wärme und Güte. Nutzt diese Nacht der Liebe und bittet Gott um Vergebung. Wir haben Schuld auf uns geladen und einen Unschuldigen gestraft."
Betroffen liefen die Menschen von Zyryanka, am Fluss Kolyma, inmitten der Taiga zwischen der Ostsibirischen See und dem Ochotskischen Meer zu der Grube mit dem gefangenen Bär Mischa. Aber es war zu spät. Väterchen Frost hatte ihm als Geschenk der Gnade den Tod gebracht. An der Hand von Snegurotschka, dem Schneeflöckchen, war er den Qualen seines Gefängnisses entflohen und seinen Vorfahren nachgeeilt.
Der Neujahrstag begann ungewöhnlich ruhig in dem kleinen Dorf mitten in Sibirien, am Ende der Welt.