Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Wir grunzen und muhen und meinem Vater stösst es sauer auf.
Sie lÀsst die Mundwinkel nach unten fallen, spielt kokett die Beleidigte, guckt traurig in die Runde.
âNiemand will mit mir singen! Einmal im Jahr! Aber nein, das ist schon zu viel verlangt! Und eine besinnliche Geschichte vorlesen....das will wohl auch wieder niemand, oder wie? Ihr seid einfach fĂŒr nichts zu begeistern! Das gehört doch schliesslich dazu, so zur Weihnacht. Das ist feierlich. Da wĂŒrde doch erst so richtig Stimmung aufkommen!â
VorwĂŒrfe ĂŒber VorwĂŒrfe.
Wir gucken in unsere Teller und fĂŒhlen uns elend.
âUnd das Essen? Hat das wenigstens geschmeckt? Der da drĂŒben hatâs wieder mal runtergeschlungen, ohne zu sehen, was er isstâ, wirft sie missbilligend in die Richtung meines Vaters. âDabei habe ich mir solche MĂŒhe gegeben, aber das sieht mal wieder kein Schwein!â
âNein, das stimmt jetzt also wirklich nicht. Ich weiss das sehr zu schĂ€tzen. Ich habe das genossen, wirklich. Es war toll, wirklich wahr.â verteidigt er sich.
Er meint es nett, aber wir alle wissen, dass er Kartoffeln kaum von Nudeln unterscheiden kann.
âAlso ich fand's auch gut,â sage ich, dem Hausfrieden zuliebe, aber meine Meinung zĂ€hlt nun wirklich nicht.
âEin gutes Schwein frisst eben alles,â findet mein Bruder. Damit bin natĂŒrlich ich gemeint.
âDie Sosse hĂ€ttest du mit Tabasco verfeinern sollen. Dann hĂ€ttest du beim Salz sparen können. Ausserdem, die Currymischung, die du weissgottwo aufgetrieben hast, ist ja mal wieder voll proletarisch und total unsexy,â fĂ€ngt mein Bruder an.
Wenn er einmal anfÀngt.
Ich verdrehe die Augen, aber niemand sieht es. Ich stochere mit der Gabel auf meinem leeren Teller herum, wÀhrend mein Bruder und meine Mutter sich gegenseitig gastronomisch auf die Haube kacken.
âUnd ausserdem,â schnauft meine Mutter enthusiastisch, âseit wann muss eine Currymischung sexy sein? Das ist doch wohl voll der unpassende Ausdruck fĂŒr eine Currymischung! Unsexy!â
Mein Vater seufzt. Und will wissen, wo der Kaffee bleibt.
Gute Idee. Ich bin schon weg, in der KĂŒche, mache Kaffee. Und lĂŒfte im Esszimmer erst mal ordentlich, vielleicht bringt das ja was.
WĂ€hrend die anderen Kaffee trinken, rauche ich eine Gauloise.
âDu rauchst zu viel, meine liebe Tochter. Das ist bestimmt schon deine siebte Zigarette heute, ich habe genau gezĂ€hlt.â
Neun, um genau zu sein, aber das sagâ ich ihr dann doch nicht.
Herrgottnochmal.
Ich schlage vor, zu den Geschenken ĂŒberzugehen.
âNicht so hastig, junges FrĂ€ulein!,â ruft meine Mutter mit strengen Blickes. An Weihnachten redet sie noch seltsamer als sonst. âJetzt kommt doch noch erst der Höhepunkt - mein selbst gemachtes Tirami-su.â
âUff,â stöhnt mein Bruder und hĂ€lt sich den Bauch, âich bin so satt, ich mag kein Blatt.â
Ich esse eh nicht mit, da sind Eier drin, und Eier hasse ich. Eier machen mich paranoid.
âAber ich nehme einen ganz grossen Löffel Tirami-su! Her damit, Mutter!â, ruft mein Vater gespielt euphorisch und hĂ€mmert Gabel und Messer auf den Tisch wie ein ungeduldiger Junge.
Da freut sie sich, ist ganz gerĂŒhrt und bekommt ganz rote BĂ€ckchen.
âNa gut, dann hole ich jetzt mal das Tirami-su, wenn das so ist,â flĂŒstert sie nun fast scheinheilig, macht einen Abgang, kreischt aber gleich darauf aus der KĂŒche: âUnd nennâ mich nicht immer Mutter, ich bin nicht deine Mutter, Herrgottnochmal!â
Wir anderen lachen.
Das verbindet.
âSo, da wĂ€ren wir also. Ecco il Tirami-su!â stolz stellt meine Mutter ihr Tirami-su auf den Tisch. WĂ€hrend sie schlemmen, tĂ€tschelt sie meinem Vater die Hand, und die Zeit ist reif fĂŒr ein bisschen RĂŒhrseligkeit. Sie redet von vergangenen Weihnachtsfeiern, seufzt, spult vor, spult zurĂŒck, seufzt in immer kĂŒrzer werdenden AbstĂ€nden.
Das waren noch Zeiten!
Ich schiele schon mal zum Gabentisch.
Je Ă€lter wir werden, desto spĂ€rlicher fallen die Gaben aus. Aber das ist in Ordnung so, dabei kann man sich so einiges an zeremoniellen Peinlichkeiten sparen. Ausserdem, frĂŒher, als der Tisch noch ĂŒberquoll, da hielt meine Mutter es immer fĂŒr eine ganz niedliche Idee, nach jeder Runde Geschenkeauspacken eine Weihnachtsliederpause einzulegen. Das liegt nun nicht mehr drin - Kumbaya my Lord!
Oder sie hat mich gezwungen, auf meiner Gitarre zu spielen. Und sich - ganz spontan natĂŒrlich - mit ihrer Mandoline dazugesellt.
Und die MĂ€nner haben Pralinen gefuttert und getan, als wĂŒrden sie zuhören.
Jetzt bekommt jeder ein kleines Geschenk. Oder zwei. Von Herzen sollen sie ja kommen, das ist die Hauptsache, und von Herzen kommen sie, die Herzen fliegen nur so durch die Gegend zur Weihnachtszeit, das ist ja selbstverstÀndlich. Quasi inbegriffen.
Ausserdem, wie sagt man so schön? QuantitÀt ist nicht gleich QualitÀt.
FrĂŒher gab es gestrickte Socken fĂŒr die ganze Familie von allen Tanten nördlich und sĂŒdlich des Ăquators. Nur meine Mutter wurde verschont. Die bekam SeidenstrĂŒmpfe oder ein teures Taschentuch, auf dem mit rosafarbenem Faden ihr Name eingestickt war.
Heute gibt es ordentlich BĂŒcher. BĂŒcher sind solide Geschenke. Literatur ist eine gute Sache.
Mutter wollte eine neue PfeffermĂŒhle und einen Schirm fĂŒr zwei Personen. Bekam sie auch.
Ein graphisches Fachbuch fĂŒr den Bruder, ersteigert. Er blĂ€ttert darin, raucht eine Zigarette, ist still.
Ich sitze im Schneidersitz auf dem Sofa und zupfe mir Fuseln aus den Socken.
Mutter macht eine Flasche Rotwein auf und isst GebÀck.
Vater pennt schon fast, gĂ€hnt gerĂ€uschvoll und wir schauen alle kurz auf und schĂŒtteln im Einklang den Kopf.
Das verbindet.
Und die Katze kommt auch noch dazu, legt sich schnurrend neben mich und schleckt sich selbst genĂŒsslich die Pfoten, und ab und an hebt sie den Kopf, staunt ĂŒber die ungewohnte Dekoration, die bunten Lichter und beobachtet die Kerzen, die langsam in sich selbst verlodern.