Mainhattan Moments
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Dezember 2002
Nem Értem
von Bernhard Strohmeier


Mein Freund Charlie geht Samstags abends in Budapest immer gerne allein in seine Lieblingskneipe. Dort setzt er sich an die Theke um zu trinken und nachzudenken. Er kann nicht allzuviel auf Ungarisch sagen, aber ein Getränk zu bestellen, war eins der ersten Dinge, die er in Budapest gelernt hat.
Witzigerweise ist es so, dass viele Ungarn dermaßen überrascht sind, wenn sie von einem Ausländer auf Ungarisch angesprochen werden, dass sie das was er gesagt hat, als Frage wiederholen. Manchmal drehen sie sich um und sagen zu einem anderen Ungarn:
"Ich habe gerade etwas gehört, das klang wie Ungarisch, aber es kann nicht sein."
Wenn man zum Beispiel zur einer Bedienung in einer Kneipe auf Ungarisch sagt:
"Ich möchte gerne ein Bier", dann antwortet die Bedienung entweder auf Ungarisch "Möchten sie ein Bier?", worauf man dann "Ja" sagen muss, so als ob der erste Satz dieser kurzen Unterhaltung nie gefallen wäre, oder sie antwortet etwas in einer beliebigen anderen Fremdsprache, die sie kennt, meistens Englisch oder Deutsch. Charlie hat bei einer solchen Gelegenheit bei McDonalds einmal zurückgefragt, ob sie denn kein Ungarisch spräche, worauf die Bedienung antwortete:
"Ob ich Ungarisch spreche?"
"Ja", sagte er auf Ungarisch, "sprechen Sie Ungarisch?"
Die Bedienung war verwirrt, sagte "Yes" und fuhr fort, Englisch zu sprechen, und er antwortete ihr in Ungarisch. Den Umstehenden und meinem Freund gefiel diese Unterhaltung sehr. Im Nachhinein wäre es noch lustiger gewesen, wenn die Bedienung nicht Englisch, sondern Deutsch als erste Fremdsprache gelernt hätte, aber irgendwas ist ja immer.
An einem kalten Samstag abend im Dezember 2000 jedenfalls saß er wieder einmal in dieser Kneipe vor der Theke, hängte seine Jacke über den Barhocker auf dem er saß und begann sich zu entspannen. Er drehte sich eine Zigarette, trank sein Bier wie üblich zügig aber ohne Hast, beobachtete die Bedienung bei ihrer Arbeit und begann seine übliche Kneipenmeditation. Er fragte sich zum Beispiel, ob die hübsche Bedienung angesichts ihrer Oberweite wohl unter Rückenschmerzen leiden würde und überlegte, wie der orthopädische BH, den sie trug, im Rückenbereich befestigt wird und ob er ihn mit einer Hand öffnen könnte. Die Musik gefiel ihm auch. Eine angenehme Kneipe.
Mit der Zeit füllte sich die Kneipe und Charlie beschloss, es sei sicherer, sein Portemonnaie von der Seitentasche seiner Lederjacke in dessen linke Innentasche zu verfrachten und diese mit dem Reißverschluss zu sichern, sein Telefon steckte in der äußeren linken Brusttasche, die Antenne schaute ein kleines Stück heraus. Links neben ihm standen zwei Spaßvögel, scherzten herum und tranken ebenfalls Bier.
"Der Doofmann wird doch wohl nicht versuchen, mein Handy zu ziehen", dachte er und prüfte in Inhalt der Außentasche seiner Jacke. Das Handy war noch da. Sicherheitshalber zog er den Reißverschluss der Brusttasche zu, sah sich den Burschen zu seiner Linken, der sich mit seinem Kumpel ein paar Witze erzählte noch einmal kurz an und kümmerte sich nicht weiter drum. Nachdem die beiden ausgetrunken hatten, bezahlten sie und verließen die Kneipe.
Es gibt in Ungarn seit 1854 eine ganz hervorragende Brauerei namens "Dreher". Diese Brauerei stellt ein edles Pils und Lager und ein wunderbares dunkles Bier, das "Bak" genannt wird, her. "Dreher" ist überall stets das billigste aber trotzdem meistens das beste Bier, das angeboten wird.
Übrigens ist es in Ungarn verpönt, mit Biergläsern anzustoßen. Das gilt allerdings nur für Bier, und hat historische Gründe. In den Jahren 1848/49 versuchten sich die Ungarn von den Habsburgern zu befreien, diese Revolution wurde jedoch blutig niedergeschlagen und die Rädelführer, allen voran der Dichter Petöfi öffentlich gehenkt. Bei dieser Gelegenheit soffen die Generäle der Habsburger und der Russen eine Menge Bier und stießen bei jeder Exekution grölend mit ihren Gläsern an. Aus Protest beschlossen die Magyaren den Brauch der Habsburger mit Bier anzustoßen "für die nächsten 150 Jahre" nicht mehr mitzumachen. Prinzipiell ist es also seit ein paar Jahren wieder statthaft, mit Biergläsern anzustoßen, aber niemand tut es. Stattdessen nimmt man das Glas und klopft mit der Unterseite auf den Tisch.
"Ich saß an der Theke, bewunderte die Dehnbarkeit dieses T-Shirts, trank noch ein paar Bier, paffte ein paar Kippen und hörte Musik", sagte mein alter Freund. "Irgendwann nahm ich dann mein Telefon und schickte ein paar SMS ab, daddelte noch ein bisschen Snake, du weißt doch, das ist das Spiel auf meinem Handy, holte mir noch was zu Schreiben aus meiner Jacke und machte ein paar Notizen. Alles wie immer."
Nach einiger Zeit musste er dann mal auf die Toilette und das ist immer eine kritische Situation wenn er alleine in Budapest in einer Kneipe ist. Schlüssel, Handy und Portemonnaie am Platz zu lassen, kommt nicht in Frage. Soll man seine Jacke anziehen, alles einstecken und aufstehen? Dann denkt der Wirt, man will die Zeche prellen und macht einem Schwierigkeiten, andererseits will man aber bei solchen Gelegenheiten auch nicht zugeben, dass man die fremde Sprache eigentlich gar nicht so perfekt beherrscht, indem man dann auf einmal mit Englisch oder Deutsch anfängt. Das wäre schon einigermaßen peinlich.
Charlie beschloss, einen stummen Kompromiss vorzuschlagen und seinen Tabak, sein Feuerzeug, das halbe Bier und den Kugelschreiber auf der Theke zu lassen und seine Jacke mit dem Portemonnaie und dem Handy mitzunehmen. Als er seine Jacke anzog, bemerkte er, dass das Portemonnaie fehlte.
"Alter, ich dachte, ich spinne, denn der Reißverschluss der Innentasche war zu! Aber mein Joop-Portemonnaie war weg. Ich habe die ganze Jacke abgeklopft. Das ganze Plastik, Master Card, Scheckkarte, Bahncard, Miles and More und so weiter, alles weg. Meine ganze Knete, ungefähr 150 Mark. Auch weg. Und ich war beim Wirt noch fünf halbe Liter schwach. Außerdem war von der Damelei der Akku vom Handy alle, ich konnte niemanden anrufen, um meine Karten zu sperren. Ich war total geschockt und wusste überhaupt nicht was ich tun sollte."
Nun half alles nichts, diesen Sachverhalt konnte er nicht auf Ungarisch erklären, und selbst wenn, dann hätten ihn die zu erwartenden permanenten Gegenfragen wohl völlig wahnsinnig gemacht.
Also erklärte er dem Kneipenpersonal auf Englisch, was geschehen war, und dass die beiden "Penner", die vorhin links neben ihm an der Theke gestanden hatten, ihn bestohlen hätten. Daraufhin wurde hin und her diskutiert, wen man denn nun anrufen könnte, Telefonbücher wurden geholt und wieder weggelegt, zwischendurch wurde die Polizei angerufen, andere Kneipengäste beteiligten sich an dem großen Palaver und mittendrin stand Charlie, halb besoffen, halb verwirrt und konnte nur noch daran denken, dass er sofort etwas wegen seiner Kreditkarten unternehmen musste.
"Stell dir vor, die Kasper haben ewig lange die Nummer der Botschaft 'rausgesucht. Die musste ich dann anrufen. Zum Glück war da kein Mensch mehr am Telefon. Was hätten die mir denn sagen können? Ich wollte nur schnellstens nach Hause und die Notrufnummer von Eurocard 'raussuchen die veranstalten so einen Tanz und halten mich auf die Zeit."
Dann hat er sich mit dem Wirt darauf geeinigt, sein Telefon als Pfand zu hinterlassen und machte sich auf den Weg nach Hause. Als er zwanzig Meter weit gegangen war, rief der Wirt über die Straße, er solle zurückkommen, die Polizei sei jetzt da und könne den Diebstahl aufnehmen.
"Auch nicht schlecht, dachte ich. Jedenfalls habe ich dann eine Diebstahlsanzeige und bin abgesichert. Im nächsten Augenblick fiel mir ein, dass ich den Bullen vielleicht erklären muss, was ich überhaupt hier in Budapest mache und warum ich nicht im Hotel, sondern in einer Wohnung wohne", sagte er und fuhr fort "aber das wollten die zum Glück gar nicht wissen."
Er arbeitete nämlich in Ungarn, hatte aber nur ein Touristenvisum. Alle drei Monate reiste er übers Wochenende aus und erneuerte so sein Visum. Kein Problem in Ungarn.
Sie brachten ihn auf die Wache, vorher gab ihm der Wirt noch sein Telefon wieder, und nahmen eine Anzeige auf. In der Anzeige musste er neben Namen, Geburtsort und so weiter auch den Mädchennamen seiner Mutter angeben. Danach durfte er mit der Anzeige in der Hand nach Hause gehen.
"Dann ging natürlich das hektische Gewühle los. Irgendwo habe ich dann die Nummer gefunden. Es war immerhin schon halb zwei, ich hatte fünf Halbe im Schädel und dann noch solch komplexe Aktionen!"
Am darauffolgenden Montag hat ihm seine Firma dann erstmal ein paar hundert Dollar geliehen und er hat sich um die Wiederbeschaffung der Karten gekümmert. Sein "Joop"- Portemonnaie, das er in Istanbul auf dem Bazar für 10 Mark erfeilscht hat, wird er dagegen wohl ebensowenig wiedersehen wie das Foto seiner Tochter oder die indonesischen Geldscheine mit vielen Nullen und Orang Utan Bildern aber wenig Kaufkraft, die er als Andenken an eine Reise nach Jakarta aufbewahrt hatte.
"Irgendwie war ich nicht wirklich wütend, schon eher fasziniert von der Geschicklichkeit dieser Arschlöcher. Ich schätze, die haben gesehen, wie ich mein Portemonnaie in die Innentasche der Jacke gesteckt habe. Da wussten sie, wo es war."
In gewisser Weise hat der Diebstahl einer Brieftasche etwas mit anderen Ereignissen gemeinsam, die normalerweise nur anderen passieren, einem Verkehrsunfall etwa, oder irgendwelchen Krankheiten. Man hört davon, wundert sich, schüttelt den Kopf und denkt "Hoffentlich passiert mir das nicht." Und plötzlich, zack, wenn man es nicht erwartet, ist es dann doch soweit und man kann nichts mehr dagegen tun.
Mein Freund Charlie hat mir erzählt, das er in Zukunft etwas gegen Taschendiebe unternehmen will. "Ich lasse solche Anstecker machen, so Sticker, du weißt schon", sagte er als er mir die Geschichte zu Ende erzählt hatte. "Oder vielleicht beschrifte ich auch von hinten meine Jacke, mal sehen."
"Und was soll da draufstehen?" fragte ich.
"Nimmst du meine Brieftasche, nehme ich deine Finger!", sagte er. "Das steht da drauf. Ich weiß noch nicht genau, wie das auf Ungarisch heißt, aber das kriege ich schon noch 'raus." Trank sein Bier aus und sagte zur vorbeigehenden Bedienung:
"Még egy sört, kérek. (Ich möchte noch ein Bier.)"
"Még egy sört? (Noch ein Bier?)", fragte die Bedienung.
"Igen (Ja)", sagte er und sah schon wieder ganz entspannt aus.

Letzte Aktualisierung: 26.06.2006 - 23.02 Uhr
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