Schwanengesang am Heilig Abend von Rudolf Gürtler
Sieht man einmal von den anderen Feietagen des Jahres ab so sollte der Heilig Abend eines der schönsten Feste voller Freude und Harmonie sein. Wie viel schöner ist dann dieses Fest wenn gleichzeitig auch der Geburtstag eines geliebten Menschen gefeiert werden kann. Dieses Fest wird bei Familie Sudmann alle Jahre wieder mit großer Regelmäßigkeit gefeiert.
Karl Gustav Sudmann, ein lebensbejahender Ungläubiger, so jedenfalls beschrieb er sich meist selbst, und seine über alles geliebte Frau Susanne hatten vor 18 Jahren geheiratet. Zwei Jahre nach der Hochzeit wurde, sozusagen als Christkind, ihre Tochter Karin geboren. Und morgen, ja morgen am Heiligen Abend wollten alle Karins 16. Geburtstag feiern.
Es war Samstagabend, genauer der Abend des 23. Dezember. Susanne hatte, wie jedes Jahr, den ganzen Tag über Plätzchen gebacken, die Wohnung gesaugt und geschrubbt, Geschenke eingepackt und alles Notwendige für Karins Geburtstagsfeier vorbereitet.
Karli, wie Susanne ihren Karl immer liebevoll nannte, hatte, wie jedes Jahr, mit Karin zusammen, wohlgemerkt, nur den Weihnachtsbaum geschmückt. Dies freilich war nicht, wie jedes Jahr, ohne Probleme abgelaufen. Karli wollte von der Leiter steigen um die Lichterkette unten am Baum einzuhängen. Die vorletzte Sprosse verfehlte er und legte den Weg nach unten ungewollt in einem Stück zurück. Er lag auf allen Vieren am Boden und schaute nur dumm in der Gegend herum.
Karli lag schon im Bett. Er betrachtete seine Susi immer wieder mit Wohlgefallen. Für kein Geld der Welt hätte er sie eingetauscht. Was gleichwohl auf Gegenseitigkeit beruhte. Karli jedenfalls würde alles tun, um seine Susi zu behalten, er würde mit Tod und Teufel streiten und sie sogar aus der Hölle zurückholen. Wie nah er zu diesem Zeitpunkt dem Streit bereits war konnte er überhaupt nicht ahnen.
Irgendwann in der Nacht, wie jedes Jahr, wurde Karli wach. Es war irgend etwas dass ihn störte, ihn im Schlaf hatte so unruhig werden lassen, das er davon wach wurde.
Er tastete nach dem Lichtschalter der kleinen Nachttischlampe. Ein Druck auf den Schalter und das Licht erleuchtete einen Teil des Schlafzimmers.
Karli hob leicht den Kopf und schaute in die Runde. Nichts war verändert. Susi lag neben ihm und schlief. Er spürte ihren leisen Atem. Es war nichts Ungewöhnliches festzustellen. So beschloss, er aufzustehen und zu schauen, ob wirklich alles in Ordnung war.
Er schaute in Karins Zimmer, aber auch die schlief ganz ruhig. Nach Erkundung der anderen Räume legte Karli sich wieder schlafen. Da hatte er sich wohl etwas eingebildet.
Nachdem er die Nachttischlampe ausgeschaltet hatte drehte Karli sich zu Susi hin. Im rötlichen Schimmer der Zeitanzeige des Radioweckers meinte Karli ein Lächeln auf dem Gesicht von Susi wahrzunehmen. Es glich dem Lächeln, das sie immer zeigte, wenn er sich morgens zur Arbeit von ihr verabschiedete. Nur viel intensiver, wie ihm schien.
Dieses Lächeln beunruhigte ihn. Er rückte näher an Susi heran, wobei ihn etwas störte. Es dauerte einige Augenblicke, bis er wusste, was ihn störte, er vermisste ihren Atem.
Erschrocken fuhr Karli aus dem Bett hoch. Ein eiskalter Hauch hatte ihn gestreift, der Atem des Todes. Er wollte schreien, wollte Susi schütteln, aber er war wie gelähmt.
Über Susi konnte er ein helles Leuchten wahrnehmen. In diesem Leuchten meinte er, Susis Gestalt wahrgenommen zu haben, begleitet von einer anderen Person. Alles in ihm sträubte sich gegen die Vorstellung Susi sei tot.
Mit einem Mal fiel die Starre von ihm ab und er sprang aus dem Bett heraus in diesen Lichtkreis, ohne überhaupt nachzudenken. Schließlich war die Gefahr, Susi zu verlieren präsent und deswegen war ihm alles egal.
Zunächst hatte er das Gefühl, auf den Boden zurückzufallen. Aber dann spürte er etwas, das ihm nur zu vertraut war und ihn in das Leuchten zog. Karli spürte Susis Nähe. Seine Sehnsucht ihr nahe zu sein, sog ihn förmlich in das Leuchten.
Karli versuchte, sich zu orientieren. Um ihn herum war aber alles in ein leuchtendes Weiß getaucht, das seinen Augen schon fast wehtat. Die einzige Orientierungshilfe, die ihm zur Verfügung stand, war sein Gespür für Susis Nähe. Jedes mal wenn er sich etwas drehte verminderte sich dieses Gefühl der Nähe.
Möglichst immer das optimale Gefühl der Nähe war seine einzige Richtschnur, um sich vorwärts zu bewegen. Nach einiger Zeit, er wusste nicht wie viel Zeit tatsächlich vergangen war, veränderte sich das Leuchten. Es wurde dunkler, war nicht mehr so intensiv weiß, ging dann sogar in ein monotones Grau über.
Schließlich bildeten sich in dem Grau kleine Lichtpunkte heraus. Diese Lichtpunkte vermehrten sich mehr und mehr. Das Grau wandelte sich in ein diffuses trübes dunstiges Licht.
Aus diesem Licht schälte sich eine Gestalt heraus. Gekleidet in eine Art roter Tunika, die die Gestalt umhüllte, kam die Gestalt näher. Das Gesicht, von einer hellen Kapuze umrahmt, erinnerte Karli an den derzeitigen Papst Johannes Paul II. Für ihn als Ungläubigen war die Vorstellung, dem Papst gegenüber zu stehen, absurd.
"Herr Sudmann, für dich ist die Zeit noch nicht gekommen."
Karli schaute nur unverständlich. "Was heißt hier für mich ist die Zeit noch nicht gekommen? Und wer sind sie überhaupt?"
"Oh entschuldige. Ich darf mich vorstellen. Ich bin der, den ihr Menschen Tod, Schnitter, Sensenmann, Gevatter, Knochengerippe, oder ganz banal Feierabend nennt."
"Du bist der der meine Susi geholt hat! Warum?" Das Warum kam Karli nur sehr gepresst über seine Lippen.
"Nein, du irrst. Ich hole niemanden. Das tun nur meine Helfer. Ich wache hier über die Lebenslichter!"
"Lebenslichter?"
"Du siehst hier die Lampen, die wie Petroleumlampen aussehen, diese sind gefüllt mit Lebensenergie, Fassungsvermögen 2,4 Liter für 240 Jahre. Jede Lampe gehört zu einem Menschen und hat, wie du siehst, unterschiedlicher Füllhöhe."
"Zeig mir Susis Lampe."
"Komm mit."
Karli folgte dem Tod zu einer Lampe, die noch nicht leer war. Sie war noch fast voll.
"Die ist ja noch voll. Warum ist Susi dann hier?"
"Hm, da scheint ein Irrtum vorzuliegen. Bleib hier, ich muss das klären." Sprach's und verschwand, um, so kam es Karli vor, fast sofort wieder da zu sein.
"Nein, es liegt kein Irrtum vor. Aber durch eure starke Liebe und dadurch,, dass du den Weg hierher gefunden hast, gibt es noch eine Möglichkeit für euch. Überlege dir gut, was du machst, denn du musst dir eine Lampe aussuchen und deren Lebensenergie soll in diese Lampe transferiert werden. Aber bedenke ein anderer Mensch wird dafür sterben!"
Karli sah nur die Chance, seine Susi zurückzubekommen. Er schaute sich um und deutete auf eine Lampe.
"Diese!"
""Gut so sei es! Du wirst jetzt heimkehren und dich an alles erinnern was hier geschah. Susi dagegen weiß nichts mehr! Jetzt geh."
Um Karli herum wurde es dunkel. Er hatte ein Gefühl als wenn er stürzen würde.
Im rötlichen Schimmer der Zeitanzeige des Radioweckers meinte Karli ein Lächeln auf dem Gesicht von Susi wahrzunehmen. Sie atmete.
Puh dachte Karli bei sich, was hab ich denn da nur geträumt. So ein absoluter Schwachsinn. Er drehte sich auf die andere Seite und schlief beruhigt ein.
"Karli, he du Schlafmütze, wach auf. Es ist so ein schöner Tag!" Susi fiel förmlich über ihn her. Beide standen auf und gingen in die Küche. Karli ging während des Kaffeekochens sein Traum nicht aus dem Sinn.
"Geh doch bitte Karin wecken!" Karli ging in Karins Zimmer, um diese zu wecken. Sie lag friedlich schlafend im Bett. Karli rief von der Tür her. Karin reagierte aber nicht. Er betrat das Zimmer, ging zum Bett. um Karin zu schütteln, aber ihr Körper war ganz kalt.
‚Aber bedenke ein anderer Mensch wird dafür sterben!' dieser Satz, und dessen Bedeutung, war ihm nun klar. Karli hatte seine Tochter quasi umgebracht. Ihm wurde, als er sich der Tragweite seiner Entscheidung bewusst wurde, schwarz vor Augen.
"Herr Sudmann" Karli hörte wieder, diesmal aber sehr laut, die Stimme des Todes, "können Sie mich hören?"
"Karli, komm zu dir" hörte er Susi rufen.
"Papa, steh doch auf!" Das war Karins Stimme. Aber wieso Karins Stimme?
Karli schlug die Augen auf.
"Na Gott sei Dank, Herr Sudmann. Sie sind wieder wach. Ich bin der Notarzt. Sie haben sich beim Sturz von der Leiter den Kopf angeschlagen. Wir werden sie jetzt ins Krankenhaus bringen. Den Geburtstag ihrer Tochter können Sie dieses Jahr leider nicht mitfeiern."
Der Notarzt sah ein bisschen so aus wie Papst Johannes Paul II.