Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Januar 2003
Liebe in Zeiten des Krieges
von Christa Schmid-Lotz



Die Tür des Hauses in der Spitalgasse wurde aufgerissen; Schneeflocken wehten herein. Die Mutter Clara, Katherina, die kleine Maria, Anna, die Magd und Joseph, der Knecht, die sich um den Abendbrottisch versammelt hatten, fuhren empor. Clara fiel die Silberkelle, mit der sie gerade Rindfleisch und Gemüse verteilte, in den Suppentopf.
Andreas stand im Rahmen, die Augen weit aufgerissen. Er konnte sein Zittern kaum verbergen.
„Die Schweden kommen!“
„Andreas, um Himmels Willen, was sollen wir tun?“
Clara blickte ihren Gatten flehentlich an. Er warf seine Bibermütze und seinen braunen Wollmantel auf die Ofenbank, ließ sich schwer auf einem Schemel nieder und stützte den Kopf in die Hände.
Seine Gattin lief händeringend im Raum herum. Ihr fülliger Busen wogte in dem schwarzen Mieder. Alle anderen saßen wie erstarrt.
„Im Jahre des Herrn 1618 hat dieses Morden angefangen. Vierzehn Jahre tobt dieser verheerende Krieg schon in unseren Landen“, rief Clara. „Und ich habe geglaubt, der Kelch werde an uns vorübergehen! Mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen?“
„Wir haben ja immer unser Auskommen gehabt“, entgegnete ihr Mann. „Und wenn Flüchtlinge in die Stadt kamen, haben wir sie wohlweislich abgewiesen.“
Die kleine Maria wiegte sich hin und her und begann zu weinen.
Katherina, die Älteste, hob ihren Kopf, dessen blonde Haare zu Zöpfen geflochten, wie eine Schnecke im Nacken aufgerollt und mit einem Perlennetz umwunden war. Ihr schlanker Körper war mit einer weißen Bluse, rotem Brusttuch und malvefarbenem Rock bekleidet.
„Wir müssen fliehen!“, sagte sie mit fester Stimme. „Ihr wisst, was die Schweden mit denen machen, die ihnen in die Hände fallen! Eine arme Frau aus Münsingen hat mir erzählt, dass sie vergewaltigt worden ist. Sie war nachher kaum noch am Leben. Und die Häuser haben sie angezündet, Männer, Frauen und Kinder wahllos verstümmelt und umgebracht. Geplündert, geraubt und die Weinfässer leer gemacht.“

„Seit wann haben Frauen hier das Sagen?“, zischte Andreas. „Wir können unser Hab und Gut doch nicht im Stich lassen!“

Ein Einschuss war zu hören und das Bersten der Stadtmauer. Alle fuhren zusammen. Weitere Schüsse folgten Schlag auf Schlag. Anna und Joseph rannten in ihre Kammern hinauf.

„Andreas hat recht,“ sagte Clara atemlos. „Wir müssen uns verschanzen. Maria, geh in die Kammer und versteck dich unter dem Bett. Vergrabt alles, die Silberlöffel, die Münzen und den Goldschmuck hinter dem Haus. Sie dürfen es nicht finden. Dann schieben wir Schränke und Truhen vor die Türen und Fenster.“

„Mutter, Vater, lasst uns fliehen, bevor es zu spät ist!“, rief Katherina verzweifelt.

„Sei ruhig und mach, was deine Eltern sagen!“ Andreas begann hektisch, die mit Rosen bemalte Truhe zu öffnen. Er füllte Dukaten, Silbermünzen und Schmuck in einen Beutel. Clara holte das Besteck aus der Anrichte in der Stube. Die beiden verschwanden durch die Hintertür.

Wieder Einschüsse, Bersten und Krachen. Geräusche splitternden Holzes. Das Stadttor war aufgebrochen.

Katherina setzte sich auf die Ofenbank. Einen Moment lang fühlte sie sich schwach und elend. Dann nahm sie einen kleinen Jutesack, steckte einen Laib Brot hinein, nahm ihre Schwester Maria an der Hand und eilte hinaus. Es war dunkel geworden; über der Mauer der Stadt flackerte ein rötliches Licht. Die Stadt Hayingen war in höchstem Aufruhr. Katherina lief mit Maria in Richtung Hinteres Tor. Immer wieder rutschten sie aus im Schnee, der schmutzig aufgewühlt war. Bürger mit entsetzten Gesichtern begegneten ihnen.

„Das Hintere Tor ist geschlossen, das Vordere zerstört. Niemand kommt aus der Stadt heraus. Sie sind schon mitten unter uns!“
Sie erkannten ihren Nachbarn Berthold, dessen Miene alle Hoffnung hatte fahren lassen. Katherina zwang sich, ihr laut an die Brust hämmerndes Herz nicht zu beachten und eilte weiter. Sie sprach Maria Mut zu.

„Du wirst sehen, es ist bald vorbei. Wir laufen zur Kapelle des Heiligen Bernhard. Die Madonna wird uns beschützen!“

Vor ihnen waren Waffengeklirr und Schreie zu hören.

Katherina nahm Maria auf den Arm und rannte um ihr Leben. Jetzt waren die Vandalen überall. Sie sah Haare zu Berge stehen und hörte verzweifelte Schreie, die nichts Menschliches mehr an sich hatten, sah einen Soldaten in schmutzigem Zwillich, der einer Frau das Mieder aufriss, sie zu Boden warf und mit der Pike auf den Kopf schlug. Katherina fühlte sich vollkommen gelähmt. Sie umklammerte die leise wimmernde Marie fester. Der Mann hatte glasige blaue Augen, eine Narbe , die sich über die eine Gesichtshälfte zog und breite, lederfarbene Hände. Er zerriss den Rock der Frau. Katherina wollte das Gesicht abwenden, aber etwas zwang sie, weiter hinzusehen. Die Frau lag bewusstlos am Boden und der Söldner kniete sich über sie, holte einen dunklen, langen Stock aus der Hose und urinierte in sie hinein. Katherinas Magen drehte sich um: Marie glitt von ihrer Brust langsam zu Boden und Katherina übergab sich in den roten Schnee. Die kalten, glasigen Augen waren jetzt auf sie gerichtet.

„Du hast mir noch gefehlt, du schönes Weib“, lallte der Schwede. Er richtete sich torkelnd auf. Das Leben kehrte mit einem heißen Strom in Katherina zurück. Sie stand auf, riss ihre Schwester hoch und rannte weiter in Richtung Kapelle. Betrunkenes Grölen hallte in ihren Ohren nach. Überall Flammen, Blut, Verwüstung, Angst, Entsetzen. Einem Bauern wurde der Mund auseinandergerissen und ein Trank aus einer Kanne hineingeleert. Katherina konnte nichts mehr fühlen als Grauen.

Mit letzter Kraft erreichten sie die Kapelle des Heiligen Bernhard und schlüpften hinein. Katherinas Herz klopfte so laut, dass sie fürchtete, man könnte es draußen hören. Sie hielt Maria den Mund zu. Die Zeit stand still und es war dunkel. Jetzt kamen Schritte näher. Sie sah einen Schatten vor dem Fenster der Kapelle. Eine Fackel wurde hochgehalten, blaue, glasige Augen starrten herein; deren Adern waren geplatzt, so dass es ihr wie die Fratze des Teufels erschien. Katherina presste Maria die Hand fester auf den Mund und hörte auf zu atmen.

Eine Weile starrte sie in das Gesicht am Fenster. Lautlos sang sie ein Kinderlied.

„Der Hut des Soldaten
ist ein schlechter Hut,

zerstört unsre armen Herzen,
bringt uns große Schmerzen.

er reitet durch des Feuers Glut,
soll in der Hölle braten.“

Katherina sank der Kopf auf die Brust. Sie ging mit Marie und den Eltern übers Feld. Die Sonne ging gerade unter und übergoss das Korn, den Rübenacker, den Mohn am Wegrand, den Rittersporn mit einem goldenen Schein.

Sie zuckte empor und starrte angstvoll zum Fenster. Der Kopf des Söldners war verschwunden.

Stunden vergingen, in denen sie sich nicht rührte, den kalten kleinen Leib Marias an sich gepresst, um ihn ein bisschen zu wärmen. Schließlich wurde sie eins mit der Kälte des Steines. Lag gekrümmt und erstarrt in der Dunkelheit und beobachtete das Flackern hinter dem Fenster, hörte das Schreien und Gurgeln der Sterbenden. Wenn das Leben war, dann wollte sie nicht mehr leben. Wenn es das war, was Mann und Frau verband – das wollte sie niemals erleiden! Maria war in einen tiefen Schlaf gesunken, Katherina spürte die regelmäßigen Atemzüge. Sie schreckte abermals empor. Da....da bewegte sich etwas! Es quietschte leise, die Tür ging auf und eine Gestalt stand groß in der Öffnung. Nebelfetzen krochen herein. Sie öffnete den Mund zu einem Schrei. Mit einem Satz war der Mensch bei ihr und legte ihr eine feste, warme Hand auf die Schulter.

„Seid ruhig, es wird Euch nichts passieren,“ flüsterte es an ihrem Ohr. Sie spürte seinen Körper neben sich und zuckte zurück. Am Schluss hatte der Soldat der Frau die Pike in den Unterleib gestoßen. Katherina begann haltlos zu zittern.
„Ihr braucht Euch nicht vor mir zu fürchten. Ich bin auf Eurer Seite, bei den Kaiserlichen. Ein Versprengter des Memminger Haufens. Fast hätten sie mich erwischt, die verdammten Vandalen!“
„Kämpft Ihr gegen die Schweden?“, fragte Katharina leise. Sie konnte das Beben in ihrer Stimme kaum unterdrücken.
„Es gibt einen Tross von viertausend Mann. Weiß bloß nicht, wo er gerade liegt. In ein paar Tagen zieht er gegen Ulm. Wir werden den Schweden Beine machen, dass es nur so kracht!“
Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. Katherina spürte, wie das Zittern allmählich nachließ. Draußen war es still geworden. Lange saßen sie so da. Der Memminger legte die Hände auf ihren Bauch. Es waren feinnervige, zärtliche Hände. Eine Wärme breitete sich in ihrem ganzen Körper aus. Er zog sie an sich und sie spürte seinen festen, starken Körper und es war, als wenn ein Stock in seiner Hose steckte. Sie dachte daran, wie sie Clara einmal gefragt hatte:
„Was ist das eigentlich für ein Gefühl, wenn Mann und Frau beieinander liegen?“
„Das ist, wie wenn es juckt und man sich kratzt, nur viel, viel schöner!“
Weiche Lippen küssten ihren Hals, zwei Hände schoben sich unter ihr Mieder und streichelten ihre Brüste in einer Weise, dass es ihr ganz heiß den Rücken herunterlief und sie nur noch den Wunsch verspürte, sich fallen zu lassen.

Maria war aufgewacht und sagte:

„Ich habe Hunger.“

Katherina löste sich heftig aus der Umarmung und tastete nach dem Brotbeutel.

„Gott sei Dank habe ich den nicht verloren“, sagte sie und brach das Brot in drei gleiche Teile. Irgendwann sanken sie vor Erschöpfung in den Schlaf.

Als die Schwestern am nächsten Morgen die Augen öffneten, war der Memminger verschwunden. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Spitzbogenfenster herein und malte goldrotblaue Streifen auf den Altar. Katharina teilte das restliche Brot mit Maria, dann stand sie auf, küsste das Votivbild mit dem Heiligen Christophorus, nahm die Kleine an der Hand, ging zur Tür, zog sie leise hinter sich zu und trat hinaus ins Licht. Ein blassblauer Winterhimmel spannte sich seidig über das Grauen der Nacht. Auf dem Weg zum Elternhaus sahen sie die verstümmelten Leichen im Dreck liegen und der Geruch nach Blut und verbranntem Holz stieg ihnen in die Nase. Als sie zu ihrem Haus kamen, blieb Katherina fast das Herz stehen. Dort, wo das hübsche Fachwerkgebäude gestanden hatte, war nur ein schwarzer, rauchender Trümmerhaufen. Der Tod ist ein Schnitter ist ein Schnitter. Sie ging um die Überreste des Hauses herum zu dem kleinen Garten in dem ihre Mutter immer gelbe Rüben und Mangold gepflanzt hatte. Die Strünke des Rosenkohls standen schwarz im Schnee. und daneben lagen die Eltern, Anna und Joseph. Zugerichtet. Katherina sank in den Schnee und ein Schluchzen erschütterte ihren Körper. Das war das Ende! Wo sollten sie und Maria bleiben? Die Menschheit hatte den Verstand verloren. Nie mehr würden sie im Kreise der Familie sitzen, nie mehr mit den Nachbarsmädchen am Brunnen plaudern. Am besten wäre es, sich den Schweden in die Arme zu stürzen und auch zu sterben.

Ein Laut an ihrer Seite ließ sie hochschrecken. Wie konnte sie sich nur so vergessen?
Hier war ein junges Leben, das sie schützen musste. Sie stand auf. Durch einen Tränenschleier erkannte sie ihren Nachbarn Berthold. Seine Lederstiefel waren zerrissen, sein Umhang verschmutzt.

„Jungfer Katherina, Gott sei Dank seid Ihr und Maria noch am Leben. Kommt in mein Haus, es ist durch Gottes Fügung stehen geblieben.“

Sie folgten ihm über den Marktplatz in das Gebäude neben der Kirche. Es war das Gasthaus „Bären“. In der Stube von Berthold brannte ein Feuer im Kamin. Er stellte einen Krug mit Wein auf den Herd und brachte den beiden Mädchen zwei Becher mit dem heißen Getränk. Das Blut kehrte in Katherinas Gesicht zurück und auch Maria entspannte sich und bekam etwas Glanz in die Augen.

„Wo sind denn die Schweden jetzt?“, fragte Maria mit ihrer hellen Stimme.
„Wo sind Vater und Mutter jetzt? Und Anna und Joseph?“

„Die sind schon weitergezogen“, entgegnete Berthold. „Die werden jetzt mit den Bürgern von Zwiefalten dasselbe machen wie mit uns. Im dortigen Kloster ist eine Menge zu holen. Und deine Eltern, Marie: die sind im Himmel und müssen nicht mehr leiden. Joseph und Anna sind an ihrer Seite.“

„Was ist mit Eurer Frau und den Kindern, Berthold?“, fragte Katherina, die schreckliche Wahrheit schon ahnend.

„Ich hoffe, sie bald wiederzusehen. Bis dahin muss ich aber mein Erdendasein noch vollenden.“

Die Tränen flossen ihm lautlos aus den Augen und er schnäuzte sich in den Ärmel seiner grauen Jacke.

„Berthold, mein Herz ist voller Schmerz und es ist bei dir, den deinen und unserer Familie, die aus verstocktem Herzen in dem Hause blieb und dort den Tod fand.
Ich muss aufbrechen. Ich möchte den Memminger Haufen suchen und meinen Teil zur Beendigung des Krieges beitragen.“

„Katherina, tut das nicht! Es wäre Euer sicherer Untergang. Und Ihr habt dieses junge Leben bei Euch. Wenn Ihr schon ziehen müsst, dann lasst Maria bei mir. Sie wird der Augapfel meiner Tage sein und ich werde sie gegen alles Übel der Welt beschützen.“

„Es fällt mir schwer, mich von Maria zu trennen. Aber wenn ich sie in deiner Obhut weiß, kann ich leichteren Herzens ziehen.“

Katherina stand auf. Berthold holte einen Biberpelzmantel aus der Kammer und legte ihn ihr behutsam um die Schultern. Katherina küsste Maria, in deren Augen Tränen standen und umarmte Berthold.

„Gott behüte dich und uns alle“, sagte Katherina.

„Der Herr sei mit dir und geleite dich auf allen Wegen. Die Jungfrau Maria und die Heiligen werden dir beistehen.“

Katherina zerriss es fast das Herz, als sie Maria zum Abschied in die Arme nahm. Sie versprach, in ein paar Tagen wiederzukommen. Beiden liefen die Tränen das Gesicht hinunter. Sie umarmte auch Berthold, dann gab sie sich einen Ruck und ging hinaus aus dem Haus, zum Unteren Tor, das zerborsten in den Angeln hing, hinaus aus der Stadt, vorbei an dem zerstörten Schloss, an dem Marienstandbild, hinein in die Schlucht, wo sie schon als Kind Trost und Geborgenheit gefunden hatte. Hier standen die Felsen grau und mächtig seit Urzeiten, wuchsen die Tannen und kein Krieg der Welt hatte ihnen etwas anhaben können. Sie hörte Stimmen. Vor der Gerberhöhle prasselte ein Feuer, eine Handvoll Männer wärmte sich die Hände.
„Guten Morgen, schöne Frau. Was sucht Ihr hier draußen?“
„Ich suche den Memminger Haufen.“
„Was habt Ihr denn mit dem zu schaffen?“
„Ich muss da hin! Ich habe eine wichtige Botschaft!“
„Er steht auf der Heuneburg, wir stoßen heute noch dazu.“
„Nehmt mich mit!“
„Ihr scheint eine ehrbare Frau zu sein. Das Leben im Haufen ist gefährlich. Wollt Ihr als Marketenderin, als Trosshure enden?“
„Ich will. Kämpfen. Leben oder sterben.“





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