Die Fantasy haben wir in dieser von Alisha Bionda und Michael Borlik herausgegebenen Anthologie beim Wort genommen. Vor allem fantasievoll sind die Geschichten.
Richard drehte das Schild auf die Seite, auf der in geschnörkelter Schrift „Geschlossen“ geschrieben stand und ließ die gläserne Tür der Bücherei hinter sich ins Schloss fallen. Einen Schritt später versank er bis zu den Knöcheln im weichen Neuschnee, der in den letzten Stunden die Straßen in eine weiße Winterlandschaft verwandelt hatte. Er suchte den passenden Schlüssel von seinem Bund, steckte ihn in das Türschloss und drehte ihn herum. Ein leises Klicken klang in seinen Ohren wie das heiß ersehnte Wort „Feierabend!“
Während er sich seinen langen, braunen Mantel zuknöpfte, atmete er tief die kühle Winterluft ein und betrachtete den regen Verkehr auf den verschneiten Straßen der Innenstadt. Es war früher Nachmittag und die letzte Möglichkeit zum heiligen Abend noch rechtzeitig ein Geschenk zu ergattern. Nahezu Jedermann schien auf den Beinen zu sein. Zumindest, sofern man keine Kutsche ergattern oder ein Fahrrad sein Eigen nennen konnte. Ab und an konnte man sogar einen Blick auf diese lauten, neumodischen Gefährte erhaschen – Automobile. Richard setzte sich in Bewegung und dachte an seine Familie. Vor einem viertel Jahr hatte er sich dazu entschlossen, aus dem kleinen Dorf in die Großstadt zu ziehen. Eigentlich hatte er vorgehabt sie zum Fest zu besuchen, aber ein eiliger Auftrag hatte ihn dazu gezwungen am heiligen Abend noch zu Arbeiten und somit Weihnachten in jener großen Stadt zu verbringen, die jetzt sein neues Zuhause war. Man schrieb das Jahr 1899 und das Millennium stand bevor. Was auch immer das für die Allgemeinheit bedeuten mochte. Für ihn war es der erste Jahreswechsel, den er ohne seine Familie verbringen würde. Hohe, von Schnee bedeckte Bäume säumten die Hauptstraße und sollten den jungen Mann bis zu seinem Heim begleiten. Seine Wohnung im Dachgeschoss eines großen Fachwerkhauses, ganz in der Nähe des Marktplatzes.
„Hohoho.“ Ein dicker Mann, als Nikolaus verkleidet, läutete mit einer goldenen Glocke. Er schenkte dem jungen Mann ein freundliches Lächeln und rief: „Ein Frohes Fest wünsche ich ihnen und jedem den sie kennen.“
„Das wünsche ich ihnen auch“, gab Richard zurück und warf ein Geldstück in die kleine Schale auf dem Boden, neben dem ein Schild gestellt worden war. „Spendet für die Waisen!“
Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes zeugte von Zufriedenheit und Vorfreude auf die kommenden Feiertage. Obwohl er gerne in der Bibliothek arbeitete, freute er sich doch auf die Nachmittage, an denen er vor dem einzigen Fenster seiner Wohnung sitzen konnte. Den Schemel vor seine Staffelei geschoben und nur noch eines im Sinn zu haben – Malen.
Völlig in seine Gedanken versunken, entging dem vermeintlichen Künstler eine Eisschicht, die sich um einen übergelaufenen Gullydeckel gebildet hatte. Sein rechter Fuß rutschte weg, er kam ins Straucheln und stieß mit dem Kopf vor eine Laterne. Mit beiden Armen umklammerte er feste den kalten Stahl und stöhnte leise auf.
„Das ging aber geraden noch Gut“, hörte er eine weibliche Stimme, als er vergeblich versuchte, sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Verwundert fuhr er herum, kam ins Schlittern und fiel. Dem Reißen seiner Hose folgte ein dumpfer Aufprall, als er breitbeinig auf sein Hinterteil stürzte.
„Das war entweder ihr Steißbein oder aber, sie brauchen eine neue Hose“, hörte er wieder die Stimme und fasste nach der zierlichen Hand, die ihm helfend entgegengehalten wurde.
Vor ihm stand eine junge Frau. Sie trug einen roten Samtumhang, dessen Ränder von flauschigem, weißem Fell gesäumt waren. Ein Tuch lag über dem Korb, den sie in ihrer Linken hielt. Das bezaubernde, fröhliche Lächeln auf dem Gesicht, das sich unter der Kapuze verbarg, ließ ihn augenblicklich allen Schmerz und Schamgefühl vergessen. Er bemerkte nicht einmal das Blut, das ihm aus der Nase rann, am Kinn entlang lief und zu Boden tropfte, wo es sofort auf der Eisschicht festfror.
„Danke… danke sehr“, stotterte er und hielt sich den schmerzenden Rücken, während er versuchte nicht wieder zu Boden zu gehen.
„Ihr blutet“
Er blickte in ein Paar große, braune Augen und fragte leicht verwirrt: „Wo ist Blut?“
Ohne zu Antworten holte seine Wohltäterin ein weißes Taschentuch zum Vorschein, dessen Ränder mit filigranen Mustern bestickt waren und tupfte ihm vorsichtig das lebenspendende Rot aus dem Gesicht. „Sie müssen sich verletzt haben. Vermutlich, als sie gefallen sind.“
„Das, das…“, stotterte er wieder. „ …habe ich gar nicht bemerkt.“ Obwohl seine Beine zitterten, hielt er still, bis sie fertig war.
„Vielleicht sollten wir lieber die andere Straßenseite nehmen“, schlug die junge Frau vor und fügte hinzu: „Hier dürften wir nicht weiterkommen.“
Richard nickte und folgte ihr, ohne ein Wort von sich zu geben. Die Sonne war mittlerweile zur Hälfte hinter den Dächern verschwunden. Das Licht der Laternen und die reich geschmückten Schaufenster tauchten die Straßen in ein weiches, gemütliches Licht.
„Sie haben mir das Leben gerettet“, sagte Richard, mit gespielter Ernsthaftigkeit in seiner Stimme.
Tiefe Grübchen, auf den roten Wangen der jungen Frau, kündigten ein bezauberndes Lächeln an. Ein Lächeln, das Richards Herz, wie ein Pfeil Amors durchbohrte.
„Sicher habe ich das“, sagte sie.
Alle paar Metern, hatte man Lichterketten über die Straße gespannte. Birnen, vom elektrischen Strom erleuchtet, hingen neben bunten Kugeln und anderem Schnickschnack an Kabeln, die von einer Straßenseite zur anderen, an den Laternen befestig waren.
„Wie kann ich das nur wieder gut machen?“, fragte Richard und hielt sich die Beule an seinem Hinterkopf, die mittlerweile die Größe einer Wallnuss angenommen hatte.
„Ich weiß nicht“, gab sie nur zurück und zuckte mit den Schultern.
Er zupfte nachdenklich an seinem sauber gestutzten Schnurrbart.
„Mir fällt sicher noch was ein“, sagte er. „Aber, wenn ich mich erst einmal vorstellen darf. Mein Name ist Richard. Richard Brown.“ Er hielt kurz an und nahm sich die Zeit für eine höfliche Verbeugung. „Und welchen Namen schmückt eine so wunderschöne Dame wie sie es sind?“
„Es ist mir wirklich eine Freude, sie kennen zu lernen Mister Brown…“
„Oh, oh“, unterbrach er sie und zischte einen leisen Fluch vor sich hin.
„Was, Oh, oh?“ Immer noch ein Lächeln auf den Lippen, sah sie ihn fragend an.
Er zuckte mit den Schultern und sagte dann: „Nun ja… ich vermute, jetzt kommt das berühmte ‚Aber’. Und nach meiner Erfahrung folgt einem ‚Aber’ immer ein:“ Er streckte einen Zeigefinger gen Himmel und verstellte seine Stimme. „Ich reise heute Abend ab. Ich gehe auf Safari. Nach Afrika. Oder: ‚Ich muss noch diesen Korb voll Süßigkeiten nach Hause bringen. Meine acht Kinder und mein Mann warten schon auf mich’.“
Ein breites Lächeln wuchs über ihr Gesicht, als sie das Tuch von ihrem Korb zog. Er war voll gefüllt, mit Zuckerstangen, Gebäck und anderen Süßigkeiten.
Richard bekam große Augen und schluckte. Ihm fehlten die Worte.
„Ich habe heute noch viel zu tun und obwohl ich unser Gespräch als äußerst angenehm empfunden habe…“ Sie sah ihn entschuldigend an und fügte hinzu: „…aber ich muss jetzt wirklich los. Leider. Es gibt da einige Kinder, um die ich mich kümmern muss.“
Ein paar Schritte später drehte sie sich noch einmal zu ihm um und sagte: „Delilah“, während sie das Cape ihres Umhanges von ihrem Kopf streifte. „Mein Name ist Delilah“, sagte sie und warf ihm einen Luftkuss zu. Ihre blonden Haare hingen ihr in wilden, strubbeligen Strähnen bis zu den Schultern und umrahmten ihr wunderschönes Gesicht. Einen Augenblick später verschwand sie in der der Menge von Menschen, die sich auf dem Marktplatz tummelten.
„Es war mir ein Vergnügen“, rief Richard, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht mehr hören würde.
Einen Augenblick stand er einfach nur und beobachtete die Menschenmenge, in der Hoffnung noch einmal einen Blick auf das Mädchen erhaschen zu können. Sein Herz von wohligen, warmen Gefühlen erfüllt. Sein ganzer Körper vor Aufregung immer noch am Zittern, war er sich sicher, eben der wundervollsten Frau auf diesem Planeten begegnet zu sein. Erst als ihn eine alte Dame anrempelte, drehte er sich auf dem Absatz um und machte sich auf den Weg nach hause. Es waren nur ein paar Schritte bis zu dem großen, dreistöckigen Fachwerkhaus in dem er wohnt. Eine kleine Treppe führte zum Eingang des hohen Gebäudes.
„Ich wünschen ihnen einen guten Abend“, grüßte ihn ein älterer Herr. Er hielt Richard die Tür auf und hob kurz seinen runden Hut vom Kopf.
Richard nickte und antwortete: „Es ist ein sogar ein ausgesprochen guter Abend und den wünsche ich ihnen auch Mister Hubolg.“
„Ich war gerade im Begriff, eine Runde über unseren schönen Weihnachtsmarkt zu drehen. Kommen sie doch nachher zum Abendessen zu uns rüber“, fragte der Alte, der immer noch die schwere Tür offen hielt.
„Hat ihre Frau den Truthahn zubereitet?“, fragte Richard und tat so, als hänge seine Entscheidung davon ab.
Der alte Mann lachte. „Na, ich jedenfalls nicht. Oder wollten sie einen verkohlten Vogel zum heiligen Abend vorgesetzt bekommen?“
Richard lachte mit. „Nun gut, wenn das so ist. Wie sollte ich so ein Angebot ausschlagen?“
„Sehr schön, ich hatte gehofft, dass sie kommen würden. Emma freut sich sicher auch. Dann sehen wir uns nachher.“ Die Eingangstür fiel ins Schloss und das dicke Holz und die festen Mauern des Hauses verschluckten all den Lärm des Trubels außerhalb des Hauses. Es war plötzlich totenstill. Nur noch die hölzernen Stufen knarrten leise unter den Füßen, des jungen Mannes, als er die Treppe nach oben nahm.
Die Decke des kleinen Raumes in dem Richard lebte wurde zur Wand hin immer niedriger. Es befand sich direkt unter der Marktplatz Seite des Daches und bot neben der schönen Aussicht noch einen weiteren Vorteil. In der einen Ecke lief der Schornstein durch das Zimmer und hielt den Raum stets mollig warm. Neben dem kleinen Dachfenster hatte der junge Künstler eine Staffelei aufgebaut. Auf der Leinwand ein angefangenes Bild, als Motiv ein Picknick, das auf einer saftigen grünen Wiese stattfand. Eine Frau und ein Mann saßen auf einer Decke und beobachteten ihre Kinder, die an einem nahe gelegenen Fluss umhertollten.
Richard hievte das unfertige Bild aus der Staffelei und ersetzte es durch eine leere Leinwand. Er schnürte sich eine Schürze um, rückte sich einen Hocker vor das Fenster und begann zu malen. Als Motiv, hatte er sich für ein Portrait entschieden. Für das Portrait einer Frau – einer jungen Dame, mit einem bildhübschen Gesicht und einem fröhlichen Lächeln auf den Lippen. Er begann damit, die Konturen, mit einem dünnen Pinsel anzufertigen und sah alle paar Minuten aus seinem Fenster. Aus der Höhe, des dritten Stockwerkes war der gesamte Platz gut überschaubar. Er beobachtete die Menschen, die alleine, oder mit ihren Familien über den Markt spazierten und ihre letzten Besorgungen machten oder einfach nur den Zauber der Feiertage genossen. Immer wieder erwischte er sich dabei, wie er nach einem Mädchen Ausschau hielt. Einem Mädchen, dessen Stupsnase er gerade skizziert hatte. Der Gedanke, sie bald wieder zu sehen, ließ sein Herz schneller schlagen und in Erwägung zu ziehen, seinem einsiedlerischen Dasein ein Ende zu bereiten. Eigentlich mochte der junge Künstler die Einsamkeit dort oben, unter dem Dach. Sie brachte ihm viel Zeit, für seine Arbeiten und verschaffte ihm die nötige Ruhe, da sein Zimmer das einzige auf dieser Etage war. Mal abgesehen von einem Dachboden, der als Abstellkammer genutzt wurde. Frauen gegenüber war er eigentlich immer etwas schüchtern gewesen und hatte nie so richtig daraufhin gearbeitet eine Lebenspartnerin zu finden oder gar eine Familie zu gründen. Er wollte ein großer Künstler werden. Das hatte er sich vor Jahren schon geschworen. Dafür hatte er seine Familie und sein Heimatdorf verlassen. Dort hatte man kein Platz für Kunst. Zu sehr war man damit beschäftig, auf den Feldern zu arbeiten, über die wenigen Nachbarn zu tratschen oder zur Abendstunde das tägliche Bier zu sich zu nehmen. Ein Grinsen zog sich über sein Gesicht, als er unten auf dem Markt drei Männer ausmachte, die sich vor einem Glühweinstand aufhielten und sichtlich angetrunken waren. Immer wieder musste einer den anderen stützen, damit sie nicht stolperten und zu Boden fielen.
„Na hoffentlich bist du nachher noch nüchtern genug, um nachhause zu finden alter Mann“, dachte Richard, als er seinen Nachbarn wieder erkannte, der ihn zum Essen eingeladen hatte. Lautes Geschepper zog seine Aufmerksamkeit auf eine Blumenvase, die unweit entfernt, auf der kleinen Kommode, neben seinem Bett gestanden hatte.
Einen Augenblick war kein Mucks zu hören. Dann – wie aus dem Nichts, sprang ein Tier auf ihn zu.
„Verdammt, Tiger. Du bekommst auch alles kaputt, nicht wahr?“, tadelte er den Kater, der sich auf das Fensterbrett gesetzt hatte und laut schnurrte, als Richard ihn über sein braunes Fell streichelte.
„Nun gut, dann halt du weiter Ausschau, nach meiner Liebsten“, befahl er dem Kater.
Als hätte dieser ihn verstanden, maunzte er und kratzte mit der Pfote am Fensterglas.
Richard rückte seinen Hocker zurecht und fasste nach einem Pinsel.
„Ich habe noch ein Bild zu malen.“
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