Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Januar 2003
Der Feldscher
von Bernd Pol



Ich kann nichts dafür. Ich bin nur ein kleiner Barbier und Feldscher, weil mein Vater einer war und der Vater meines Vaters und dessen Vater auch, soweit ich das weiß. Ich war nur zur falschen Zeit am falschen Ort, mit meinem Silberrohr und dem Haken zum Kugeln ziehen. Wäre es anders gewesen, vielleicht lebte der Generalissimus oder wer auch immer das war jetzt noch. Und ich bräuchte nicht zu fliehen.
Vielleicht. Aber ich glaube es nicht. Im Kugeln ziehen bin ich der Beste. Ich könne mit der Hand sehen, hatte mein Vater gesagt, als er mich das Handwerk gelehrt hat mit dem spanischen Silberrohr, das noch vom Großvater stammt und in Ehren gehalten wird, denn der hat es einst mitgebracht aus den Silberstädten im neuen Indien weit hinter dem großen Meer.
Es ist unser größter Besitz, der einzige von wirklichem Wert, dieses schlanke Rohr aus Silber samt seinem silbernen Haken. Das muss mit und wenn alles andere auch hier bleibt. Mehr ist nicht nötig. Ich bin nur ein armer Feldscher, einer ganz hinten aus dem Tross in diesem langen Krieg, einer der den Hauptleuten die struppigen Bärte schert, wenn es ruhig ist, und ihnen im Kampf die zerhauenen Glieder versorgt und die Pfeile herausschneidet und die Kugeln zieht.
Sie bringen sie oft von weit her zu mir, denn im Kugeln ziehen bin ich gut. Aber es wird mein Untergang sein, wenn ich nicht rasch fortkomme, denn jeden Augenblick können sie da sein, die Häscher, schon heißt es, ich hätte ihn umgebracht, ihn, den Generalissimus, den Grafen Tilly oder seinen Doppelgänger, was in diesem Fall aufs gleiche herauskommt, in dieser Schlacht kurz vor Augsburg, weil meine Hand gezittert hat oder ich ihm die Kugel absichtlich ins Herz gestoßen hätte, denn ich bin Schwabe und mein Vater war einst Protestant, vor Jahren noch, bevor dieser elende Krieg ausbrach, der kein Ende mehr nehmen wird.
Und ich kann doch gar nichts dafür.
Es war gegen Mittag. Die Kanonen dröhnten jetzt schon den zweiten Tag. Sie hatten mir gerade einen Hauptmann gebracht, einen Kerl wie ein Bär, der war böse zerhauen. Mal was anderes, offenbar ging es nun doch Mann gegen Mann. Vorher waren es fast nur von Kugeln zersplitterte Glieder und Leiber gewesen. Das Schwert war ihm in die linke Schulter gefahren zwischen Eisenwams und Armschiene und jetzt hing ihm der Arm nur noch an einigen Fetzen Fleisch. Sie hatten ihn mit Hemdfetzen an den Körper gebunden, der Rest vom Hemd steckte in der Wunde und hielt das Blut zurück.
Ich bin kein guter Feldscher. Mir wird immer noch übel, wenn ich das sehe. Selbst wenn es der Hundertste ist im Laufe der Schlacht. Solche Wunden lasse ich den Gehilfen, dem Ochsenschläger, der seinem Memminger Metzger entlaufen ist, und dem Baumfäller, diesem hessischen Riesen, der auch den Rasendsten noch in den Stuhl presst, damit man in Ruhe die Knochen durchsägen kann.
Ein abgeschlagener Arm macht meist nicht soviel Mühe. Die Arme erwischt es am ehesten. Das Schwert gleitet ab und dringt in die Schulter. Sind die Knochen eh schon derart entzwei, hilft nur noch Abschneiden und mit möglichst viel Fleisch vernähen. Das brauch ich nicht selber tun, dazu ist der Metzger, der Ochsenschläger, gut genug.
Nur schade um diesen Hauptmann. Er muss sein Geschäft verstanden haben, wenn man nach den Stiefeln, den Schmuckhosen, den Hemdresten geht. Stoff vom Allerfeinsten trug er am Leib. Und sturzbesoffen vom besten Wein war er, als sie ihn brachten, zwei, die seine Bahre schleppten und einer mit einem Fässchen auf dem Buckel, vom Lech herauf weit herum um diese im Morgengrauen entbrannte Schlacht.
Vielleicht war es nur der Weindunst, der mich umwarf. Jedenfalls musste ich hinaus vor das Zelt, mich erleichtern, da sprengt ein hoher Reiter vorbei, sieht mich im Umdrehen wie ich in Rauch und Pulverdunst hinter das Zelt kotze, macht kehrt, kommt direkt auf mich zu:
„He, Kerl! Kennst du Johannes, den Kugelzieher?“
Oh, es tut immer noch gut, das zu hören. Sie kennen meine Kunst in allen Haufen, jedes Fähnlein schickt seine Angeschossenen zu mir, wenn immer es geht.
„Ich bin nur ein kleiner Feldscher, Herr!“ sage ich dennoch bescheiden, denn das bringt mehr Lohn, und den kann ich dringend brauchen später, ganz hinten im Tross, wenn ich die Vorräte auffrischen muss und die Bestecke neu aufzuschmieden sind, die Messer und Sägen und verbogenen Zangen. „Mein Name ist Johannes, in der Tat. Wie kann ich Euch zu Diensten sein?“
Er ist ungehalten, der Junker dort oben auf dem Pferd. Er hat es eilig. Diese Ecke ist nichts für die feineren Leute.
„Schwätz nicht, Kerl! Hol dein Besteck! Ein hoher Herr braucht deinen Dienst.“
Dann hat er mich auch schon auf seinem Gaul, wie einen Sack einfach vor sich geschmissen, gerade, dass ich meinen Beutel mit dem Rohr und dem feinen Besteck noch vom Zelteingang greifen kann, wo er immer griffbereit hängt, denn zum Kugeln ziehen und Pfeilspitzen schneiden eilt es den meisten oft sehr.
Zum Glück dauerte der wilde Ritt nicht lange, so mit der Nase auf dem verschwitzten Pferd, immer auf und ab und durchgerüttelt, wo mir doch ohnehin speiübel war. Vor einer erbärmlichen Lehmhütte beim Dorf, Rain heißt es, nicht mehr als ein alter Stall, warf er mich ab und verschwand, ein stämmiger Dominikaner nahm mich schweigend in Empfang, winkte den Hellebardier, der hinter einem Reisighaufen beim Eingang aufgetaucht war, wieder in sein Versteck zurück und bückte sich vor mir unter dem niedrigen Türbalken durch.
Drinnen übergab er mich einem vierschrötigen Offizier, der mich abschätzig von oben bis unten musterte: „Der Kugelzieher?“ Es war nicht an mich gerichtet, aber als ich nickte winkte er mich zu einem schmutzigen Vorhang, der von dem niedrigen, verrußten Raum einen Winkel abteilte: „Dort ist dein Patient, Kugelzieher. Mach deine Arbeit gut. Und schweig still! Was immer du siehst, nichts darf hinaus dringen, sonst gnade dir Gott!“
Dann schob er mich ohne ein weiteres Wort hinter das Tuch.
Es war eng in dem Winkel, gerade genug Platz für eine Bahre, einen dreibeinigen Schemel, einen schweren dreiarmigen Leuchter auf einem winzigen Tisch, wo weißes Tuch ganz offensichtlich Sakralgerät verhüllte. Der Dominikaner kauerte betend davor und die Luft war noch weihrauchschwer. Vermutlich hatte der Patient vor kurzem noch die Sakramente erhalten.
Das ist ein Luxus für die ganz Großen. Meine Hauptleute erhalten den Segen in der Regel nicht mehr. Sie verrecken ganz ohne Erbarmen und Aussicht auf rasche Erlösung. Manche sichern sich ab und gehen vor der Schlacht noch bei einem Kapuziner beichten, falls Zeit ist. Die meisten aber verrecken wie fast alle Söldner ganz ohne Trost.
Dieser hier aber war reich, das zeigten die Kleider. Sein Gesicht war mit einem Tuch verhüllt, man sollte ihn wohl nicht erkennen. Den linken Arm hatte man ihm unter den Kopf gelegt, so gab er die Seite frei, über die sich von der Brust, unter der Achsel durch ein Verband aus edlem Stoff zog. Knapp bei der Achsel war er mit Blut durchtränkt und das sagte schon alles. Die Kugel musste von dort von bis nahe ans Herz gedrungen sein. Kein einfacher Fall. Sonst hätten sie wohl schwerlich mich, den besten Kugelzieher, geholt.
„Du weißt, was zu tun ist, Feldscher?“ fragte der Offizier und wartete die Antwort nicht ab. „Ich rate dir, gib acht. Du haftest mit deinem Leben für seines. Und jetzt mach dich ans Werk. Der Mönch kann dir helfen. Er hat schon Wildere gebändigt.“ Dann schloss sich der Vorhang und man hörte die Stiefel überlaut knarren, wie er die paar Schritte zu den beiden Offizieren im anderen Eck hinüber stapfte.
Seltsam, das alles. Was suchte ein reicher Verwundeter in solch einem heruntergekommenen Stall? Schließlich hatte Tilly doch gerade für diese Fälle seine Feldlazarette eingeführt. Anders als in den anderen Armeen mussten seine Leute nicht bis zum Ende der Schlacht im Dreck liegen bleiben. So hatte er seine Offiziere rascher wieder auf den Beinen. Er ließ immer Zelte am Rand der Schlacht aufstellen. Seine besten Ärzte arbeiteten darin. Und auf dem Feld hatte er eigens Trupps aufgestellt, die die Verwundeten herausschleppen sollten. Die hohen Offiziere natürlich nur, meine Hauptleute haben nicht viel davon. Sie werden immer noch unter freiem Himmel behandelt, wenn sie es überhaupt aus dem Getümmel heraus schaffen. Ein Zelt wie ich hat kaum ein Feldscher, selbst wenn es aus einer zerlumpten Wagenplane stammt, die es auch nur deshalb gibt, weil ich mich mit einer Marketenderin auf gemeinsame Rechnung zusammengetan habe.
Tilly hat da ganz andere Möglichkeiten.
Tilly? Ich komme von diesem Bild nicht los. Wer ist das hier nur? Wenn ich ihn mir so ansehe, diese Züge unter dem Tuch, dieses Wams hinten an der Wand, der feine Verbandstoff – ein Verdacht kommt da auf. Tilly? Kann das sein? Wieso haben sie ihm das Gesicht verhüllt? Wieso ein kräftiger Dominikaner als Aufpasser und nicht einer von diesen feinen Jesuiten, die sonst um ihn herum scharwenzeln? Tilly?
Der Mönch schaut nicht her. Tilly? Ich muss die Binde zerschneiden, ein willkommener Grund, das Tuch zu lupfen, Gewissheit holen: Tilly! Das ist wirklich Tilly! Das da ist der Generalissimus!
Unmöglich! Das kann gar nicht sein. Tilly läge nicht hier. Außerdem gehen die Gerüchte, dass er heute morgen schon ganz anders getroffen worden sei. Eine Kugel hätte ihm das Bein zerschmettert. So sagt jedenfalls meine Marketenderin. Die muss es wissen. Sie hat ihre Spione überall. Dem hier sind beide Beine noch unversehrt. Er hat nur eine Kugel beim Herz.
Die Kugel! Ich muss mich eilen. Mit aller Vorsicht. Er lebt kaum noch. Ein kleiner Fehler kann alles zerstören. Er muss wichtig sein, dieser Tilly da. Ich bin nur ein armer Feldscher. Wenn es schief geht, die Rache von Verschwörern überlebe ich nicht.
„Du hast ihn erkannt?“
Gott! Fast hätte ich mein silbernes Rohr fallen lassen. Der Dominikaner steht neben mir und rückt das Tuch über dem Gesicht wieder zurecht. Ich kann nur nicken.
„Er ist es nicht.“ Ich nicke nochmal. „Schweig!“ sagt er fast nebenbei. „Es hat alles seine Richtigkeit. Wie soll ich ich ihn halten?“
Bei all dem hatte ich kaum darauf geachtet, aber als der Dominikaner da zu mir kam, merkte ich plötzlich, dass die Offiziere sich die ganze Zeit über meinen Tilly hier unterhielten. Halblaut nur, es war kaum zu verstehen, aber der eine oder andere Brocken drang doch durch.
Es störte mich plötzlich. Mit halbem Ohr musste ich jetzt hinhören. Es ging gar nicht anders. Und wie der Dominikaner beide Schultern des Verletzten packte, so gut es eben ging, und mit seinem ganzen Gewicht auf die Liege presste, dröhnte mir der Offizier, der mich herein gewiesen hatte mit seiner groben Stimme in den Ohren: „Wir hätten schon bei Magdeburg handeln sollen. Tilly ist ein Zauderer. Die Stadt wäre längst unser gewesen, samt allem was in ihr war.“
Magdeburg! Da war ich dabei. Ich werde diese Schreie nie vergessen, wie die Pappenheimer die Weiber wie Vieh zum Tor herausgetrieben hatten, hinter sich die bereits brennende Stadt, wo am anderen Ende noch die Kanonenkugeln einfielen, vor sich die Horden Plünderer, gegen die sie ihre Weiber verteidigten und auf dem Vorwerk auf der Insel mitten im Fluss zusammenpferchten.
Magdeburg! Monate hatten wir davor gelegen, ohne Erfolg, ohne Verpflegung, ausgemergelt, und die Pest ging auch schon wieder um im Lager.
„Angreifen hätte er sollen!“ zischte eine andere Stimme. „Wenn er dem Pappenheimer die Initiative überlässt. Das konnte gar nicht gut gehen. Wir hätten ihn da schon austauschen sollen.“
Krank war ich vor Magdeburg gelegen. Ich kam gar nicht erst in die Stadt. Die Pappenheimerschen Reiter hatten ganze Arbeit geleistet. Während Tilly noch die Stadt beschoss, hatten sie im Sturmangriff über die Holzbrücke das Haupttor bezwungen und waren fast ohne eigenen Verlust über die Stadt hergefallen.
„Dreißigtausend!“ dröhnte mein Offizier wieder. „Dreißigtausend waren in der Stadt. Keine Fünftausend haben die Pappenheimer überlebt. Und alle Vorräte sind uns verbrannt.“
Ja, wir waren schlimmer dran als zuvor. Aber...
„Was zögerst du?“ fragt mein Dominikaner. „Zieh endlich die Kugel. Lange kann ich ihn so nicht halten.“
Ach was, Magdeburg ist längst vorbei. Ich muss das Rohr ansetzen, ganz vorsichtig. Die Wunde ist längst verklebt, es gleitet nur schwer hinein. Ruhe jetzt! Keinen Ruck darf es geben...
„Hoffentlich kommt er durch.“ Dieses Zischeln aus der Ecke stört. „Wir müssen etwas bald tun. Sonst bekommt der Waldsteiner wieder die Macht.“
„Wallenstein.“ Die Gedanken lassen sich nicht verscheuchen, während das Rohr langsam, Fingerbreite um Fingerbreite vordringt. Alles wäre anders gelaufen, hätte er uns nicht die Vorräte verweigert damals vor Breitenfeld, als die Schweden über uns hergefallen waren und ich vor Hunger kaum noch die Kraft hatte zur Flucht. Um ein Haar wäre ich zu Wallenstein übergelaufen, aber meine Marketenderin hatte mich eingesammelt, damals nach Breitenfeld und in ihrem Wagen die halbe Strecke ins Winterlager im Süddeutschen gekarrt.
Ein Ruck. Nur ein ganz kleiner. Das war die Rippe. Die Kugel ist da abgeprallt. Das macht die Sache noch schwieriger. Mein Dominikaner schwitzt bereits. Aber er lässt mich nicht aus dem Auge, rückt so gut es geht beiseite, dass ich das Rohr nach hinten drehen kann, immer ganz sachte auf dem Weg zum Herz den Wundkanal nach.
„Was tun, wenn die Schweden durchbrechen?“ Diese Stimme kenne ich noch nicht. Fast sanft ist ist sie und doch voll unheimlicher Macht. Ich kann gar nicht anders als hinzuhören, während die Finger jeden kleinsten Widerstand vorauszuspüren versuchen. „Wir müssen ihn auf alle Fälle mitnehmen. Wo ist der Wagen?“
„In der Scheune nebenan“, sagt mein vierschrötiger Offizier. „Zwei gute Gäule sind angespannt. Wir können sofort los, wenn der da drin fertig ist.“
„Jetzt darf auf keinen Fall mehr etwas dazwischenkommen!“ befiehlt der Sanfte. „Wir brauchen Ersatz, wenn Tilly nicht überlebt. Das Heer hängt an ihm. Sie müssen ihn sehen. Sonst ist alles verloren. Wo steckt er überhaupt?“
„Maximilian lässt ihn nach Ingolstadt schaffen.“ Das ist der Zischer. „Noch hält er die Schweden drüben am andern Lechufer. Es ist schwer geworden. Die Schweden haben in der Nacht eine Brücke geschlagen und Reisigballen herüber geschafft. Im Morgengrauen haben sie sie angesteckt. Deswegen konnte man sie nicht sehen durch den Qualm, wie sie herübergekommen sind und ihren Brückenkopf ausgebaut haben.“
Das hat mir meine Marketenderin auch so erzählt. Tilly war mit dem Kurfürst und dem Grafen Altringer sofort hinausgeritten, wie er es immer tat. Er musste mit eigenen Augen sehen um entscheiden zu können. Dabei hat ihm eine Schwedenkugel das rechte Knie zerschmettert.
„Jetzt hängt alles am Altringer!“
Meine Hand zuckt. Was muss der Mann auch derart dröhnen.
„Der schafft es nicht, sage ich euch!“
Innehalten. Luft holen! Konzentrieren! Die Fingerspitzen verraten es – die Kugel ist unmittelbar voraus. Sie muss direkt am Herzen liegen. Ich kann es pochen spüren, ganz schwach nur noch und fliegend schnell.
„Davon hängt alles ab.“ Der Zischer! „Ich glaube nicht, dass der Altringer sie aufhält. Der ganze Marsch war völlig absurd. Wir können sie hier nicht halten. Augsburg wäre besser gewesen. Wir hätten die Schweden von hinten aufreiben müssen. Mit erholten Truppen aus den festen Mauern heraus. Aber der Generalissimus will ja nicht hören. Das Heer zerfällt uns unter der Hand. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.“
Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Die Kugel habe ich. Jetzt muss sie noch mit dem Haken heraus. Der Dominikaner schnauft, dreht sich ganz von selbst noch ein Stück weiter nach hinten, damit ich Platz habe, den Haken ins Rohr zu schieben. Er kennt das Geschäft. Er überwacht mich. Dass nichts geschieht. Ganz sicher.
„Es hängt alles davon ab, dass er durchkommt“, sagt der Sanfte da wieder, während der Haken ins Rohr gleitet, ja nicht zu rasch, die Kugel darf jetzt keinen Stoß bekommen. „Er wird rascher gesunden als Tilly. Das wird unsere Chance sein. Wir brauchen ihn nur vorzuweisen. Wenn sie ihn sehen, sammelt das Heer sich wieder. Dann hat der Waldsteiner das Nachsehen. Und wir entscheiden dem Kaiser den Krieg.“
Was haben sie nur mit Wallenstein? Der hat doch längst nichts mehr zu sagen. Er sitzt im Norden und schmollt. Die Schweden sind hier, direkt vor uns. Und jetzt gehen ihre Feldschlangen schon wieder los. Ganz in der Nähe. Das kann ich nun gar nicht brauchen.
Der Haken hat die Kugel erreicht. Jetzt dürfen nur noch die Fingerspitzen arbeiten. Der Dominikaner hat den Atem angehalten. Er weiß, wie man Kugeln zieht. Sachte jetzt, ganz, ganz sachte den Haken auf die Seite drehen. Er muss ganz von selbst um die Kugel herum gleiten. Dann wird alles gut.
Es geht auch gut. Kein neues Hindernis. An dieser Seite ist die Kugel noch glatt. Vorbei, jetzt vorsichtig nach hinten drehen, den Haken hinter die Kugel gleiten lassen. Ja. Er greift. Unmittelbar am Herzen sitzt sie, die Kugel, jetzt spürt man jedes Zittern, jeden noch so schwachen Schlag. Aber das Schlimmste ist geschafft. Jetzt nur noch sachte anziehen, die Kugel ans Rohr pressen und dann alles zusammen vorsichtig, sachte, zügig aus der Wunde heraus...
„Seid ihr endlich soweit?“ Es war unruhig geworden drüben hinter dem Vorhang. Die Tür war aufgeknarzt, jemand hat etwas geschrieen, ich weiß nicht was, hatte nicht darauf geachtet, die Kugel war wichtiger. Doch da kam der Vierschrötige herüber gestapft und riss den Vorhang auf, im allerblödesten Augenblick...
Ich war nicht schuld. Bei mir war alles recht gelaufen. Es war der Dominikaner, der gezuckt hatte. Eben als der Haken am Herzen lag. Es gab einen Ruck, ich habe ihn genau gespürt, diesen ganz besonderen Ruck, wenn das Herz seinen letzten Stoß bekommt. Das war der Augenblick, in dem der Generalissimus starb. Oder sein Ersatz, sein Stellvertreter, was auch immer er war. Oder sein solle.
Es ist mir gleich. Ich habe mir nichts anmerken lassen, habe ganz professionell die Kugel aus der Wunde gezogen und dem Dominikaner gereicht. Solange der damit beschäftigt war, konnte er nichts merken. Der Patient war schon so schwach gewesen, in der Unruhe konnte nicht gleich auffallen, dass er nicht mehr atmete.
Es war meine einzige Chance. Irgendwer stand draußen, brüllte, dass alles verloren sei, der Altringer sei gefallen, wer beritten sei, solle so rasch es geht zurück nach Ingolstadt, die Schweden kämen schon.
Ganz kurze Zeit, da gab keiner Acht. Es hatte gereicht, um hinauszuschlüpfen, zwischen die Reisighaufen zu kriechen dort neben dem Stall. Irgendwer hat ihnen in der Hektik einen Stoß gegeben, dass sie über mich hingefallen sind. Das war mein Glück. In so einem Haufen sucht so schnell keiner mehr.
Ich habe den Vierschrötigen noch brüllen hören, wie sie den Tod des Generalissimusvertreters bemerkt hatten. Er sucht mich noch, samt seinen Häschern. Doch viel Zeit bleibt ihnen nicht. Die Trompeten drängen. Sie müssen jetzt fort.
Ob ich mich nach der Nacht zu den Schweden durchschlage? Vielleicht finde ich bald wieder eine Marketenderin. Auf gemeinsame Rechnung natürlich, das geht immer.
Denn einen Barbier, einen kleinen Feldscher, der gut ist im Kugeln ziehen, braucht jedes Heer.

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