Das alte Buch Mamsell
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Peggy Wehmeier zeigt in diesem Buch, dass Märchen für kleine und große Leute interessant sein können - und dass sich auch schwere Inhalte wie der Tod für Kinder verstehbar machen lassen.
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Januar 2003
Erbarmung, es brennt!
von Ingeborg Restat



Glühend heiße Sommerwochen 1839 verbrannten die Felder Ostpreußens, die sonst reiche Frucht trugen. Die Knechte und Mägde auf dem Land und die Menschen in der Stadt flohen in den Schatten, sobald sie nur konnten. Auf dem großen Marktplatz von Königsberg, den schmucklose dreistöckige Häuser umgaben, ging nur der entlang, der es unbedingt musste. Selbst in dem Speicherviertel der Stadt war Ruhe, wo sonst zwischen den malerisch schönen Fachwerkhäuser, die hier dicht beieinander standen, lebhaftes Treiben herrschte. Kaum ein Seil lief noch über eine quietschende Winde unter den hohen spitzen Giebeldächern, um Getreide, Hülsenfrüchte, Heringsfässer oder vieles mehr hochzuziehen und in den Etagen der Speicher einzulagern. Die Menschen stöhnten. Unerbittlich brannte die Sonne hernieder und dörrte nicht nur den Boden aus, sondern auch das Gebälk der Fachwerkhäuser. Die vielen Teiche, grüne Inseln in der Stadt, verloren an Wasser und der Fluss, der Pregel, der Königsberg durchquerte, floss nur müde der Ostsee entgegen. Wie lange schon gab es bei dieser Hitze keinen Fisch mehr auf dem Markt, auch keine Heringe.
Mathilde konnte die Keilchen schon nicht mehr sehen, welche die Mutter aus Kartoffelteig backte, auch wenn sie mit gebratenem Rauchspeck bekrischelt waren. ‚Mal wieder, einen herzhaften Hering zwischen die Zähne bekommen, das wäre schön!’, dachte sie, als sie möglichst im Schatten der Häuser durch die Straßen lief. Doch selbst wenn es das alles gab, die von allen sehr geschätzten und begehrten Heringe kamen selten bei ihnen auf den Tisch, denn das Geld war knapp. Als Putzmacherin fertigte die Mutter Hüte und dunkle Frauenhauben mit Schleifen und reich bestickten Bändern an. Damit verdiente sie für sich und ihre fünfzehnjährige Tochter Mathilde den Lebensunterhalt. Das brachte nicht allzu viel ein, reichte aber für ein bescheidenes Dasein. Mathilde half ihrer Mutter schon beim Besticken der Bänder und trug die fertigen Hüte und Hauben zu den Kundinnen aus. Auch heute hatte die Mutter gesagt: „Thildachen, Marjellchen, sei so jut, bring eben mal der Frau Bäckermeister Bodeweit den neuen Sommerhut.“
So war Thilda nun auf dem Rückweg. Vorsichtig trug sie die leere Hutschachtel. Das war die einzige, die sie hatten, sie durfte nicht beschädigt werden. Thilda überquerte den Marktplatz, der so groß und weit war, dass man kaum erkennen konnte, wer an der anderen Seite des Platzes ging. Die Luft flimmerte auf den heißen Steinen. Ihr knöchellanger Rock klebte ihr an den Beinen. Sie steckte sich ihre blonden Zöpfe am Hinterkopf fest, aber kein Windhauch strich ihr über den Nacken. Sie öffnete den obersten Knopf ihrer züchtig hochgeschlossenen Bluse, aber sie spürte nur, wie der Schweiß an ihr herabrann. Endlich hatte sie die engeren Gassen erreicht, konnte sich wieder in die Schattenseite drücken.
Sie war nicht mehr weit entfernt von den Speichergassen, da begannen die Kirchenglocken von Königsberg Sturm zu läuten. Fenster flogen auf, Menschen sahen neugierig und angstvoll heraus. Was hatte das zu bedeuten? Einer fragte den andern. Irgendwo klapperten Pferdehufe auf den Steinen, ratterten schwere Wagen durch die Straßen. „Erbarmung! Erbarmung!“, rief einer und wies hoch über die Dächer der Häuser. Eine dunkle Rauchwolke stieg zum Himmel auf, wurde größer und größer. In der Ferne hörte man ein Signalhorn. Da ritt ein Reiter durch die Straßen, rief damit die zur Brandbekämpfung verpflichteten Handwerker der Stadt zusammen. Wie erstarrt standen die Leute einen Moment. „Mein Jottchen! Es brennt! Erbarmung!“ – „Die Speicher, das müssen die Speicher sein!“ – „Die juten Sachen, die Häringe! Alles verbrennt!“ – „Nehmt eure Feuereimer, kommt!“, riefen sie dann durcheinander.
Jetzt vergaßen alle die Hitze. Leben füllte die Straßen, von überall kamen sie aus den Häusern und rannten nur einem Ziel entgegen. Viele hatten ihre ledernen Feuereimer dabei, manche auch einen Brandhaken, Geräte, die jeder in seinem Haus haben musste. Einige trugen sogar hölzerne Feuerleitern auf der Schulter. Es brennt, es brennt! Mathilde ließ sich mitziehen, mit denen, die rannten, um beim Löschen zu helfen, und mit denen, die nur die sensationslüsterne Begierde vorantrieb. Ihr Herz klopfte vor Aufregung. Ein brennendes Haus, das hatte sie noch nicht gesehen. Je näher sie herankam, desto mehr Menschen wurden es um sie herum. Da, da, vor ihnen am Ende der Straße, das Speicherhaus, aus Dach und Luken schlugen grell die Flammen und die dunkle Rauchwolke breitete sich immer breiter über die Stadt. Auch aus dem Dach des Speicherhauses daneben züngelten schon die ersten Flammen. „Erbarmung!“ – „Erbarmung!“, rief einer um den andern und sie wichen zurück. Nur die Männer mit ihren Feuereimern aus Leder und die zur Brandbekämpfung verpflichteten mit den Lederhelmen, von denen ein schützender Latz über ihre Nacken hing, kämpften sich durch die Menge und liefen weiter. „Patz! Platz!“ Die Brandspritze aus dem Spritzenhaus, von Pferden gezogen und von kräftiger Hand gelenkt, bahnte sich ihren Weg. Schnell hatte sich zum nahe gelegenen Teich eine Eimerkette gebildet und unermüdlich schöpften sie Wasser Eimer um Eimer, die von Hand zu Hand gingen. Wer dachte noch an die Hitze? Die Angst war groß, dass das Feuer auf die Häuser der Stadt übergreifen könnte. Immer mehr Männer mit Lederhelmen fanden sich ein. Lederschläuche von Haspeln wurden zum Teich hin abgerollt. Zwei standen an einer Handdruckpumpe, der Schweiß lief ihnen unter den Lederhelmen hervor, doch sie pumpten und pumpten. Auf hölzernen Leitern standen andere und versuchten mit dem Wasser so nah wie möglich an das Feuer heranzukommen. Laute Zurufe flogen hin und her, jeder rannte dahin, wo er gebraucht wurde. Alle gaben ihr Bestes. Aber der Wasserstrahl erreichte kaum das Dach. Hier fraßen sich die Flammen weiter von einem Speicher zum nächsten.
Immer dichter wurde die Menschenmenge. In sicherer Entfernung standen sie und gafften fast schweigsam. Und Thilda unter ihnen. Zwei Kinder neben ihr hopsten aufgeregt und überdreht von einem Bein aufs andere. Sie wussten wohl nicht, ob das nur ein spannendes Ereignis war oder sie Angst haben mussten. „Lorbaß, halt still! Jungchen, du springst mir auf die Füße!“, schimpfte ein Mann neben ihr und packte einen von ihnen am Kragen. Die Knaben duckten sich und die Mutter zog sie beiseite. Thilda hielt fest ihren Hutkarton im Arm. Gebannt starrte sie auf die brennenden Speicher. Es sah nicht so aus, als könnten die schwitzenden Männer das Feuer aufhalten. Ohnmächtig mussten die Menschen zusehen, wie aus einem weiteren Dach Flammen züngelten. „Da kommt ja alles um!“, rief der Mann neben ihr. –Die Menschen wurden unruhig. „ Ja, das janze Jetreide und die Erbsen!“ – „... und nich nur das, wer weiß, was noch alles!“ – „Aber nicht etwa die Häringe?“ - „Erbarmung!“ – „Ja soll’n wer denn zusehen, wie die juten Häringe verbrennen?“, fragte einer.
„Noch brennt der Häringsspeicher nich. Holen wir se uns doch!“, rief ein anderer
Bewegung kam in die Menge, als hätten sie auf diese Aufforderung gewartet. „Halt!, hier kommt keiner durch!“, wollten einige sich den Menschen entgegenstellen. Vergebens! Sie wurden zur Seite gedrängt, wer stolperte und fiel, über den wurde einfach hinweggetreten. „Meine Jungchen!“, schrie die Mutter und konnte gerade noch die beiden Knaben packten und aus der Menge herausziehen, ehe es kein Halten mehr gab. Einer steckte den anderen an. Heringe, begehrte Heringe, wem schadete es, wenn sie sowieso verbrennen würden. Und dass der Brand so leicht nicht mehr zu löschen war, das sahen sie doch. Nur getrieben von dem einen Verlangen, Heringe zu raffen, so viel jeder konnte, drängten sie vorwärts auf das Tor der Heringsbaracke zu, wie der Speicher genannt wurde. Thilda wurde mehr geschoben, als dass sie lief. Immer darauf bedacht, die Hutschachtel zu schützen, hatte sie beide Arme darum gelegt. Aber zu verlockend war es, was würde die Mutter sagen, wenn sie mit Heringen heimkäme. An nichts anderes dachte auch sie mehr. Frauen schrien, Männer fluchten, die Menge war nicht mehr zu bremsen, der Mob war los, zog alle mit, auch den sonst ehrbarsten Bürger. Das Tor der Heringsbaracke krachte unter dem Druck, zerbarst. Die ersten liefen hinein zu den Heringsfässern. Angst, panische Angst befiel Thilda, als sie gepresst an die andern durch das Tor geschoben wurde. Gellende Schreie waren um sie herum, aufgeregte Rufe. Als sie endlich durch war, hielt sie die Hutschachtel immer noch in ihren Armen. Wie durch ein Wunder war sie nicht zerdrückt worden. Sie rannte wie die andern zwischen den Fässern umher. Wo war ein offenes? Überall splitterte das Holz, wurden die Fässer aufgebrochen, aber waren sie offen, so hing sofort eine Traube Menschen daran, die gierig hineinlangen wollten und sich gegenseitig nichts gönnten. Ziellos rannte Thilda weiter, wurde weggestoßen, beiseite geschoben, sie schaffte es nicht, an eins der Fässer zu gelangen. Und immer mehr Menschen, blind vor Gier, nur auf sich bedacht, strömten in die Baracke. Längst fielen mehr Heringe auf den Boden, als sich der Pöbel einstecken konnte. Sie wurden zertrampelt, glitschiger Matsch. Die Menschen plünderten ohne Hemmungen, wie besessen, ziellos steckten sie sich die Heringe in ihre Taschen, Hosen, ins Hemd oder nahmen sie einfach vor die Brust, so viel sie fassen konnten. Einer dicken Frau fielen die Heringe einfach wieder aus ihrer zusammengerafften Schürze heraus, so, wie sie diese hineintat. Sie merkte es nicht, weil sie mit den Ellenbogen ihren Platz an der Tonne verteidigte und nicht genug bekommen konnte. Das war die Gelegenheit für Thilda. Flink bückte sie sich und sammelte fünf Heringe in die Hutschachtel, ehe die Frau darauf aufmerksam wurde und ihr fluchend drohte. Dann wandte sie sich dem Tor zu. Sie wollte nur noch raus. Es stank bestialisch, nach den zertretenen Heringen und nach Rauch. Irgendjemand rief, es brenne wohl schon das Dach der Heringsbaracke. Nur für einen Moment horchten einige auf, dann griffen sie umso gieriger in die Tonnen und boxten sich gegenseitig weg, der Stärkere den Schwächeren, da zählte auch nicht irgendeine Rücksicht von einem Mann auf eine Frau.
Und immer noch drängten mit irren Blicken begierig, alles vergessend, Menschen herein. Aber viele wollten auch schon hinaus. Das war ein Schubsen, ein Hin und Her am Tor. Panik erfasste Thilda! Wie sollte sie da durchkommen mit ihrer Hutschachtel? Ein starker, breitbeiniger Mann, hatte ein ganzes Heringsfass auf seine derben Schultern geladen. Sicher war es nur noch halb voll. Der wollte auch hinaus. Dem schloss sich Thilda an. Hinter seinem Rücken hoffte sie es zu schaffen. Er fluchte, er stieß mit den Füßen, wer ihm im Weg war, er schaffte es auch, kam durch die Menge, und mit ihm Thilda.
Aber draußen warteten schon viele, die bis jetzt nicht hineinkamen, auf diejenigen, die herauskamen und mit ihrer Beute davoneilen wollten. Weit kam auch der starke Mann nicht. Schnell wurde ihm ein Bein gestellt, er schlug hin, die Tonne polterte auf die Straße und die Heringen, die noch darin waren, flutschten heraus. Thilda spürte einen Schubs in ihrem Rücken, einen Schlag gegen ihre Hutschachtel. „Erbarmung! Nein!“, schrie sie, fiel hin und musste hilflos mit ansehen, wie die Hutschachtel zerstört wurde, nur um an die Heringe zu kommen, auf die sich keifend die Menschen stürzten. Sie hatten wohl alles Menschliche vergessen. Auch hier waren schon mehr Heringe zertreten und verkommen, als überhaupt erbeutet werden konnten.
Der starke Mann erhob sich wütend und prügelte auf den nächsten ein. Thilda saß nur am Boden, unfähig sich zu erheben. Nicht einen Hering hatte sie mehr und die kostbare Hutschachtel war zerstört. Was würde die Mutter sagen? Sie weinte. Die prügelnden Männer kamen ihr schon gefährlich nahe. Da griff eine Hand nach ihr und hob sie auf. Ein junger Mann mit einem Sack unter dem Arm führte sie schnell aus der Menge heraus. Sie kannte ihn. Wie oft war sie schon errötet, wenn sie ihm begegnet war. „Thildachen, krichst een Häring von mir“, sagte er und öffnete seinen Sack. Nur wenige hatte er darin, aber er gab ihr gleich zwei davon ab. Sie raffte ihre Schürze zusammen und legte sie da hinein. Dann nahm er sie an die Hand und sie gingen zusammen davon.
Weit waren sie noch nicht entfernt, da krachte es gewaltig hinter ihnen. Der Erste Speicher fiel zusammen, der zweite und die Dächer der andern standen schon hell in Flammen, auch an dem Dach der Heringsbaracke fraß das Feuer bereits. Panik brach aus. Die Männer mit den Lederhelmen rannten durcheinander, die in der Eimerketten, waren der Erschöpfung nahe. Aus der Heringsbaracke liefen schreiend, nun von Angst gejagt, die wie losgelassenen Menschen. Sie stießen sich gegenseitig aus dem Weg, einige fielen hin, andere stolperten über sie hinweg. Dichter Qualm verdunkelte die Straße und ließ keine Sonne mehr sehen. Wie viele Heringen mögen wohl erbeutet worden sein, wie viele nur verkommen? Alles verbrannte. Es gab viele Verletzte.
„Marjellchen, wie konntest du nur?“, war alles, was die Mutter sagte, als sie ihre Tochter, um die sie sich schon gesorgt hatte, in die Arme schloss.

Das ganze Speicherviertel brannte nieder, aber dennoch waren die erschöpften und nun verstörten Menschen erleichtert, denn die Stadt selbst mit ihren Wohnhäusern blieb vom Feuer verschont. Schon kurze Zeit später, waren die, die darüber das Sagen hatten, fest entschlossen diese einmalig schöne Speicherstadt mit ihren hohen Fachwerkhäusern, worauf die Königsberger immer stolz gewesen sind, genauso wieder aufzubauen.

(c) Ingeborg Restat

Letzte Aktualisierung: 00.00.0000 - 00.00 Uhr
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