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Januar 2003
Die Großmut des Löwen
von Birgit Erwin



Der Pfeil hatte das Schlüsselbein zerschmettert und war in den Hals eingedrungen. Nur eine Narbe mehr auf einem Körper des Mannes, der zweiundvierzig Jahre lang in vorderster Front auf jedem Schlachtfeld des Christentums gekämpft hatte. Das jedenfalls hatten sie alle gedacht. Dann kam der Wundbrand. Hugh Coleman blickte verbissen in das bleiche Gesicht des Sterbenden, der die Kreuzzüge überlebt zu haben schien, nur um zehn Jahre später bei der Belagerung eines zweitrangigen französischen Schlosses zu krepieren.
„Was für ein dummer, blödsinniger Unfall. Warum hat er keine Rüstung getragen. Warum hat er mich das nicht behandeln lassen. Verdammter, sturer Narr!“, fluchte der Leibarzt leise und fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen,
Manchmal, so viele Jahre nach ihrer Rückkehr aus dem Heiligen Land, kam es immer noch vor, dass er in dieses Gesicht sah und wie aus dem Nichts die Schreie der Unschuldigen vor Akkon hörte, der Frauen und Kinder, die dort wegen eines Lösegeldes geschlachtet worden waren. In diesen Augenblicken schien ihm der Tod die einzig gerechte Strafe für den Mann, der den Befehl gegeben, und mit kalten blauen Augen überwacht hatte, wie er ausgeführt wurde.
Jetzt, da der Tod anklopfte, fühlte er vor allem überwältigende Trauer.
Pater Gregory, der junge englische Geistliche, murmelte Gebete, seit zehn Tagen schon, seit jenem Abend vor dem Wall von Chalus, als sie ihren blutenden, gotteslästerlich fluchenden Heerführer in sein Zelt gebracht hatten. Jetzt war die Burg eingenommen, aber um welchen Preis. Tränen rannen über die bartlosen Wangen des jungen Priesters. Fast hätte Hugh ihn um seine naive Heldenverehrung beneidet.
„Bald ist es aus mit ihm“, sagte er und bekreuzigte sich.
„Das hab ich gehört.“
Pater Gregorys Gemurmel verstummte jäh.
„Sire!“
Richard Löwenherz hatte sich auf die Ellenbogen aufgerichtet und musterte die beiden Männer mit einem hämischen Funkeln in den Augen.
„Oh nein, der Löwe ist noch nicht tot, die Mäuse dürfen nicht tanzen. Noch kann ich dich hinrichten lassen, weil du deinen König einen Narren nennst, und weil du mich aufgegeben hast, du Hundsfott. Bete weiter, Mönch, und bete in einer Sprache, die Gott versteht!“
Pater Gregory sackte mit großen Augen zurück in seine knieende Haltung und begann ein französisches Vaterunser.
Der Verwundete lachte in kurzen mühsamen Stößen, und mit jedem färbte sich die fleckige Binde um seinen Hals ein Stück röter.
„Sire, Ihr solltet Euch nicht so anstrengen“, murmelte der Arzt ohne viel Hoffnung.
„Verdammter Quacksalber!“ fauchte sein Patient und ließ sich auf das Feldbett zurückfallen. Die wenigen Worte hatten ihn erschöpft. Unbeherrscht trat er nach den schweißfeuchten Laken. Sein Fuß verfehlte nur knapp das gebeugte Gesicht des jungen Mönches.
„Warum heult der Mann?“
Pater Gregory blickte bekümmert in die fiebrigen blauen Plantagenet-Augen. „Weil Ihr sterben werdet, Sire.“
Instinktiv duckte sich Master Coleman.
„Nein!“ brüllte der König. „Nein, ich werde nicht sterben. Hinaus, du schwarzer Unglücksrabe. Schafft ihn mir aus den Augen. Komm her, Quacksalber. Ich werde nicht sterben. Ich werde nicht sterben! Und das ist ein Befehl!“
Blaue Augen bohrten sich in braune. Hugh begann zu schwitzen: Der König war kein geduldiger Mann, und seine gegenwärtige Hilflosigkeit machte ihn wütend und vollkommen unberechenbar.
„Ja, Sire.“
Ein kaltes Lächeln der Befriedigung huschte über Richards gesprungene Lippen.
„Du hast Angst vor mir, Quacksalber, nicht wahr?“ Er ließ sich schwer zurückfallen und starrte zur Decke. „Das ist gut so“, flüsterte er, „Angst müssen sie haben vor dem Löwenherz. Coeur de Lion. Auf den Kreuzzügen haben sie mich so genannt.“
„Ich weiß, Sire, ich war dabei.“
„Ja“, flüsterte der König. Seine Hand schnellte über die dünne Decke und krallte sich mit einem Rest ihrer alten Kraft in den Arm des Arztes. „Ich erinnere mich an deine Augen, als ich vor Akkon den Befehl gab. Du hast mich verurteilt, Quacksalber!“
„Nein, Sire.“
Aber Richard hörte ihn nicht mehr. Seine Augen hatten diesen Glanz, von dem Hugh nie wusste, ob er aus dem Himmel oder der Hölle kam. Er zwang den Arzt, sich an Dinge zu erinnern, die er verzweifelt zu vergessen suchte. „Was für ein Tag das war. Morgens haben meine Männer angefangen, abends war es vorbei. Dreitausend Leichen vor den Mauern von Akkon, und Saladins Männer haben zugesehen. Ganze Arbeit. Dreitausend tote, stinkende Heiden. Ein gottgefälliger Anblick. Ich möchte nicht Gott sein.“
Er lachte wieder, bis ihm blutiger Schaum über die Lippen tropfte. Hugh beugte sich vor, um ihn abzutupfen, aber der Kranke rollte unwillig den Kopf weg.
„Benimm dich nicht wie meine verfluchte Mutter, die alte Hure von Aquitanien. Gib mir Wein, gib mir etwas gegen diese elenden Schmerzen. Haben sie ihn schon gefunden?“
„Ich weiß nicht, Sire.“
„Dann sieh nach, Quacksalber!“ grollte der Sterbende und schleuderte Hugh matt den Becher hinterher.

Es war Anfang April, und sie waren endlich in Frankreich. Im Kerker in Deutschland, im kalten England, in den drückend heißen Nächten vor Jerusalem, wenn die Stimmung ihren Tiefpunkt erreicht hatte, dann hatte Richard von dem Frühling in Frankreich erzählt. „Du wirst ihn erleben, du englischer Knochenbrecher“, hatte er geschworen, und seine Stimme war weich gewesen. Dieses eine Mal hatte der König Wort gehalten. Sogar hier im Feldlager war ein wenig von der Schönheit zu spüren, die seine tiefe Stimme in langen Nächten für sie heraufbeschworen hatte. Hugh atmete den fernen Blütenduft ein und versetzte einem einsamen Katapultgeschoss einen Tritt.
Jetzt, da das Chateau Chalus gefallen war, wirkte es noch armseliger. Ein Turm, ein von Geschossen zernarbter Wall und der endlose blaue Himmel Aquitaniens. Neben den verwaisten Belagerungsmaschinen hockten ein paar Soldaten und würfelten um Beutestücke. Einer hob den Kopf. Seine Augen stellten die Frage, die alle im Lager bewegte. Hugh nickte.
„Er lebt noch. Noch. Habt ihr ihn endlich?“
Der Soldat spuckte aus. „Kann nicht mehr lange dauern, bis er gesteht. Schwein!“
Hugh nickte. Er wusste, dass er sich freuen sollte. Aber vielleicht war es genug, dass er jetzt zu seinem Herrn zurückkehrte. Vielleicht war es die letzte gute Nachricht, die er ihm überbringen würde.

„Bringt den Gefangenen!“
Hugh stand hinter seinem König und sah stur geradeaus. Allen Warnungen und Bitten zum Trotz hielt Richard in seinem Zelt ein letztes Mal Hof, und seine Männer liebten ihn dafür. Hoch aufgerichtet saß er in dem provisorischen Königssessel. Das Fieber verlieh seinem Gesicht Farbe und seinen Augen jenen besonderen Glanz, der die Plantagenet-Augen über Frankreich hinaus berühmt gemacht hatte. Er trug Kronreif und Königsmantel, kein Kettenhemd, und der blutige Verband leuchtete wie ein dunkles Ehrenbanner. Ein Kämpfer bis zuletzt. Hugh dachte an die dreitausend Toten vor Akkon und ertappte sich bei dem Gedanken, dass der Tod hier an einem Tag ebenso reiche Beute machen würde.
Richards Leibwache zerrte den Gefangenen herein. Seine Beine schleiften auf dem Boden und hinterließen eine Blutspur. Schweigend zeigte der König auf den Boden vor sich. Die Soldaten luden den Mann ab wie einen Sack Getreide. Die Ketten an seinen Hand- und Fußgelenken klirrten.
„Wie heißt du?“
Der Gefangene hob das verschwollene Gesicht. Es war ein junges Gesicht, von Folter und Todesangst gezeichnet.
„Peter Basil.“
„Peter Basil, SIRE!“ korrigierte einer der Soldaten und trat ihm mit dem gepanzerten Fuß gleichgültig in die Rippen. Der Mann wimmerte.
Richard hob die Hand.
„Lass ihn!“ Ohne ihn aus den Augen zu lassen, fasste er sich an den Hals und hielt dem Gefangenen seine blutverschmierte Rechte unter die Augen. Er zuckte kaum, als er die zerschmetterte Schulter berührte.
„Das Blut eines Königs. Du gestehst deine Tat?“
Plötzlich begann der Mann am Boden zu weinen. Es war ein erbärmlicher Anblick, und viele der Soldaten wandten angeekelt das Gesicht ab.
„Vergebt mir, Sire, vergebt mir!“ Peter Basil kroch näher versuchte, die Rechte des Löwenherz zu küssen. Tränen quollen aus seinen geschwollenen Augen, und Hugh erkannte, dass ihm auf der Folter mindestens zwei Finger gebrochen worden waren. Richard ließ ihn eine Weile gewähren, ehe er die Hand zurückzog. Er betrachtete sie nachdenklich.
„Mein Blut und das meines Mörders.“ Seine Stimme war sehr leise, und die versammelten Soldaten hingen an den Lippen ihres Königs. Hugh war der einzige, der einen Blick für den Gefangenen übrig hatte, der mit einer Mischung aus Angst und Hoffnung in das Gesicht des Fürsten starrte.
„Armer Junge“, dachte der Arzt, „dich lässt der Löwe sicher nicht laufen.“
Richard schwieg noch immer. Endlich richtete er seine strahlenden Augen auf Basil.
„Wie würdest du an meiner Stelle richten, Peter Basil?“
Der junge Mann schluckte. Blut und Rotz rannen ihm aus der gebrochenen Nase.
„Gnade, Herr!“, flüsterte er kaum hörbar. Richard musterte ihn durchdringend. Endlich schlug Basil die Hände vor das Gesicht und flüsterte hinter seinen ausgerenkten Fingern: „Ich habe den Tod verdient.“
Die Minuten dehnten sich. Richard starrte wie hypnotisiert auf seine Hände, sein Gesicht blieb im Schatten.
„Ja“, sagte er leise, „aber was für eine Welt wäre das, wenn wir alle bekämen, was wir verdienten.“
Plötzlich hob er den Kopf, und das strahlende Plantagenetlächeln, das Männer wie Frauen gleichermaßen bezaubert hatte, erleuchtete sein ausgezehrtes Gesicht.
„Wir haben unser Blut vermischt, das macht uns fast zu Brüdern, Peter Basil.“ Er winkte lässig. „Du bist frei. Niemand soll dem… Löwen Rachsucht… nachsagen.“ Seine Stimme schwankte. Seine Rechte fiel kraftlos in den Schoß. Hugh sah noch, wie sein Kopf zur Seite rollte, während der Jubel der Soldaten anschwoll.
„Vivat rex! – Es lebe Richard Löwenherz!“
Der Gefangene kauerte auf der Erde und schluchzte fassungslos.
„Vivat rex“, flüsterte Hugh. „Danke, Richard.“
Er beugte sich über den Monarchen, dessen schweißüberströmtes Gesicht die Blässe einer Ohnmacht überzogen hatte, und fasste in sacht an der gesunden Schulter.
„Sire…“
Die Lider des Königs hoben sich einen Spalt. „Das hab ich gut gemacht, nicht wahr? Sorg dafür, dass die Leute verschwinden, Quacksalber. Meine Leibwache und dieses Stück Dreck bleiben!“

Es war nicht leicht, die lärmenden Soldaten aus dem Zelt zu drängen. Endlich schloss Hugh den Vorhang, während sich draußen die Nachricht von der Großmut des Königs wie ein Lauffeuer verbreitete.
„Vivat rex!“
Als Hugh sich umdrehte, war Richard aufgestanden und stützte sich mit einer Hand auf den Sessel. Seine Augen waren klar und tückisch.
„Ihr wart nie bewusstlos, Sire“, murmelte Hugh. „Das alles war… Schmierentheater.“ Er fühlte sich betrogen. Als Arzt, als Mensch. Als das, was man vielleicht einen Freund hätte nennen können.
Richard grinste flüchtig, dann wurde sein Gesicht hart.
„Ich werde sterben“, sagte er. Sein Blick war hoheitsvoll. Zehn Tage Todeskampf, dachte Hugh, nun kommt das Ende, und er weiß es. Er nickte. Dieses Nicken würde vielleicht seinen Tod bedeuten, aber er konnte nicht mehr lügen. Zu seiner Überraschung blieb Richard ruhig. Er trommelte mit den Fingerkuppen sacht auf die Lehne des Sessels, während er auf die aufgeregten Stimmen vor seinem Zelt lauschte.
„Aber die Legende wird leben. Und es wird eine gute Legende, nicht wahr, Quacksalber.“
Hugh dachte an Akkon. Er dachte auch an die stickigen Nächte vor Jerusalem, Nächte, in denen er den fiebernden Richard gepflegt hatte, an die seltenen Augenblicke der Kameradschaft zwischen König und Gefolgsmann. Er dachte an diesen letzten Akt der Großmut, und seine Kehle wurde eng.
„Ja, Sire, es wird eine gute Legende werden.“
„Die Großmut des Löwen!“ Richard lachte humorlos und winkte seiner Leibwache. Er zeigte auf den Gefangenen, der reglos auf dem Boden kauerte. Seine Augen waren kalt.
„Genug von Legenden. Schafft ihn nach Chalus. Schindet ihn. Und wenn er dann noch lebt - hängt ihn auf.“
Einen Augenblick war es totenstill im Zelt, dann schrie Basil auf, nur einen einzigen unartikulierten Schrei, bevor ihn die gepanzerte Faust des Soldaten am Hinterkopf traf. Er sackte in seinen Ketten zusammen. Die Stille, die folgte, war fast noch schlimmer.
„Nehmt ihn mit, wenn der Pöbel draußen zu betrunken ist, es zu merken“, flüsterte der König. „Gib mir etwas gegen die verfluchten Schmerzen, Quacksalber.“ Er taumelte und brach auf seinem Sessel zusammen.
Hugh rührte sich nicht. Er konnte nicht. Die Opfer von Akkon schienen ihm wie ein gesichtsloses Heer hinter der zerschmetterten Schulter des Königs zu nicken und zu winken.
„Bastard“, flüsterte er plötzlich. „Verdammter königlicher Bastard! Vatermörder! Was hindert mich, jetzt hinauszugehen, und allen zu sagen, was für ein verlogener, gottloser Schlächter du bist.“
Die Stille, die seinem Ausbruch folgte, roch nach Blut. Nur langsam wurde Hugh bewusst, was er gerade gesagt hatte. Er war zu weit gegangen. Er würde sterben. Draußen gröhlten sie noch immer ihr „Vivat rex!“
Richard schwieg. Endlich hielt der Arzt es nicht mehr aus. Er hob die Augen und begegnete einem belustigten Blick.
„Nichts. Aber du wirst es nicht tun, Hugh, nicht wahr? Denn du magst diesen gottlosen Schlächter.“
Hugh starrte ihn an. Richard hatte Englisch gesprochen, sein furchtbares, radebrechendes Englisch, über das sie in der Vergangenheit gemeinsam gelacht hatten. Der König hob eine Augenbraue und lächelte.
Der Arzt öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Sein Kopf war leer.
„Lasst mich Euch zu Bett bringen, Sire. Ihr müsst Euch hinlegen“, sagte er.
„He, Quacksalber“, flüsterte der König matt, während sein Kopf auf das Kissen sank, „wenn ich nicht mehr aufwache, sag ihnen, dass ich neben meinem Vater beerdigt werden will.“
Hugh hob überrascht den Kopf. „Zwischen Euch hat nicht viel Liebe geherrscht. Er hat Euch noch auf dem Totenbett verflucht, und Ihr wollt neben ihm liegen?“
Es war zu dunkel, das Gesicht des Königs zu erkennen, aber Hugh glaubte, ein Lächeln über seine Züge geistern zu sehen.
„Was meinst du, wie das den alten Mistkerl ärgern wird.“

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