Der himmelblaue Schmengeling
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Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Februar 2003
Schwan im Kochtopf
von Petra Ottkowski


„Schaut mal, bei der möchte ich auch gern an der Brust liegen.“ Pit lief voraus und ließ sich übermütig in den eisigen Schoß von Maria fallen und taute dem Jesuskind die Ärmchen an.
„Vorsichtig, komm da wieder runter“, ermahnten ihn die anderen glucksend, aber Pit war schon weitergestürmt, in das nächtliche Flockentreiben, das die Schneeskulpturen überpuderte. Wie Grabfiguren leuchteten sie im Dunkeln, flüchtiger Marmor, ein Funkeln und Glitzern in der Luft. Im Kampf erstarrte Reiter mit Eisspeeren, Schwäne und Meerjungfrauen, die ihre Fischschwänze lasziv umeinander schlangen.

Pit hatte Lust, in das offene Maul eines Wals einen Schneeball zu werfen.
Stattdessen entkorkte er die mitgebrachte Sektflasche, die er unter seinem Mantel versteckt hatte.
„Lasst uns einen trinken!“ Pit bedauerte, dass Janine diesem historischen Moment nicht beiwohnte, aber sie musste das Gulasch für die Eröffnungsfeier ansetzen. Kronbachs erster Snowcontest! Es gab sogar einen Fünfzigkubikmeterschneeblock, der einzige, der professionellen Maßstäben genügte. An ihm würde sich das aus den USA eingeladene Carver-Team austoben.
Noch war er verschalt. Der Bagger musste noch ein paar Schaufelladungen Schnee einfüllen, dann konnte der Kran die Holzeinrüstung hochheben.

Pit kletterte aus Spaß die Leiter hoch, um ins Innere des Kubus zu schauen. An ihrem oberen Ende schwankte die Leiter gefährlich, aber vielleicht war Pit nur zu betrunken. Nachmittags hatte das Gelächter der Mädels die Motorengeräusche fast übertönt, als sie den Schnee mit ihren Stiefeln fest traten. Wie Winzerinnen im Weintraubenfass hatten sie den Schnee zusammengepresst. Perfektes Material, aus dem die Motorsägen der Amerikaner den Höhepunkt des Wettbewerbs schälen würden, - dabei konnten sich die Figuren der Dörfler durchaus sehen lassen.

„Weiß einer von euch, wo Jörg ist?“, fragte Pit die weißen, lachenden Gesichter unter sich. Er sollte heut Abend in der Küche helfen.“ Mit Grausen dachte Pit an die gefrorenen Brötchenhälften, tausend Stück, die schon mit Butter bestrichen in der Kühlkammer warteten. Allein brauchte er Stunden, um sie mit Käse und Wurst und etwas Salat zu belegen. Das Frühstücksbuffet, über das nicht nur die Schneekünstler herfallen würden.

„Auf Jörg ist einfach kein Verlass“, murmelte jemand. „Der treibt sich irgendwo rum.“ Pit ahnte, dass Jörg irgendwann nachts besoffen in der Küche auftauchte, zu nichts zu gebrauchen.
„Vielleicht hat er sich schlafen gelegt, oben im weichen Schnee“, blödelte einer und trat gegen die Holzplanken. Pit fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Jörg etwas zurückgeblieben war. Er hing den ganzen Tag in der Küche rum, stand im Weg und starrte den Küchenhilfen unter die Schürzen. Der kleinen Tanja sollte er im Gefrierraum sogar unter den Rock gegriffen haben.

„Schau doch mal nach!“, kam es grölend von unten. Pit hatte keine Lust die wacklige Leiter noch weiterhochzusteigen, aber er wollte sich nicht blamieren.
Ein wenig gruselte es ihn, als er sich über die Brüstung beugte, doch die Schneeschicht im dämmrigen Geviert schien unberührt. Auch in den Schattenzonen gab es keine verdächtigen Erhebungen.

„Da ist nichts!“ rief Pit erleichtert. Es sei denn, Jörg läge etwas tiefer. Die Amerikaner würden staunen, wenn sie Morgen mit ihren Motorsägen in etwas Weiches stießen und sich der Schnee färbte. Pit dachte an die Kids aus dem Kindergarten, die am Nachmittag ihre Schneemänner beschossen hatten, Lebensmittelfarbe in den Wasserpistolen.

Der Junge kommt wieder, beruhigte sich Pit und folgte seinen Kumpels schweigend zum Restaurant.
„Dann frohes Schaffen“, verabschiedeten sie sich, nicht ohne schadenfroh zu erwähnen, wo sie weiter saufen würden. Aber in der Küche ging es auch lustig zu, stellte Pit erstaunt fest. Die Mädels hatten eine Kochwanne mit Glühwein gefüllt und lungerten kichernd auf den Stahltischen, eine Dose Kekse neben sich.
„Willst du auch einen?“, bot Janine ihm eins der unförmigen Dinger an. Pit war sich nicht sicher, ob sie ihn heimlich auslachte, hatte er doch beim Eintreffen den Eindruck, dass eifrig über Jörg gelästert wurde. Aber immerhin hatten sie den Gulasch und das Rotkraut schon angesetzt.

„Wisst ihr was, der Jörg fehlt noch, eine halbe Stunde Pause für alle!“, bot Pit den erstaunten Mädchen großzügig an. Sie füllten noch schnell ihre Glühweinbecher und torkelten plappernd in den Schankraum.
Endlich Ruhe! Pit gönnte sich den Rest aus der Kochwanne und zündete sich eine Zigarette an. Für Momente dachte er an den Schneeblock, draußen auf der nächtlichen Wiese. Wenn Jörg nun wirklich im Eis steckte, eingeschlafen, begraben unter einer kalten, schweren Decke? Es hatte in den letzten Stunden ganz schön geschneit. Pit überlegte, ob er die Polizei anrufen sollte. Mit Hunden würden sie draußen suchen. Aber wie würden sie Jörg unter den Schneemassen bergen? Mit Schaufeln? Pit sah die Uniformierten mit Riesenfönen den Schneekoloss schmelzen.

„Na, hat der spacecake auch bei dir gewirkt?“, überraschte Janine ihren Chef in einem Kicheranfall.
„Machst du uns noch einen Glühwein?“ , bettelte sie charmant.
„Ich bring ihn euch rein“, versprach Pit und kippte Süßstoff und Wein zusammen. Bildete er sich ein, dass Janine leicht verstört wirkte? Er öffnete den Kühlschrank, um sich ein Bier rauszuholen. Drinnen war es dunkel. Scheiße, ärgerte sich Pit. Alles lauwarm. Hat wieder ein Döspaddel den Stecker rausgezogen, um das Radio anzuschließen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass das alte Ding leise vor sich hin brummte. Er schaute ins Tiefkühlfach.

Was ist denn das für ein komischer Nachtisch?, wunderte sich Pit und zog ein vollgepacktes Tablett heraus. Er lachte auf. Da hatte jemand tatsächlich eine Ladung Schneebälle eingefroren! Allerdings keine ordinären Allerweltsexemplare, sondern kunstvolle Miniaturausgaben der Schneeskulpturen auf der Wiese. Pit erkannte den Schwan, der seine Flügel zum Angriff ausbreitete, was Pit draußen nicht aufgefallen war. Da waren der Wal und andere Tiere, maßstabsgerechte Modelle, leicht angetaut, die jemand mit viel Geschick und Miniaturwerkzeugen ausgearbeitet haben musste, mit Nagelfeile und Zahnhölzern. Wem gehörten sie? Den Künstlern, die hier übernachteten? Vielleicht hatten sie die Mädels überredet, die Modelle aufzubewahren? Aber würde ein professioneller Bildhauer kitschige Riesenkatzen und glubschäugige Elefanten anfertigen? Das war doch eher Jungmädchengeschmack, wie die Katzenpostkarten, die überall in der Küche rumflogen. Pit erinnerte sich, dass Janine mit ihrem kleinen Bruder eine Schneeplastik gebaut hatte. Voller Stolz hatte sie den anderen Mädels davon erzählt. Pit nahm den Schwan in die Hand. Unter seiner milchigen Oberfläche schimmerte etwas Dunkles. Pit setzte das Tier in eine Schöpfkelle und hielt es in den aufkochenden Wein. Bald schwamm ein Miniatureiffelturm in der Schneesuppe. Ein Kaugummiautomaten-Souvenir. Neugierig nahm Pit die restlichen Figuren, verteilte sie in Töpfe und Auflaufformen, aber den glatten Schneewürfel setzte er in die Glaskanne der Kaffeemaschine.

„Sag mal spinnst du?“, empörte sich Janine, als sie in der Küche auftauchte. „Das sollten Überraschungen sein.“
„Vielleicht eine Reise nach Paris, ma cherie?“
Pit legte alle Fundstücke auf den Tisch, nur der Würfel blieb ohne Geheimnis.
„Der ist für Tanja“, sagte Janine leise. „Es war nicht unsere Schuld, dass Jörg die Leiter hinuntergerutscht ist und statt auf Tanja auf die Schaufel vom Bagger knallte.“

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