Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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Februar 2003
Die Macht der Furien
von Frank Hoese


Die Blumenkränze, mit denen Musa und Crispinus das Atrium geschmückt hatten, verströmten einen betörenden Duft. Seit einigen Tagen war immer öfter die Sonne am Himmel zu sehen. Sulpicia liebte den Frühsommer und freute sich auf heitere Tage in Bovillae, wenn die Gerichtsferien begannen. Es würde ihr gut tun, einige Zeit auf dem Familienbesitz außerhalb der Stadt zu verbringen - zumindest so lange, bis ihre Sehnsucht nach dem Stadthaus ihr und ihrem Gatten Publius und allen Umstehenden den letzten Nerv rauben würde.
Sulpicia sang leise vor sich hin, während sie einige welke Blätter aus den Kränzen zupfte. Es war ruhig im Haus, da außer ihr, dem jungen Sklaven Crispinus und dem griesgrämigen Türhüter Diphilos niemand zuhause war. Irgendein Volkstribun hatte den Senat zusammenrufen lassen, also war Publius fürs erste beschäftigt. Ihre Haussklaven, Musa und Callistus, machten Besorgungen. Crispinus scheuerte die Küche. Und Diphilos pflegte ohnehin kein Lebenszeichen von sich zu geben, wenn ihn nicht jemand dazu zwang.
Sie sammelte die braunen Blätter in einer Falte ihrer Palla und trug sie in die Ecke des ummauerten Hausgartens. Als sie ins Freie trat, blinzelte sie. Nach den Schatten und der Kühle des Hauses war die lichtvolle Wärme des italischen Frühsommermorgens wie ein elysischer Traum. Sie eilte leichtfüßig über die breiten Steinplatten des Hausgartens - und stutzte.
Für einen Augenblick glaubte sie, Diphilos habe sich zwischen den Holunderbüschen schlafen gelegt, und das Gefühl der Unwirklichkeit nahm zu. Niemals würde Diphilos etwas tun, was auch nur im Verdacht stand, Spaß zu machen. Sie hielt eine Hand über die Augen und trat vorsichtig näher.
Nein, das war nicht Diphilos.
Die Gestalt lag in einer unbequemen, verdrehten Haltung zwischen den Sträuchern. Sulpicia hielt den Atem an, und ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sie näherte sich vorsichtig und sah, dass es ein bärtiger Mann um die Fünfzig war, der ihr vage bekannt vorkam. Seine Fersen hatten tiefe Spuren in die Rasenfläche gegraben; an den Sandalenriemen und an seinen Knöcheln klebte frische Erde. Die rückwärtige Pforte des Hausgartens, die auf einen schmalen Pfad hinter dem Haus hinausführte, stand offen.
Als die junge Frau das Gesicht des Mannes aus der Nähe sah, verflog der letzte Zweifel. Dies hier war ein Toter. Seine Gesichtszüge waren in Krämpfen verzerrt, in seinen Mundwinkeln und Barthaaren klebte blasser Schaum.
„Hostilius“, flüsterte sie.

„Ich wünschte manchmal, ein Aemilius Scaurus zu sein und kein Aemilius Lepidus“, klagte Publius Aemilius Lepidus, kaum dass der Ianitor die Tür hinter ihm geschlossen hatte.
„Dann wäre dein Vater ein Kohlenhändler gewesen“, bemerkte Sulpicia.
„Stell dir vor, Sulpicia, er ist Vorsitzender der Untersuchungskommission geworden.“
In diesen Tagen sprach man in Rom über kaum etwas anderes als die Kommission, die herausfinden sollte, was im Krieg zwischen Iugurtha und seinem Vetter Adherbal schiefgegangen war. Iugurtha machte sich unbekümmert auf dem numidischen Thron breit, ohne sich um den lahmen Widerspruch der römischen Schutzmacht zu scheren. Stattdessen hatte er den rechtmäßigen Thronfolger ins Jenseits befördert und ihm nach der Eroberung von Cirta eine Menge römischer Kaufleute beigesellt, was man ihm besonders übelnahm. Und danach hatte er einer konsularischen Armee den Geschmack einer furchtbaren Niederlage zu kosten gegeben. Nun war es Zeit, ein paar Köpfe rollen zu lassen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Zum Beispiel den von Aulus Postumius, der die glücklosen Truppen befehligt hatte.
Dass nun Scaurus, der Vormann des Senates, die Schuldigen bestrafen sollte, war pikant, denn jeder wusste, dass Iugurtha ihn und den halben Senat mit großzügigen Bestechungsgeldern von seinem Thronanspruch überzeugt hatte. Scaurus und der damalige Konsul Bestia, in dessen Gefolge er mitgereist war, hatten Iugurtha einen für Rom überaus peinlichen Frieden verkauft. Und nun sollte ausgerechnet Scaurus seine Kumpane - und womöglich sich selbst - anklagen.
Publius saß auf der Marmoreinfassung des Impluviums und starrte trübsinnig auf die Wasseroberfläche, in der sich matte Abbilder der Ahnenbüsten spiegelten.
„Mach dir keine Gedanken“, tröstete Sulpicia ihn. „Quintus Metellus wird die abgeschlaffte römische Ehre schon wieder zu ihrer alten Größe aufrichten. Hat denn niemand im Senat gegen Scaurus gesprochen?“
„Was denkst du?“ Er machte eine Geste, die das ganze Haus einschloss. „In deiner behüteten Welt kannst du dir gar nicht vorstellen, was ich da draußen auszuhalten habe.“ Er seufzte. „Es gab einen Tumult. Bestia und sein pöbelnder Anhang haben uns niederkrakeelt. Um ein Haar wären sie auf uns losgegangen. Stell dir vor, Philus hat mir Schläge angedroht.“
„Der gewesene Quästor Furius Philus?“
„Ja, der.“ Publius schnaufte. „So ein Hinterbänkler - hält mir seine Faust unter die Nase!“
Es gab in Sulpicias behüteter Welt ein Problem, das dringend der Aufmerksamkeit des Hausvaters bedurfte. Also lächelte sie aufmunternd und tätschelte Publius’ Hand.
„Komm, ich muss dir etwas zeigen.“
Sie zog ihn hinter sich her zum Hausgarten und wies auf eine Stelle zwischen den Holunderbüschen. Jemand, der zu Lebzeiten der ehrenwerte Senator Caius Hostilius gewesen war, lag dort auf dem Rücken, tot wie Hannibal.
Lepidus erbleichte.

„Ich habe Crispinus zum Tempel der Libitina geschickt, damit er die Bestatter holt“, sagte Sulpicia und hielt ihrem Gatten einen dampfenden Becher hin. „Trink das, es ist Wein mit ein paar Kräutern.“
„Was hatte er hier zu suchen?“ fragte Publius, nachdem er einen Schluck getrunken hatte. „Ich dachte, er sei mit Postumius’ Heer in Afrika. Er war seit Monaten nicht mehr im Senat.“
„Afrika, hm? Er wirkt gar nicht wie jemand, der in der letzten Zeit viel Sonne hatte.“
„Er ist tot, Sulpicia.“
„Das weiß ich, du Dummkopf. Aber selbst wenn man die Leichenblässe berücksichtigt, sieht er nicht aus wie jemand, der monatelang in Afrika war. Seine Haut ist nicht dunkler als deine oder meine.“
„Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst.“
„Ich frage mich, woran er gestorben ist. Da waren keine Verletzungen zu sehen. Du weißt nicht zufällig, wo er wohnt - gewohnt hat?“
„Doch, ich habe ihn gelegentlich in den Thermen getroffen, und wir besprachen das eine oder andere. Einmal bin ich auch bei ihm zu Besuch gewesen; er lebt im Haus seines Vaters auf dem Caelius, gar nicht weit von hier. Sulpicia, du willst nicht wieder herumschnüffeln, oder?“
„Nein, aber vielleicht sollte ich zu ihr gehen, immerhin ist Hostilius in unserem Haus gestorben. Ich fände es etwas... kaltschnäuzig, ihr nur den Libitinarius zu schicken.“
Der Vorhang des Arbeitszimmers fuhr zur Seite, und Callistus’ massige Gestalt stürmte herein, gefolgt von Musa.
„Ich sollte mich sofort melden, Herrin. Da bin ich.“
„Sehr gut. Du wirst mich zu Hostilius’ Haus begleiten. Seine Frau muss erfahren, dass sie Witwe ist.“
Sie nahm einen leichten Überwurf, den Musa ihr hinhielt, und schlug eine Falte davon über ihren Kopf, wie der Anstand es von denen verlangte, deren Leben der Tod berührt hatte. Dann verließ sie in Begleitung des muskulösen thrakischen Sklaven das Haus.

Ein Bote des Libitinarius hatte die schlechte Botschaft bereits überbracht. Hostilius’ Gattin Gratidia war um Haltung bemüht, aber blass. Sie empfing die junge Patrizierin im Arbeitszimmer ihres Mannes, auf einem geschnitzten Stuhl sitzend.
„Ich bin Sulpicia, die Frau des Senators Publius Lepidus“, begann Sulpicia. „Unsere Männer kannten sich.“ Sie setzte sich auf ein schmales Bänkchen aus Rosenholz und musterte die Frau, die ihr gegenübersaß. Gratidia war etwa zehn Jahre älter als sie selbst und wirkte spröde und streng, aber das lag womöglich an der Nachricht, die sie eben erhalten hatte.
„Es tut mir so leid, Gratidia. Ich bin gekommen, um dich abzuholen; ich denke, du willst deinen Mann Hostilius sehen.“ Sie stockte und suchte nach Worten. „Er - nun ja. Es sieht aus, als sei er in unserem Hausgarten gestorben.“
„Wie?“
„Ich weiß nicht. Ich habe keine Wunde gesehen. Wenn es etwas gibt, was ich für dich tun kann, dann lass es mich wissen; ich werde dir meine Hilfe nicht verweigern.“
„Ich danke dir, Sulpicia“, erwiderte die Witwe tonlos. „Entschuldige, wenn ich unhöflich bin - ich fühle mich wie der Opferstier, wenn ihn der Hammer des Flamen trifft.“
„Ich bitte dich, mach nur meinetwegen keinen Aufwand. Weißt du, weshalb dein Mann zu uns gekommen ist?“
Gratidia zögerte. „Nein“, sagte sie dann schließlich.
„Seit wann war er denn wieder in Rom? Publius dachte, er sei bei Postumius’ Heer in Afrika.“
Die hochgewachsene Frau blickte aus dem Fenster; ihre Finger kneteten eine Falte ihres Ãœberwurfs.
„Ich weiß es nicht.“
„Hat er dir nicht geschrieben, dass er aus Afrika zurückkehrt?“
Gratidia schloss die Augen, sichtlich um Fassung ringend.
„Ich habe erst gestern von ihm einen Brief erhalten, aus Afrika. Er schreibt darin nichts von seiner Rückkehr, im Gegenteil. Er schrieb belanglose Dinge über seinen Alltag beim Heer.“
„Hast du ihn über die Vorgänge in Rom auf dem laufenden gehalten?“
„Ja, aber es schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. Ich habe ihm geschrieben, dass der Tribun Mamilius die Verantwortlichen der Niederlage vor Gericht bringen will, aber er hat in seinen Briefen kein Wort darüber verloren - ich war verwundert und überrascht, weil ich wusste, wie sehr ihn diese Schande bedrückte.“ Sie blickte auf ihre Hände. „Vielleicht ist er gekommen, um die Prozesse zu sehen, um auszusagen, ich weiß es nicht. Er war einer der Soldaten, die Iugurtha unter dem Joch hindurchgeschickt hat.“ Ihre Stimme brach, und eine Träne rollte ihre Wange herab.
„Und ich hatte keine Ahnung -“
Sulpicia nahm ihre Hand und streichelte sie beruhigend. „Ich weiß, Gratidia. Oh, es tut mir so leid.“
Die Ältere entzog der jungen Patrizierin ihre Hand und stand auf. Als sie nebeneinander standen, bemerkte Sulpicia, dass Gratidia sie um eine Kopflänge überragte.
„Lass uns gehen, bitte“, sagte Gratidia. „Ich will es hinter mich bringen.“

Mit Schaudern vernahm Sulpicia vom Eingang des Peristyls aus, wie Gratidia den Namen ihres verstorbenen Mannes ausrief. Der Name des Toten hallte durch die unbewegte Luft des Atriums und verlor sich dann in den Geräuschen des Sommertages. Die Exclamatio sollte dreimal wiederholt werden, so verlangte es der Brauch. Sulpicia hörte sie zweimal; der dritte Ruf ertrank in einem hohen, gequälten Laut, der Sulpicia fast das Herz zerriss.
Der Tempelsklave, ein schlaksiger Bengel von vielleicht fünfzehn Jahren, trug ungerührt Hostilius’ Namen in eine Pergamentrolle ein, und damit war sein Tod amtlich. Sulpicia beobachtete, wie der Sklave den Tintenbehälter an seinem Gürtel wieder verschloss, die Tinte trockenblies und zuletzt das Pergament zusammenrollte.
„Callistus“, flüsterte sie, als der dürre Bursche mit der Sterbeliste aus dem Peristyl auftauchte, „nimm doch bitte den Tempelsklaven beiseite und frag ihn, woran Hostilius seiner Meinung nach gestorben ist.“
Der breitschultrige Sklave nickte und folgte dem Bürschchen mit der Pergamentrolle, das sich eben anschickte, in der Vorhalle zu verschwinden. „So kommst du mir nicht davon“, dröhnte er. „Los, ab in die Küche mit dir. Du siehst aus, als könntest du eine Stärkung vertragen.“
Hostilius’ Witwe kehrte aus dem Peristyl zurück, von lautlosem Schluchzen geschüttelt. Sulpicia eilte zu ihr, legte einen Arm um sie und führte sie zu einer Bank an der Langseite des Atriums, wo die beiden Frauen sich niederließen. Die Ältere straffte sich und wischte sich mit ein paar entschlossenen Bewegungen die Tränen fort. Dann nahm sie Sulpicias Hände und drückte sie fest.
„Du musst mir helfen“, bat sie. „Ich muss etwas erfahren, oder ich werde nie wieder ruhig schlafen können. Man sagt, du seist gut darin, Dinge herauszufinden.“
Sulpicia wich zurück, überrascht von der Heftigkeit der Älteren.
„Wenn ich etwas für dich tun kann...“
„Es heißt, mein Mann wäre schon vor einigen Wochen in der Stadt gesehen worden. Eine Freundin will ihn in einer verhangenen Sänfte gesehen haben, zusammen mit einer Frau. Einer jungen Frau. Ich habe ihr nicht geglaubt, weil ich jede Woche einen Brief von ihm bekam. Hat er mich getäuscht?“
Sie blickte Sulpicia flehend an. „Es kann nicht sein, oder? Beweisen seine Briefe nicht, dass er nicht in Rom gewesen sein kann?“
Die Sklaven des Bestatters zogen mit einer zugedeckten Bahre an den beiden Frauen vorüber. Der Priester sang leise eine kaum verständliche Rezitation, die die Totengeister vertreiben sollte, und streute schwarze Bohnen auf den Boden des Atriums. Das Tuch, das Hostilius’ Überreste bedeckte, verrutschte ein wenig und enthüllte einen bleichen Arm ohne jede Sonnenbräune.
Sulpicia seufzte tief. Dann traf sie eine Entscheidung.
„Ich verspreche dir, die Wahrheit herauszufinden“, sagte sie und streichelte Gratidias Hände. „Ja, ich verspreche es.“

Sulpicia trug ihr einfachstes Kleid und ausgetretenes Schuhwerk ohne den elfenbeinernen Halbmond, der ihre patrizische Abkunft verriet. In der Subura würde sie in Callistus’ Begleitung auffallen wie eine ägyptische Königin, und sie wollte Aufsehen vermeiden. Daher hatte sie die alte Musa und Crispinus bei sich; der flinke Sklave trug eine Geldbörse und einen Dolch unter seiner Tunika verborgen. Es war sehr heikel, einen bewaffneten Sklaven innerhalb der Stadtmauern bei sich zu haben, aber Sulpicia verließ sich auf ihre Beziehungen und Fortunas Beistand für den Fall, dass jemand auf die Idee kommen sollte, Crispinus zu durchsuchen. Natürlich durfte Publius von all dem nichts erfahren. Du lieber Himmel!
Die Straßen, die Gratidia ihr genannt hatte, waren ein unordentliches Wirrwarr von Garküchen, Buden und unendlich vielen Menschen, die in einem halben Dutzend Sprachen durcheinanderriefen. Ein Geruch billiger Fischsauce wehte heran, und Sulpicia verzog das Gesicht. Sie ignorierte die Angebote der Händler, die ihr Schmuck und Tücher unter die Nase hielten, und war froh, als Crispinus ihr mit ein paar Ellenbogenstößen Platz zum Atmen verschaffte. Schließlich entdeckte sie im Schatten eines Torbogens das Schild, das Gratidia ihr beschrieben hatte, eine Eule mit drei Sternen, so unauffällig, dass sie es fast übersehen hätte.
In dem winzigen Laden herrschte Halbdunkel. Von den Deckenbalken pendelten Kräuterbündel, die einen sinnenverwirrenden Duft verbreiteten, und in hohen Regalen entlang den Wänden waren zahllose fremdartige Ingredienzien versammelt, die allesamt dazu dienen sollten, das Schicksal den Wünschen des Auftraggebers geneigt zu machen. Ein Schatten löste sich von der Wand und strebte auf die kleine Gruppe zu, kaum dass Crispinus die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.
„Ich bin Eunike“, raunte der Schatten. „Was wünscht ihr?“
Eunike war jünger, als Sulpicia erwartet hatte, etwa in ihrem Alter. Ihre schrägen Augen und das prächtige schwarze Haar ließen sie wie das Urbild einer asiatischen Prophetin erscheinen. Callistus trat an Sulpicia heran und schob unauffällig eine Hand unter die Tunika.
„Meine Freunde und ich haben ein paar Fragen“, begann Sulpicia, „und brauchen deine Hilfe.“
„Ihr könnt offen sprechen, Herrin“, antwortete die Hexe und machte eine Geste, die den ganzen Laden einschloss. „Außer uns ist niemand da.“
„Deine Kundin Gratidia schickt uns wegen einer Beobachtung, die du gemacht hast.“
„Ich beobachte so allerhand, und meine Gäste beobachte ich besonders genau. Dein Freund braucht seinen Dolch hier nicht, Herrin; befiehl ihm, sich zu benehmen, wie es ihm gegenüber einer frei geborenen ausländischen Dame ziemt.“
„Warum, bei den Göttern, nennst du mich andauernd eine Herrin?“
„Du bist so sicher eine patrizische Dame wie ich eine kilikische Hexe bin“, lachte Eunike. „Deine Sklaven hier sind offenbar gewohnt, auf dich aufzupassen, und du kannst noch so freundlich reden, Herrin, die Herablassung in deiner Stimme und dein teures Duftwasser verraten dich.“
„Hm. Nun gut, eine Hellseherin kann man wohl nicht hinters Licht führen. Vielleicht hast du gehört, dass Caius Hostilius, der Gatte deiner Kundin Gratidia, gestorben ist.“
„Soll ich seinen Mörder finden?“ Sie schüttelte einen kleinen Lederbeutel, aus dem ein beißender Geruch drang.
„Beim Herkules, nein. Gratidia sagte, du hättest ihren Mann gesehen, wie er mit einer jungen Frau in einer Sänfte herumzog.“
„Schon möglich.“
Sulpicia stöhnte und nickte Crispinus zu, der aus der verborgenen Geldbörse einen Aureus hervorzauberte. Die Augen der Hexe weiteten sich.
„Spar dir das Feilschen, Eunike; nimm das und sprich. Sonst könnten die Ädilen vergessen, dich bei der nächsten Vertreibung der Quacksalber zu übersehen. Ich weiß sehr gut, dass ich viel zu großzügig bin.“
Die junge Frau ließ das Goldstück verschwinden, das Crispinus ihr zuwarf, und brachte ihren blass geschminkten Mund dicht an Sulpicias Ohr. Ihr Atem roch nach Zimt und griechischem Wein.
„Ja, ich habe sie gesehen“, flüsterte sie heiser, „in einer großen, von vier Sklaven getragenen Sänfte aus Ebenholz, mit roten Vorhängen. Ich habe ihn erkannt, auch wenn er jetzt einen Bart hat. Hostilius und ein ausländisches Weibsbild, eine Hexe wie ich eine bin.“ Sie grinste anzüglich. „O ja, sie weiß genau, welcher Pfeffer die Männer scharf macht. So verstohlen, wie Hostilius geschaut hat - und so schnell wie er den Vorhang wieder zugezogen hat -“
„Wo war das?“
„Ganz in der Nähe, Herrin, hier in der Subura, nur drei Querstraßen weiter.“

Das Abendessen fiel karg aus. Das lag nicht nur daran, dass Publius’ Frömmigkeit kein üppiges Mahl gestattete, nachdem ein Toter in seinem Garten herumgelegen hatte, sondern auch daran, dass Crispinus nicht da war, um das Essen zuzubereiten. Der kleine Sklave zog durch die Subura und suchte die Sänfte, die Eunike beschrieben hatte. Das konnte dauern, denn Crispinus würde sicher die Gelegenheit nutzen, um ein paar Tavernen abzuklappern. Musas Kochkünste waren begrenzt, und nun gab es gekochte Eier, Speltbrei, Brot und ein wenig Obst. Sulpicia war es recht; ihr Appetit hatte ohnehin gelitten. Publius aß schweigend mit gerunzelter Stirn, also beschloss Sulpicia, das Gespräch zu eröffnen.
„Kommt es dir nicht merkwürdig vor, dass er eine Tunika trug?“
„Na und? Nicht jeder Römer macht von seinem Recht Gebrauch, in einer Toga herumzulaufen“, entgegnete Publius. „Es ist eine Ehre, die Toga zu tragen, aber kein Vergnügen, sie anzulegen. Sehr umständlich. Viele verzichten heutzutage darauf.“
„Ja, vielleicht wenn man auf den Viehmarkt geht. Aber Hostilius wollte zu dir. Würdest du eine Tunika anziehen, wenn du einen anderen Senator besuchen willst?“
Publius überlegte. „Nein.“
„Und er ist vergiftet worden, bevor er zu uns kam“, fuhr Sulpicia fort. „Als ich ihn fand, war er schon ein paar Stunden tot. Das hat der Tempelsklave gesagt. Er muss dich also in aller Frühe aufgesucht haben, noch bevor deine Klienten sich versammeln, inoffiziell und so gekleidet, dass man ihn nicht als Senator erkannte. Warum war er nicht in Afrika? Und was wollte er von dir? Denk nach, Publius; als du ihn das letzte Mal gesehen hast, worüber habt ihr gesprochen?“
„Über seine bevorstehende Abreise nach Afrika. Was er bei der Armee zu tun haben würde. Solche Dinge.“
„Und was hatte er zu tun?“
„Sulpicia, ich bitte dich.“ Publius brach ein Stück Brot ab und tunkte es in die Fischsauce. „Das ist Monate her; ich weiß es nicht mehr genau.“ Er kaute nachdenklich. „Er war Messala beigeordnet, einem von Postumius’ Legaten. So eine Art Kontaktoffizier. Für diplomatische Verhandlungen.“
„Ein was?“
„Diplomatische -“
„Nein, vorher. Wie hast du diesen Offizier genannt?“
„Ein Kontaktoffizier.“
„Kontakt“, murmelte Sulpicia. Dann wurden ihre Augen groß. „Ausgerechnet heute. Natürlich.“ Sie ergriff Publius’ Ellenbogen. „Ich habe mich immer nur gefragt, was er hier wollte. Aber wer ihn geschickt hat, das habe ich mich nicht gefragt. Er war Messalas Beigeordneter...“
Publius stöhnte. „Sulpicia, ich hasse es, wenn du diesen leeren Blick bekommst. Ich...“
„Wie steht Messala zu Scaurus? Würde er ihm schaden, wenn er könnte?“
„Messala gehört zu Scaurus’ Gegnern, ja. Aber...“
Aus dem Atrium näherten sich eilige Schritte. Dann flog die Tür auf, und ein atemloser Crispinus erschien.
„Hab’ sie gefunden“, keuchte er. Sulpicia stand auf.
„Halt, wo willst du hin?“
„Entschuldige, mein Herz“, sagte die junge Frau und hauchte Publius im Vorbeihasten einen Kuss auf die Stirn, „ich bin gleich wieder da. Bevor es dunkel wird. Iss ruhig ohne mich zuende.“
Als der Senator seinen Mund wieder zuklappte, war das Echo von Sulpicias Schritten schon längst im Atrium verhallt.

„Sie wissen nicht genau, wer sie ist“, berichtete Crispinus, „aber sie halten sie für eine sehr edle Hetaira. Sie bekommt nur selten Besuch und verlässt das Haus fast nie.“
Er wies auf eine Tür im Erdgeschoss einer großen Mietskaserne. In den unteren Etagen pflegten die Bessergestellten zu leben; je höher man die Treppe hinaufstieg, desto übler wurden die Wohnungen und ihre Bewohner.
„In Ordnung“, sagte Sulpicia. „Lauf nach Hause und komm mit Callistus wieder zurück, schnell. Es ist eilig.“
„Herrin! Ich soll dich in der Subura allein lassen?“
„Mir wird schon nichts geschehen.“ Sulpicia hob den Ärmel ihrer Palla und entblößte einen langen, schmalen Dolch, den sie am Oberarm trug. „Und jetzt spute dich, los.“

Sulpicia zog sich die Palla über den Kopf und eilte zu der Tür, die Crispinus ihr gezeigt hatte. Wenn sie mit ihrer Vermutung Recht hatte, war Eile geboten. Sie klopfte, aber drinnen rührte sich einige Augenblicke lang nichts. Dann öffnete die Tür sich einen winzigen Spalt, und eine leise Stimme war zu hören: „Ja?“
„Nachrichten von Hostilius“, flüsterte Sulpicia zurück. „Ich bin Sulpicia, die Gattin des Senators Lepidus.“
Die Tür schloss sich, und die Patrizierin hörte, wie ein schwerer Riegel zurückgezogen wurde. Dann öffnete die Tür sich wieder, und Sulpicia war bereits hindurchgeschlüpft, bevor die Frau auf der anderen Seite sie hereinbitten konnte.
Als ihre Augen sich an das Halbdunkel im Inneren des Hauses gewöhnt hatten, musterte sie ihr Gegenüber. Wie sie erwartet hatte, besaß die junge Frau das dunkle Haar und den bräunlichen Teint der Afrikaner. Sie trug fremdartige, verschlungene Tätowierungen im Gesicht und an den Unterarmen.
„Hostilius ist tot“, begann Sulpicia ohne Umschweife, kaum dass die Tür hinter ihr geschlossen war. Die junge Frau verzog keine Miene, aber selbst im Dämmerlicht sah Sulpicia, dass alle Farbe aus ihrem Gesicht wich.
„Wie?“
„Vergiftet. Und ich bin mir sicher, dass du in großer Gefahr bist. Hostilius hatte keine Gelegenheit mehr, mit uns zu reden, aber ich weiß, dass Messala ihn mit einem geheimen Auftrag betraut hat und dass er schon einige Zeit in Rom ist - ich nehme an, er ist mit dir zusammen gekommen. Aber wer bist du?“
Die Stimme der jungen Afrikanerin klang leise und kultiviert. „Ich sollte dir misstrauen, Römerin. Aber nun ist ohnehin alles verloren. Hostilius sollte mich zum Senat bringen, und dein Mann sollte ihm helfen. Ich bin Kofhu, eine von Iugurthas Töchtern.“
„Eine... oh! Gute Göttin! Was hast du in Rom zu tun? Warum versteckst du dich?“
„Was ich hier will?“ Sie zog den Überwurf eng um sich zusammen, obwohl es nicht kalt war. „Ich wollte mit meiner Aussage vor den römischen Senatoren mein Volk vor einem Krieg bewahren. Aber ich glaube, ich habe versagt.“
„Was wollte Hostilius von meinem Mann? Hast du ihn geschickt?“
„Ich habe Beweise, dass mein Vater sich mit Scaurus und einigen römischen Adligen verbündet hat, um seine Rivalen zu stürzen und König zu werden. Und zwar schon vor fünfzehn Jahren, als der alte König Micipsa noch lebte und mein Vater die Staatsgeschäfte führte, weil Micipsas Söhne zu jung waren. Wunderst du dich nicht über Roms Schwäche gegen Iugurtha, Römerin? Während die einen versuchen, seinen Thronraub beim römischen Volk und dem Senat zu beschönigen, führen die anderen Armeen in Schlachten, deren Ergebnis verabredet ist. Mein Vater hat sie alle gekauft. Hostilius hatte einen Teil der Dokumente, die das beweisen, bei sich. Briefe, Vereinbarungen.“
„Doch sicher nicht alle? Oh, ich verstehe; keine Angst, ich will nicht wissen, wo du deine Beweise aufbewahrst.“ Sulpicia stellte sich den Tumult vor, wenn herauskäme, dass Postumius die Armee mit voller Absicht in einen aussichtslosen Kampf geführt hatte. Es würde einen Aufstand geben wie seit den Tagen der Gracchen nicht mehr. „Um der Götter willen! Und du verrätst deinen Vater?“
Die junge Afrikanerin richtete sich auf. Ihre Augen blitzten, und die Kälte in ihrer Stimme jagte Sulpicia einen Schauder über den Rücken.
„Ich verrate niemand“, zischte sie. „Adherbal war milde und weise wie sein Vater. Iugurtha verkauft unser Land an Rom und trägt einen furchtbaren Krieg in die Städte meiner Leute. Sie sterben für seine Macht, Römerin, und er opfert sie seinem Ruhm, als sei er ein Gott. Deine Leute haben ihn dazu überredet. Ich will, dass die Schuldigen bestraft werden!“
Sulpicia verstand. Dieses naive Kind bildete sich ein, dass ihre Aussage und ein paar Bögen Pergament ausreichen würden, um den ersten Mann im Senat zu Fall zu bringen. Niemand hatte ihr gesagt, dass Scaurus so nicht beizukommen war. Dem Heerführer Postumius, ja; aber Scaurus hatte keine Armee befehligt, sondern nach römischer Art Diplomatie betrieben. Er würde sich herausreden, auch nach römischer Art. Und ganz sicher würde er diese Aussage verhindern, wenn er konnte.
„Scaurus weiß, dass du hier bist? Er wird dich niemals am Leben lassen! Er ist heute zum Vorsitzenden der Untersuchungskommission gewählt worden, die diese Vorgänge untersuchen soll.“
„Dann ist alles zu spät“, stöhnte die Afrikanerin. „Auch das Haus deines Mannes kann mich nicht mehr schützen. Scaurus und Bestia sind schon viel zu weit gegangen. Wenn ich mit dir käme, würden sie euch alle umbringen lassen, noch heute nacht. Ihr kommt nur davon, wenn sie mich nicht bei euch finden.“
Aus den rückwärtigen Zimmern war ein Schaben zu hören, dann ein Geräusch wie von einem zerberstenden Krug. Sulpicia fuhr zusammen.
„Du hast die Tür verriegelt, aber die Läden offengelassen?“
Kofhu erbleichte und taumelte; sie schien einer Ohnmacht nahe. Sulpicia verlor keine Zeit, sondern nahm den Arm der Afrikanerin und schob sie zur Tür. Noch bevor die junge Frau wusste, wie ihr geschah, stand sie mitten im Gewimmel der Subura. Es begann bereits zu dämmern.
„Um der Götter willen, lauf“, zischte Sulpicia.
In wenigen Augenblicken waren die beiden Frauen in der Menge untergetaucht. Das Herz schien in Sulpicias Brust zerspringen zu wollen. Sie wagte nicht, sich umzudrehen und nach den Verfolgern zu sehen, nur weiter, weiter!
Rechts und links blieben Stände und Buden hinter ihnen zurück. Plötzlich ging ein scharfer Ruck durch ihren Arm, und Kofhus Hand entglitt ihr. Sulpicia fuhr herum und sprang in die Höhe, um die junge Frau in der Menge wiederzufinden, aber vergebens. Frustriert stöhnte sie auf.
Da entdeckte sie das Gesicht der Afrikanerin in der Menge, und der Blick, den Kofhu ihr zuwarf, war verloren, voller Trauer und Einsamkeit. Sie verschwand hinter einer Hausecke, und es hatte nicht den geringsten Zweck, ihr nachzulaufen.

Am Clivus Cispius kamen ihr Callistus und Crispinus entgegengerannt. Sulpicia war noch nie so froh gewesen, ihre Sklaven wiederzusehen. Sie trugen Fackeln, da die Sonne mittlerweile jenseits des Tibers hinter dem Horizont verschwunden war. Gemeinsam eilten sie nach Hause.
Als Sulpicia ihrem Mann mit wenigen knappen Sätzen erzählt hatte, was sie wusste, sagte Publius kein Wort. Blass, aber sehr ruhig gab er Callistus und Crispinus ein paar knappe Anweisungen, und die Sklaven eilten davon.
Zehn Minuten später stand der Senator Publius Aemilius Lepidus in seiner besten Toga im Atrium seines Stadthauses, das von zahlreichen Fackeln erhellt wurde. Crispinus eilte aus dem Hausgarten herein und schüttelte den Kopf. Callistus schloss die Tür hinter ihm und verriegelte sie.
„Zu spät“, sagte der kleine Sklave. „Ich komme nicht mehr hinaus; vier stehen auf der Straße vor dem Haus, und zwei an der Gartenpforte.“
„In Ordnung“, sagte Publius und nickte Callistus zu. Der große Thraker brachte Schwert und Schild, die seit Domitius’ Feldzug gegen die Allobroger in einer Truhe gelegen hatten, und übergab sie dem Hausherrn. Sich selbst bewaffnete er mit einem Knüppel, der so dick war wie Sulpicias Arm. Die junge Patrizierin fröstelte; sie stellte sich neben ihren Mann und tastete nach dem Dolch in ihrem Ärmel. Selbst Diphilos, der Türhüter, der so alt war, dass er vor Korinth gegen Mummius gekämpft hatte, stellte sich dazu, unbewaffnet, aber übellauniger denn je, und so erwartete die kleine Hausgemeinschaft ihr Schicksal.

Die Tür zerbarst. Splitter und Holzstücke flogen durch die Vorhalle, und ein Dutzend Bewaffnete stürmte in den Raum. Sie blieben stehen, als sie Callistus, Crispinus und Publius sahen, die in ihrer kümmerlichen Bewaffnung am Eingang des Atriums standen, hinter ihnen Sulpicia und Diphilos, deren Gesichter nichts Gutes verhießen.
Hinter ihnen kam Scaurus, in eine Toga mit breitem Senatorenstreifen gekleidet, in Begleitung von vier Liktoren mit Rutenbündeln und Beilen.
„Lasst das“, befahl er, und die Männer ließen ihre Schwerter sinken. Der Senator musterte das feindliche Aufgebot.
„Sehr beeindruckend, Lepidus“, meinte er dann. „Hätte ich dir nicht zugetraut. Vielleicht steckt doch mehr in dir, als ich dachte.“ Er gab seinen Männern einen Wink, und sie drängten sich an Publius vorbei ins Haus und begannen Türen, Truhen und Schränke aufzureißen.
„Du wagst es, mit Bewaffneten und Liktoren in mein Haus einzubrechen und meine Laren zu beleidigen?“ brüllte Publius. „Du bist kein Prätor und kein Ädil, du hast keinerlei Amtsgewalt! Wer gibt dir Liktoren mit? Wer gibt dir das Recht,...“
Scaurus hob ein Pergament. „Der Senat und das Volk von Rom, wer denn sonst? Und die Liktoren habe ich vom Prätor Aquilius ausgeliehen.“ Er trat näher, bis er kurz vor Publius stand, und hielt ihm das Pergament unter die Nase. „Ich suche Staatsverbrecher in deinem Haus. Pass auf, dass du nicht morgen selbst einer bist. Wir leben in unruhigen Zeiten, wie du weißt.“
Sulpicia trat vor. „Ich beschuldige dich, den Senator Caius Hostilius ermordet zu haben.“
Scaurus schwieg verdutzt. Dann lachte er herzlich und drehte sich zu den Liktoren um. „Habt ihr nicht gehört? Wollt ihr mich nicht festnehmen?“ Die Liktoren grinsten, und er wandte sich wieder Sulpicia zu und wurde so ernst, dass Sulpicia zu spüren glaubte, wie es merklich kühler im Raum wurde.
„Treib es nicht zu weit, Herrin. Ich respektiere deinen Mut, aber halt dich aus Angelegenheiten des Staates heraus. Hätte Hostilius das getan, wäre er noch am Leben.“
Die Bewaffneten kehrten zurück. Ihr Anführer schüttelte den Kopf.
„Schön“, meinte Scaurus und klopfte Publius auf die Schulter. „Es hätte mir Leid getan, morgen im Senat von deinem Ableben zu hören, Lepidus. Wo ist sie also?“
„Das wirst du nicht erfahren.“
„Ich habe sie in der Subura verloren“, rief Sulpicia. „Wir sind zusammen geflohen, und sie hat sich losgerissen. Ich habe keine Ahnung, wo sie ist.“
Scaurus betrachtete die junge Patrizierin prüfend. Endlich, nach einigen endlos langen Momenten, rang er sich zu einer Entscheidung durch.
„Ich lasse euer Haus beobachten“, sagte er dann. „Wenn sie hier auftaucht, hofft auf die Gnade der Götter, nicht auf meine.“
Er drehte sich auf dem Absatz um und wehte im Gefolge seiner Liktoren und Schergen hinaus, und wenige Momente später war der Spuk vorbei.

Publius begann die Gerichtsferien ein paar Tage früher. Bovillae hatte wie immer eine ausgesprochen beruhigende Wirkung auf sein Gemüt, und Sulpicia erging es diesmal nicht anders. Gratidia war nach der Bestattung ihres Mannes zu ihrer Familie nach Fidenae aufgebrochen, nicht ohne sich bei Sulpicia für ihre Hilfe zu bedanken und sie ihrer Freundschaft zu versichern. Sulpicia hatte ihr einen Brief geschrieben, aber keine Antwort erhalten.
Bei einem Gastmahl, das sie für ein paar Freunde veranstaltete, die aus Rom zu Besuch gekommen waren, erfuhr sie, dass eine Tochter Iugurthas in Rom eingetroffen war. Sie hatte Scaurus ein tadelloses Leumundszeugnis erteilt und dann um Zuflucht in Rom gebeten, da ihr eigener Vater sie umbringen lassen wollte. Nun lebte sie als Scaurus’ Klientin unter seinem Schutz in seinem Landhaus bei Aricia, ganz in der Nähe.
Nun, immerhin lebte sie. Um den Legaten Messala trauerte seine Familie; bei der Überfahrt von Nordafrika nach Ostia war er bei stürmischer See über Bord gegangen.
„Stürmische See“, brummte Publius, als er am Abend mit Sulpicia im Garten saß und zusah, wie die Ausgäter mit ihren Harken vom Feld zurückkehrten. „Nicht zu fassen.“ Er wies auf die Feldarbeiter. „Wenn man die einmal durch den Senat jagen könnte, um das Unkraut auszurupfen, würde es vielleicht wieder mehr Spaß machen, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern.“
„Vielleicht“, meinte Sulpicia zweifelnd. „Aber mit wem würdest du dich dann im Senat unterhalten?“
Publius schwieg einen Moment, dann drehte er den Kopf sah sie an.
„Wenn du so etwas sagst, Sulpicia, weiß ich nie, ob du mich veralbern willst.“
Sulpicia seufzte und betrachtete den Sonnenuntergang. Die Sonne würde morgen wieder aufgehen, ohne sich darum zu scheren, auf wen sie scheinen würde. Sie fröstelte.
„Lass uns hineingehen, Publius“, sagte sie. „Du musst mich wärmen.“
„Ich werde sehen, was ich für dich tun kann“, sagte Publius und begleitete sie ins Haus.


(c) Frank Hoese 2003

Die Geschichte spielt im Jahr 109 v.Chr., drei Jahre vor der Sulpicia-Geschichte, die im Januar auf der Homepage erschienen ist. Rom ist noch eine Republik, und Caesar wird erst in neun Jahren geboren. Publius ist achtunddreißig, Sulpicia Mitte Zwanzig.
Seit einigen Jahren ist die römische Politik in Auseinandersetzungen um die Thronfolge des von Rom abhängigen numidischen Reiches verwickelt. Einige der führenden Mitglieder der herrschenden Oberschicht haben sich in dieser Angelegenheit zutiefst kompromittiert, und natürlich versuchen andere Gruppen, die ebenfalls zur Macht drängen, davon zu profitieren. Ein überaus günstiger Nährboden für Intrigen und Meuchelmord.
Jugurtha, Scaurus, Bestia, der Konsul Metellus und die Skandale um den jugurthinischen Krieg sind historisch; Sulpicia, Lepidus und der Mord an Hostilius sind ebenso frei erfunden wie Jugurthas tapfere Tochter Kofhu, die bei ihrem verzweifelten Versuch starb, einen furchtbaren Krieg von ihrem Volk abzuwenden.


Ädilen: Röm. Beamte, von der Volksversammlung für die Dauer eines Jahres gewählt; zu ihren Aufgaben gehörten die Polizeiaufsicht über Straßen, Tempel und Märkte, die Getreideversorgung, die Ausrichtung der öffentl. Spiele, die Bewachung der Staatskasse sowie die Bauaufsicht.

Atrium: Hauptraum des römischen Hauses, häufig mit Säulengang und Wasserbecken (Impluvium) oder zentraler Öffnung im Dach (Compluvium).

Aureus: röm. Goldmünze. Der Aureus war 25 Denare wert (1 Denar: 4 Sesterzen oder 10 As); ein Liter guter Wein kostete zwischen 1,3 und 3 Sesterzen - Sulpicia bezahlt Eunike also ungefähr den Gegenwert von 33 Litern gutem Wein. Das ist fast der Monatslohn eines Tagelöhners.

Flamen: Hoher römischer Priester.

Hetaira: Gebildete Kurtisane, die sich eine Zeitlang von einem einzigen Liebhaber aushalten ließ und dann zu einem anderen wechselte. Die besser gestellten Hetären verfügten in der Regel über eine hohe Bildung in Musik, Literatur, Philosophie u. ä., sie spielten in der höheren Gesellschaft oft eine hervorragende Rolle.

Ianitor: Türsklave, Pförtner.

kilikisch: Aus Kilikien (südl. Mittelmeerküste der heutigen Türkei)

Laren: Schutzgötter des Hauses und der Familie.

Libitina: Göttin, in deren Tempel Zubehör und Geräte für Bestattungsfeierlichkeiten aufbewahrt und Sterbefälle aufgezeichnet wurden.

Libitinarius: Bestatter.

Liktor: Amtsdiener der höheren Magistrate, übte Ordnungs- und Polizeifunktionen aus und führte Festnahmen und Hinrichtungen durch. Rutenbündel und Beil waren Amtsinsignien.

Palla: Ein weites, langes Obergewand.

Peristyl: rechteckiger, von allen Seiten mit Säulen umgebener Hausgarten innerhalb eines Gebäudekomplexes.

Subura: dicht bevölkertes Armeleuteviertel zwischen den Hügeln Roms; hier wohnte ein guter Teil von dem, was man „Gassenproletariat“ zu nennen pflegte.

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