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Februar 2003
Die Staatsanwältin
von Silvia Both


Claudia Seidel fasste sich an die Stirn, hinter der es schmerzhaft pochte.
Ihr Wecker klingelte. Auch das noch.
Sie beschloss weiterzuschlafen und ihr Büro eine Stunde später heimzusuchen. In ihrer Position als Staatsanwältin und Gruppenleiterin konnte sie sich das leisten.
Doch jetzt piepste ihr Handy, immer wieder Mozarts TĂĽrkischer Marsch. TĂĽdelĂĽdelĂĽ ...TĂĽdelĂĽdelĂĽ ...Zum VerrĂĽcktwerden.
Wo war das Handy ...??? Endlich fand sie es im Wohnzimmer auf der Couch.
„Ja?“
„Hallo, hier Margret.“ Ihre Sekretärin. „Habe ich dich geweckt?“
„Mmh. Wasisdenn?“
Margrets ausgeschlafene Stimme dröhnte in Claudias Ohr:
„Es tut mir ja furchtbar leid, aber du wirst dringend von der Mordkommision gesucht. Fund einer männlichen Leiche in der Nähe der Autobahn.“
Verdammt, sie hatte ihr wohlverdientes freies Wochenende.
„Was ist mit dem Bereitschaftsdienst los?“
„Fällt aus. Peter hat sich vor einer Stunde krank gemeldet. Uwe ist im Urlaub und Patricia liegt noch im Krankenhaus. Du bist die einzige, die ich erreichen kann.“
Claudia war jetzt hellwach. Vor Ă„rger.
„Wenn Peter krank ist, fress´ ich den berüchtigten Besen. Peter ist doch gestern noch vor unserem allgemeinen Aufbruch aus Rosis Eckkneipe mit der neuen Rechtspflegerin abgezogen. Krank, ha!“
„Wo du dich immer herumtreibst.“ Typisch Margret.
Als Peter, der einzige halbwegs passable männliche Kollege, gestern mit der Konkurrenz verschwand, war sie endgültig versackt. Aber das brauchte Margret nicht unbedingt zu wissen. „Wo, sagtest du, liegt die Leiche?“lenkte sie ab.
„Hinter dem Autobahnrastplatz. Du kannst es gar nicht verfehlen. Die Polizei dürfte mittlerweile alles abgesperrt haben.“
Claudia gähnte: „Und wenn es doch nur ein simpler Selbstmord war, fahre ich ganz umsonst raus.“
Ihre Sekretärin widersprach: „Also erstens hat er Schusswunden, aber es wurde keine Waffe gefunden. Und zweitens ist er nackt.“
Claudia schaute durch ihr Wohnzimmerfenster auf das AuĂźenthermometer. Minus zehn Grad. Nicht sehr angenehm fĂĽr Nudisten.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, zog sie sich so warm wie möglich an. In ihrem roten VW Polo, der zum Glück auch ansprang, machte sie sich auf den Weg.
Margret hatte recht. Das waldige Gelände hinter dem Rastplatz wurde von mehreren Scheinwerfern grell erleuchtet. Am Absperrband zeigte sie ihren Ausweis und wurde vom frierenden Wachtmeister durchgelassen. Weiter vorne lag der Körper unter einem Baum im Schnee.
Ein Mann erhob sich, gab ihr die Hand. „Hallo Claudia. Schau dir das mal an.“
Claudia freute sich, dass Klaus die Ermittlungen leitete.
Als sie entdeckte, worauf er zeigte, gab sie ein überraschtes „Nein“ von sich. Das am Boden liegende Opfer war nicht nur eindeutig tot, sondern auch – ob vor oder nach dem Mord, das musste der Pathologe klären – entmannt worden.
„Und wo ist das ... fehlende Teil?“ wandte sie sich an Klaus.
Der zuckte mit den Schultern. „Wir suchen noch“, sagte er und wies auf seine Leute, die das Gelände durchkämmten.
„Es gibt keine Tatwaffe?“ erinnerte sich Claudia.
„Noch nicht. Aber ein Projektil, das den Oberkörper durchschossen hat, haben wir schon sichergestellt. Die anderen beiden stecken noch im Körper, vermutlich im Herz. Der Mann ist aus nächster Nähe von vorn erschossen worden und vermutlich hier auch zusammengebrochen. Kleidung fehlt. Kramer schätzt, dass der Tod vor sieben bis acht Stunden eintrat. Kurz nach Mitternacht. Die Leiche ist stocksteif, aber das kann auch an der Kälte liegen.
„Wer hat ihn gefunden?“
„Ein Autofahrer, der hier seinen Hund kurz rausließ.“
Claudia schätzte die Entfernung zur Raststätte auf höchstens fünfzig Meter.
„Hat jemand was gehört?“
„Nein. Vermutlich hat der Täter Schalldämpfer benutzt.
Claudia betrachtete das Opfer, was ihr – im Gegensatz zu einigen Kollegen - keine Schwierigkeiten bereitete. Ihre nüchterne Einstellung dem Tod wie dem Leben gegenüber verdankte sie ihrer Herkunft von einem Bauernhof. Sie sah die Einschusslöcher, das verzerrte Gesicht. Der Penis war sauber abgeschnitten worden, vielleicht mit einem sehr scharfen Messer. Kaum Blut.
Noch einmal das Gesicht von verschiedenen Seiten. Es erschien ihr vage bekannt.
„Du, Klaus, ich glaube, ich hab´ den schon mal gesehen.“
Klaus Interesse war geweckt. „Wo denn, im Gerichtssaal, in der Stammkneipe,
in deinem Bett ...?“ Claudia versetzte ihm einen Stoß. Klaus kannte sie auch schon zu gut. „Ärger´ mich nicht, sonst sag´ ich nichts mehr.“ Klaus hakte sie unter, was bei zwei dicken Daunenjacken etwas mühsam war. „Entschuldige, ich hoffe, es fällt dir wieder ein.“ Claudia versprach ihn anzurufen. Klaus wollte sie auf dem Laufenden halten.
Halb neun. Es wurde langsam hell. Sie fuhr zu ihrem BĂĽro. FĂĽr diese Strapaze musste Peter bĂĽĂźen. Am Schreibtisch zermarterte sie sich ihren mĂĽden Kopf. Wo hatte sie den Mann schon einmal gesehen? Beruflich, nicht privat, dessen war sie sich sicher. Margret stellte ihr starken Kaffee hin. Um die Zeit zu nutzen, leitete sie schon mal das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein. Margret reichte ihr einen neuen roten Ordner.
Auf dem Weg zur Kantine fiel ihr der Name plötzlich ein.
Sofort machte sie kehrt und rief Klaus Dienststelle an. Er war auch gleich am Apparat.
„Klaus, Pjotr Kuljakow!“
„Wie bitte?“
„Der Tote. So hieß der Tote.“
Klaus war begeistert. „Erzähl.“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich um Pjotr Kuljakow handelt. Vor vier Jahren hatte ich ein Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen vermuteten Kindesmissbrauchs. Er hat alles abgestritten. Es ging um seine Töchter, Zwillinge, dreizehn Jahre alt. Anna und Elena Kuljakow. Sie waren völlig verängstigt, sprachen kaum deutsch. Eine Nachbarin hat ihn angezeigt, weil sie den Verdacht hatte. Aber ich musste das Verfahren einstellen, es gab keine Beweise. Seine Frau gab ihm lückenlose Alibis.“ Klaus ließ sich den Namen buchstabieren.
„Tausend Dank, Claudia. Ich setze meine Leute sofort dran. Bis bald.“
Claudia suchte die Akten des Kuljakow-Falles heraus und faxte die wichtigsten Seiten ins Polizeipräsidium. Vor ihrem inneren Auge flackerten zwei bleiche, schmale Kindergesichter auf. Zwei magere Mädchen in Röcken und Blusen. Sogar Kniestrümpfe hatten sie getragen, vermutlich von der Mutter gestrickt. Die Zwillinge, die sie nur anhand der Kleidung auseinanderhalten konnte, hatten hier mit ihrer Mutter und einer Dolmetscherin in ihrem Büro gesessen. Sie war sehr behutsam in ihren Fragen gewesen, hatte aber nichts herausbekommen. „Njet, ich weiß nicht ...“ Hilflose Blicke zur Mutter.
Was war aus den beiden geworden?
Erst am Montag hörte sie wieder von Klaus. Gerade nachdem sie Peter die nächsten beiden Bereitschaftswochenenden aufgedrückt hatte, kam sein Anruf.
„Es gibt Neuigkeiten von der Pathologie. Das Opfer, bei dem es sich tatsächlich um Pjotr Kuljakow handelt, ist erst nach seinem Tod ausgezogen und seiner Männlichkeit beraubt worden. Es gab keinen Kampf.“
„Habt ihr die Kleidung gefunden?“
„Nein. Der Mörder hat alles mitgenommen. Es gibt einige Abdrücke von Gummistiefeln. Gängiges Modell, Größe 43. Weiter nichts.“
„Wie hat seine Frau reagiert?“
„Ratlos aber gefasst. Unsere Psychologin ist extra mitgekommen, war aber nicht nötig. Hör mal, kannst du mir einen Gefallen tun und zur Befragung der Töchter mitkommen? Du kennst sie doch ein bisschen, sie haben dich schon einmal gesehen. Es geht mir darum, Vertrauen zu schaffen.“
Claudia sagte zu. Wenig später stand sie vor dem Fünfziger-Jahre-Siedlungshaus in schmutzigem Grau. Komisch, dass sie das noch nicht renoviert hatten. Im Treppenhaus blätterte der Putz von den Wänden. Kuljakow, eine verschnörkelte Schrift auf dem Türschild. Sie musste dreimal klingeln, bis sich die Tür einen Spalt öffnete. „Ich bin Claudia Seidel, die Staatsanwältin. Der Kollege Prank hat mich doch hoffentlich angemeldet?“ Die überarbeitet aussehende Frau mit der hellblonden Dauerwelle ließ sie schweigend eintreten und zeigte auf das Wohnzimmer am Ende des Flures. Auf einer Kunstledercouch saßen nebeneinander aufgereiht die beiden Mädchen, erschreckend mager, bleich, nicht auseinanderzuhalten. Nur vier Jahre älter und immer noch mehr praktisch als modisch gekleidet. Sie blickten kaum auf. „Hübsch haben Sie es hier“, versuchte Claudia ein Gespräch zu beginnen, doch die drei Frauen nickten nur. Erleichtert hörte sie Klaus Klingeln. Nach der gegenseitigen Vorstellung kam er auch gleich zur Sache.
„Frau Kuljakow, sie haben Ihren Mann ja schon anhand der Fotos und freundlicherweise auch in der Pathologie identifiziert. Ihr Mann ist ermordet worden. Ich möchte Ihnen jetzt einige Fragen stellen, die Sie nicht beantworten müssen. Sie würden uns aber sehr weiterhelfen.“ Die drei berieten sich leise auf Russisch, dann nickte die Mutter: „Fragen Sie.“
„Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?“
Die Antwort kam sofort. „Vor drei Monaten. Er trank. Viel Wodka. Und dann schlug er. Ich habe ihn rausgeschmissen.“ Ein Seitenblick zu ihren Töchtern. „Das hätte ich schon viel viel früher tun müssen.“
„Und er ist einfach gegangen, ohne Ihnen Schwierigkeiten zu machen?“
„Ich habe gedroht, ich gehe zur Polizei. Ich zeige ihn an für seine Geschäfte mit Zigaretten. Er hat immer Zigaretten geschmuggelt mit seine Freunde, andere Russen.“
„Haben Sie danach noch mal etwas von ihm gehört?“
„Njet. Nein. Und ich bin nicht traurig. Er war böser Mensch. Nicht in Russland, aber hier. Böse Freunde.“
„Wo waren Sie gestern nacht?“
Alle drei schauten ihn an. Plötzlich lag eine Spannung in der Luft.
„Ich war im Bett. Morgens früh um sieben bin ich aufgestanden, wollte zur Arbeit, da Sie haben mich angerufen.“
„Und Sie beide?“
„Ich war im Kino mit meiner Schwester. Im Spätfilm. Um halb zwei kamen wir nach Hause und sind gleich ins Bett gegangen“, antwortete Anna. Elena nickte und zog zwei Eintrittskarten aus ihrer Hosentasche. „Hier, ich bewahre alle Kinokarten auf.“
Klaus nahm sie an sich. „Wir werden das überprüfen. Vielen Dank.“
Auf dem Weg zum Präsidium murmelte Klaus vom Beifahrersitz: „Nicht sehr gesprächig, die Damen. Ist dir irgendetwas aufgefallen, was uns weiterbringen könnte?“
„Ich würde die „bösen“ Freunde des Opfers überprüfen“, schlug Claudia vor.
Klaus nickte. „Mit der Schmuggelei gibt es ständig Ärger. Zu viele Köche, weißt du, da bleibt der eine oder andere schon mal auf der Strecke.“
Am übernächsten Tag rief Klaus schon früh an. „Wir sind weitergekommen. Ich habe noch mal mit Frau Kuljakow gesprochen und mir die beiden Russen genauer beschreiben lassen. Den einen, Sergej, habe ich im Computer gefunden, nur ist der Vogel ausgeflogen. Die Nachbarn haben ihn seit Wochen nicht gesehen. Aber sein Foto haben wir. Jetzt läuft die Fandung erst mal inoffiziell an.“ „Kann ich das Foto sehen?“ „Ich faxe es dir rüber.“ Gleich darauf schaute sie sich das Gesicht an, 3 mm-Haarschnitt, eng beieinanderliegende Augen, Boxernase. „Genauso habe ich mir als Kind immer einen Verbrecher vorgestellt.“ „Nun ja, die wirklichen Schufte sitzen in irgendwelchen Aufsichtsräten, scheffeln Millionen in die eigene Tasche und sehen so frischrasiert und harmlos wie ein Kinderpopo aus. Ach, übrigens, die Kinogeschichte der Zwillinge stimmt. Sie waren drin. Die Kasse erinnert sich an die beiden.“ „Welcher Film lief denn?“ „Thelma und Louise.“ Claudia legte nachdenklich den Hörer auf. Guter Film. Zwei Frauen. Eine wehrt sich gegen einen Vergewaltiger, der stirbt. Sie fliehen vor der Polizei. Und Brad Pitt kommt auch vor. Ziellos lief sie durch ihr Büro. Drei Tage später gab es wieder Neuigkeiten von Klaus. „Wir haben Sergej geschnappt. In Cottbus. Sein Lastwagen war voller Zigaretten. Ich habe ihn sofort angefordert.“ „Wann kommt er?“ „Er ist schon da. Ich habe gerade Verhörpause, mein Kollege macht weiter.“ „Und?“ „Den Mord hat er abgestritten. Aber jetzt halt dich fest. Die Schuhgröße stimmt genau, 43. Und im Lastwagen sind Blutspuren. Dieselbe Blutgruppe 0 wie das Opfer.“ „Habt ihr eigentlich den Penis gefunden?“ „Nein. Den hat er wohl als Andenken mitgenommen.“ „Also, die Verdachtsmomente reichen aus, um Anklage zu erheben. Dann streng dich mal an, Klaus.“
Die Verhöre ergaben kein Geständnis. Der Verdächtige schwieg. Klaus fand aber heraus, dass Sergej und ein weiterer Osteuropäer am Vortag des Mordes in der Raststätte zu Mittag gegessen hatten.
In der Verhandlung plädierte Claudia auf vorsätzlichen Mord. Vermutlich, um den Konkurrenten auszuschalten. Die Entmannung deutete sie als Zeichen besonderer Brutalität. Im Zuschauerraum erblickte sie die Zwillinge. Ihre Blässe wirkte fast durchscheinend. Sie flüsterten häufig miteinander. Als der Richter sein Urteil verkündet hatte, zehn Jahre aufgrund der Indizien und der zahlreichen Vorstrafen, lächelten sie.
Zur Feier des abgeschlossenen Falles gingen Claudia und Klaus gemĂĽtlich essen. Danach wĂĽnschten sie sich weiterhin gute Zusammenarbeit und gingen nach Hause, jeder fĂĽr sich. Claudia schloss zufrieden ihre WohnungstĂĽr auf.
Der Anruf kam überraschend. Im Hintergrund Geräusche, eine Lautsprecherstimme. „Ich bin es, Anna.“ Claudia fragte nach dem Grund des Anrufs. „Ich muss es Ihnen sagen. Ich muss einfach, fragen Sie nicht warum. Sergej war nicht der Täter.“ Claudia fasste sich an die Stirn und setzte sich. Sie hätte es wissen müssen. Anna und Elena. Thelma und Louise. Sie hatten das Kino gleich wieder verlassen. „Ich habe zuerst auf ihn geschossen. Zweimal. Danach Elena. Er brach zusammen. Wir zogen ihn aus.“ Schweigen. „Es war eine Bestrafung?“ „Ich habe das Küchenmesser benutzt.“ „Warum sagen Sie es mir?“ Keine Antwort. „Wo sind Sie?“ „Sie werden uns nicht finden. Leben Sie wohl. Sie sind gut.“ Claudia hörte wieder die Lautsprecherstimme. Es klang russisch. „Leben Sie wohl.“ Dann legte Anna auf.


Silvia Both

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