Honigfalter
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Februar 2003
Wieder ins Wasser zurück
von Bernd Pol


Beim ersten Kind war es noch Routine. Das blieb der Lokalredaktion überlassen.
Beim zweiten Kind gab es schon etwas mehr Aufregung und einen Bericht in der Regionalabteilung.
Beim dritten Kind wurde der Chef nervös und ließ mich zu sich kommen.
„Sie wissen, worum es geht?“
„Ich habe mich kundig gemacht, Chef, so gut es geht. Drei Kinder innerhalb einer Woche. Alles Neugeborene. Alle in derselben Mülltonne gefunden. Alle drei tot.“
„Schrecklich, so was!“
„Ja, Chef! Die armen Kinder.“
„Wie? Ja, natürlich, die auch. Aber dass ich jetzt keinen Experten mehr frei habe – der Jakuweit ist in Chile, die Rössner steckt irgendwo im Bayrischen und jagt ihrer Entführung nach, bleiben nur Sie, Worrant, und Sie wissen, was ich von Ihnen halte.“
„Ja, Chef. Ist mir bewusst, Chef.“
„Ich hoffe das für Sie. Zum Wochenende will ich einen brauchbaren Bericht von Ihnen. Und dass er mir diesmal besser wird als der vom Anzeiger! Mit Ruhm haben Sie sich bislang ja noch nicht bekleckert. Ich weiß gar nicht, warum ich es überhaupt noch mal probiere mit Ihnen. Gehen Sie! Und zeigen Sie dem Anzeiger mal, was eine Harke ist.“
„Ja, Chef! Ich tu mein Möglichstes, Chef. Und danke auch, Chef!“
„Ja, schon gut – was stehen Sie eigentlich hier immer noch rum?“
- - - - -
Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt. Kriminalgeschichten, Kindsmord – wenn es denn wirklich Mord war, bis jetzt hat man ja noch nichts Konkretes erfahren. Ich hasse Recherchen unter Zeitdruck! Als ob ich nicht auch so schon genug um die Ohren hätte. Und Kriminal ist mir ein Grauen. Ich weiß ja gar nicht, wo ich anfangen soll.
Jetzt werde ich schon wieder zu spät nach Hause kommen. Dann ist Alexia schon wieder weg. Nie komme ich zu einer Aussprache. Dabei ist das Mädchen gerade mal sechzehn. Und ich habe keine Ahnung, wo sie in der letzten Zeit immer steckt.
Was soll ich machen? Ihre Mutter treibt sich wer-weiß-wo rum und ich habe keinen geregelten Arbeitstag. Es ist schon mehr als einmal vorgekommen, dass ich spät nachts nach Hause kam und keine Tochter war da. Ich weiß nicht, was sie treibt, wo oder mit wem. Graue Haare könnte man kriegen davon.
Und jetzt auch noch tote Kinder. Ich kann das nicht! Es wächst mir über den Kopf. Warum lässt mich nur keiner über Kakteen berichten? Mit denen kenne ich mich aus. Oder mit Springmäusen. Oder Bilderauktionen. Alles, nur kein Kriminal. Kriminal konnte ich noch nie.
- - - - -
Die Pressekonferenz war unergiebig. Sie wissen nichts bei der Polizei oder geben vor, nichts zu wissen. Immerhin, wenigstens eines war neu: Alle drei Kinder wurden ertränkt. Aber warum man sie in der Mülltonne gefunden hat und dazu immer wieder auf demselben Gelände, das konnte mir keiner sagen.
Eine Mülltonne auf dem Parkplatz bei der Haarburg. Das hilft auch nicht viel. Der Parkplatz bei der Haarburg, da kommen eh nur Touristen hin, die sich die Ruine ansehen wollen, weiß der Himmel, warum. Nachts treffen sich dort nur die Ratten und anderes Geschmeiß.
Es hilft nichts. Ich muss da mal raus. Fünfzig Kilometer hin und zurück für nichts.
Den Fotoapparat darf ich nicht wieder vergessen.
- - - - -
Der Parkplatz ist die reinste Müllhalde. Ich habe einen ganzen Film mit Abfall gefüllt. Was soll ich jetzt damit anfangen? Mit der Kindergeschichte bin ich auch nicht weitergekommen. Nicht den geringsten Hinweis habe ich gefunden.
Ich habe den Platzwächter gefragt. Das kam ganz zufällig, als ich in einem Berg von Prospekten gestochert hatte, die irgendwer neben die Mülltonne gekippt hatte. Da hatte er mich von hinten angesprochen.
„Gehören Sie auch dazu?“ Eine ziemlich durchdringende, laute Stimme, gerade das Richtige für einen Platzwächter. „Da kommen Sie für diesen Monat aber zu spät.“ Und, als ich mich erschreckt herumdrehe: „Die Aquaner waren vorletzte Woche schon hier. Bei Vollmond. Drei Nächte lang.“
„Aquaner?“ Den Namen muss ich schon mal irgendwo gehört haben. Oder gelesen. Im Augenblick kann ich nichts damit verbinden. Man liest zu viel in diesem Beruf.
„Ja. Sie kommen jeden Monat. Seit über einem Jahr. Immer drei Tage bei Vollmond. Da tanzen sie oben um den alten Brunnen.“
„Den Brunnen? Welchen Brunnen denn?“ Sehr interessiert bin ich nicht. Der Kerl stiehlt mir nur meine Zeit. Aber vielleicht lässt sich das später ja mal für was anderes auswerten.
„Sie wissen das nicht? Nur deswegen kommen die Leute doch von überall her auf die Haarburg.“
„Wegen dem Brunnen?“ Ich muss gestehen, dass ich mich da nicht kundig gemacht habe. Ob ich das hätte tun sollen? Drei Nächte bei Vollmond? Das mit den Kindern war wohl um diese Zeit. Aber das wird wohl kaum miteinander zu tun haben.
Ich frage. Von den Kinderleichen weiß er nichts. Die hat sein Kollege gefunden. Er wirkt genervt, möchte lieber sein Brunnenwissen an den Mann bringen.
„Was wollen Sie noch? Der Presse hab ich vorgestern schon alles erzählt.“ Er zieht mich ein Stück zur Seite. „Da, hinter der Mauer! Da können Sie das Brunnenhaus sehen.“
Ich tu ihm den Gefallen und betrachte das Brunnenhaus. Für mich sieht es aus wie ein alter Steinhaufen.
„Das ist der tiefste Burgbrunnen Deutschlands“, erklärt er in professionellem Ton, „Man muss einen sehr langen Schacht hinunter steigen um zum Wasser zu kommen.“
„Klingt anstrengend. Wozu?“
Er senkt bedeutsam die Stimme: „Heiliges Wasser fließt seit Urzeiten dort unten.“
„Ach so!“, sage ich höflich. „Deshalb die Aquaner?“
„Das Wasser ist wichtig. Für sie. Für die gesamte Menschheit.“ Er hält mich an der Schulter fest und deutet zu dem Steinhaufen hoch. „Man kann eine Treppe dort hinunter gehen. Sie ist uralt. Wie eine Wendeltreppe. Direkt in den Fels gehauen. Unten kommt man ans Wasser.“
„Aha!“ Er hat einen Griff wie ein Schraubstock. Ich komme nicht frei.
„Lebendiges, heiliges Wasser, direkt im Schoße der Erde! Es hat die Kraft, die Menschheit neu zu erschaffen.“ Die Stimme wird geradezu beängstigend geheimnisvoll. „Die Eingeweihten tauchen dort unter. Drei Tage lang um Mitternacht bei Vollmond.“
„Deshalb sind es ja wohl die Aquaner.“ Unangenehm, wie der sich aufdrängt. Aber es gelingt mir, mich loszureißen. „Wenn ich noch mal was wegen der Mülltonne fragen könnte?“
Kann ich aber nicht. Er hat nichts mehr zu sagen. Statt dessen wühlt er einen noch nicht ganz vergammelten Aquanerprospekt aus dem Haufen und drückt ihn mir in die Hand: „Kommen Sie nächsten Monat doch mal vorbei. Bei Vollmond. Das dürfte die Zeitung doch auch interessieren.“
Ob er auch zu diesen Leuten gehört? Ich habe vergessen zu fragen. Vermuten könnte man es.
- - - - -
„Seit wann interessierst du dich für Aquaner?“ Die Tochter steht neben mir im Arbeitszimmer und wedelt mit dem Prospekt. Ich habe sie gar nicht bemerkt. „Oder was soll das?“
Sie klatscht mir das Papier auf die Schreibtischplatte. „Spionier doch anderen nach!“
Ehe ich überhaupt aus meinem Brüten über die toten Kinder auftauche, fällt die Wohnungstür ins Schloss.
Diese Aquaner gehen mich anscheinend doch etwas an.
Ich müsste da mal jemanden fragen.
- - - - -
Mal wieder Pressekonferenz. Die Kinder seien alle auffällig klein gewesen, heißt es. Sehr auffällig klein. Außerdem lägen bei allen Missbildungen vor. Genaues könne man aber noch nicht sagen. Es wird auf den Obduktionsbericht verwiesen, morgen vielleicht.
Ich habe Dinstler getroffen, der mal bei uns war und seit kurzem beim Anzeiger arbeitet. Eigentlich dürfte ich gar nicht mit ihm reden, wenn es nach dem Chef ginge, aber er weiß über Sekten Bescheid.
Die Aquaner, ja, die kenne er. Ein paar Spinner, über die ganze Welt verteilt – sie glauben, dass der Mensch wieder ins Wasser zurückkehren müsse. Eine Offenbarung stecke dahinter, die ein verkrachter Biologe aus Berlin vor ein paar Jahren gehabt haben will. Danach drohe bald eine neue Sintflut. Seitdem treffen sie sich auf der ganzen Welt an magischen Quellen und versuchen zu zaubern.
Deswegen die Haarburg. Jeden Vollmond tanzten sie da drei Tage lang, ja, sicher, das stehe in ihrer Offenbarung. Ein bisschen versponnen, wie gesagt, eine Mischung zwischen Magie und Biologie, aber sonst wohl eher harmlos.
„Ach übrigens“, sagt er so nebenbei im Auseinandergehen, „deine Tochter soll dort gesehen worden sein, das letzte Mal, beim Tanzen auf der Haarburg. Sie soll ziemlich aktiv gewesen sein.“
Woher er das hat, will er nicht sagen.
Jetzt habe ich einen Grund mehr, auf der Haarburg zu suchen.
- - - - -
Ich kann meine Bilder nicht finden. Die vom Haarburger Parkplatzmüll. Sie müssten zu Hause in der obersten Schreibtischschublade liegen. Dort liegen die Bilder immer. Jetzt muss ich noch mal in den Betrieb, neue Abzüge machen lassen.
Oder vielleicht geht es ja auch von hier, vom Computer aus. Sie speichern sie seit neustem ja digital ab. Vielleicht komme ich übers Internet dran. Spare ich mir einen Weg.
„Alexia?“ Sie ist nicht da. Ich muss in ihr Zimmer, sie hat den Computer dort mit Beschlag belegt. Tag und Nacht sitzt sie mittlerweile davor. Falls sie überhaupt mal zu Hause ist. Sonst schließt sie seit neuestem immer sorgfältig ab.
Hilft nichts. Ich brauche die Bilder. Sie braucht ja nichts davon zu merken. Einen Zweitschlüssel habe ich im Schrank, seit ewigen Zeiten schon. Für den Fall, dass mal etwas passiert.
Ein seltsames Gefühl ist das, wenn man bei sich selbst zu Hause einbricht. Irgendwie beunruhigend. Aber bis morgen muss ich den Artikel schreiben. Und ich habe noch gar nichts auf der Hand, außer den Bildern.
Das Dumme ist nur, ich komme an den Rechner nicht dran. Sie hat den Zugang mit einem Passwort gesperrt. Ich bin da als Benutzer gar nicht mehr vorgesehen. Was jetzt? Ich kann eigentlich nur mal auf gutes Glück suchen. Vielleicht finde ich hier in dem Wust aus Papier und ihren Schlabbersachen, die sie immer trägt weil sie halt doch ein bisschen dick ist, einen Hinweis.
Auf dem Schreibtisch ist nichts. Schulkram, verrotteter. Sie hat schlechte Noten in letzter Zeit, das wusste ich gar nicht. Da muss ich wohl doch mal ein Wörtchen mit ihr reden.
Unter dem Bett werde ich fündig. Nicht das, was ich gesucht habe. Aber einen Aquanerprospekt. Und eine Notiz am Rand: 30.7., Brunnen, 18:30 – s. Aquarius. Als ich mich danach bücke, liegt ganz hinten im Staub auch noch ein Bild: ein Mülltonnenbild, eines der Bilder von mir.
Das wirkt fast wie ein Schock. Was vergreift sie sich an meinen Bildern? Was geht meine Mülltonne sie an?
„Wart‘s nur ab, meine Tochter! Diesmal ziehe ich andere Saiten auf.“
Dann sehe ich, dass da etwas eingekreist ist, ein Gegenstand ganz in der Ecke hinten rechts, hinter der Tonne. Er ist schwer zu erkennen. Ich brauche die Lupe. Aber dann ...
Dann sind zwei Sachen nötig.
Ich muss wissen wer oder was Aquarius ist.
Und ich muss schleunigst zur Haarburg hinauf. Der 30.7., das ist heute. Bis 18 Uhr 30 ist nicht mehr lang.
- - - - -
„Alexia!“
Sind sind Sie schon einmal eine Wendeltreppe hinunter gerannt, so eine ganz enge, unbekannte, in den Fels geschlagene, feuchte, ausgetretene Stufen, mit nichts als einer schwachen Taschenlampe, die jeden Augenblick ausgehen könnte?
„Alexia!!“
Jetzt schreit sie nicht mehr. Ich komme zu spät!
Was geschieht dort unten?
„Alexia!!!“
Ich hatte es natürlich erwartet – die Tüte lag längst nicht mehr auf dem Parkplatz, hinten in der Ecke an der Mülltonne, diese Tüte, die sie eingekreist hatte auf dem Bild: eine unscheinbare Einkaufstüte aus Plastik, ein Kinderhändchen, kaum erkennbar, nur ein paar Fingerchen oben am Rand, ich habe mehrmals mit der Lupe forschen müssen, bis es mir deutlich geworden war …
„Alexia ...“
Ich falle mehr hinunter, als ich laufe. Wenigstens hat die Treppe ein Geländer. Einhundert Meter oder was-weiß-ich immer linker Hand die Tiefe hinunter. Wie weit noch?
„Alexia?“
Jemand kommt mir entgegen. Ich kann den Lichtschein sehen. Eine, zwei Windungen noch. Ein, zwei, drei Sätze. Jetzt nur nicht fallen! Nicht im letzten Augenblick.
„Alexia! Was ist …?“
Da kauert sie vor mir. Gerade eine halbe Windung gegenüber. Gespenstisch, in diesem Licht. Ihre Lampe liegt auf der Treppe knapp über ihr. Der rechte Arm hängt durch das Geländer.
Sie hat das Messer noch. Und auf dem Schoß die Plastiktasche.
„Alexia?“
Sie schaut mich nicht einmal an.
„Er wollte sie mir nicht wiedergeben.“ sagt sie. Dann fällt das Messer über den Rand tief bis ins Wasser hinunter.
- - - - -
Dinstler hat uns herausgeschafft. Dinstler und die Polizei.
Ich hatte ihn zur Burg gebeten, dringend, als er mir erklärt hatte, am Telefon, wie sich das verhält mit Aquarius: Er ist der Führer der Sekte, dieser spinnerte Biologe, als Parkwächter getarnt, der Aufpasser am Brunnenhaus.
Er hatte in einem alten Forsthaus gehaust, ganz einsam, mitten im Wald. Dort fanden sie im Keller ein mit modernsten Geräten ausgestattetes Genlabor. Er hatte sein halbes Institut von seiner Mission überzeugt: Menschen klonen, Menschen verändern, zu einer Art Delphinen wollte er sie machen, Gott-gleich wieder erschaffen, bevor die Welt unterginge in einer neuen Sintflut.
Jungfrauen mussten die ersten Versuche austragen. Meine arme, dicke Alexia war eine von ihnen. Eine neue Gottesgeburt sollte es werden. Sie war missglückt.
Sie hatten die Kinder dem Wasser wiedergegeben, damals im Vollmond, drei Nächte lang umtanzt. Aber das Wasser wollte sie nicht behalten.
So blieb ihnen nur der Container dort unten am Parkplatz.
- - - - -
Sie haben Alexia in die Nervenklinik gebracht. Unten im Brunnen hatte man Aquarius gefunden – erstochen. Es ist nicht sicher, ob man sie vor Gericht stellen wird. Sie spricht nicht mehr.
Und ich kann keine Presseberichte mehr schreiben. Vor allem nie wieder Kriminal.
Vielleicht finde ich ja eine Stelle in einem Blatt für Hobbybotaniker oder so. Kakteen, ja, da kenne ich mich aus oder Springmäuse oder, wenn es denn sein muss, auch Bilderauktionen …

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