Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten
In diesem Buch präsentiert sich die erfahrene Dortmunder Autorinnengruppe Undpunkt mit kleinen gemeinen und bitterbösen Geschichten.
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Februar 2003
Ein kleiner Verrat
von Birgit Erwin


Heute Morgen kam wieder ein Brief. Ein junger Leser beschwor mich, der Öffentlichkeit weitere Abenteuer meines berühmten Freundes zugänglich zu machen. Er war nicht er erste, der diese Bitte äußerte, aber ich dachte, die Stimmen würden mit der Zeit verstummen. Auch darin habe ich mich geirrt. Neben dem Brief liegt mein Taschenkalender mit dem roten Kreuz über dem heutigen Tag. Heute wäre er 90 Jahre alt geworden. Ich habe zu lange geschwiegen, und ich habe mir eingeredet, dass ich seinetwegen geschwiegen habe. Ich glaube, es wird Zeit, reinen Tisch zu machen. Ob damals ein Verbrechen begangen wurde? Urteilen Sie selbst, wenn ich Ihnen meine letzte Geschichte erzähle.

In dem Winter, in dem sich die folgenden Ereignisse zutrugen, teilten Holmes und ich noch unser Junggesellendasein in der Baker Street, aber wenn ich heute an diese letzten Wochen zurückdenke, glaube ich, dass das Ende bereits abzusehen war. Wir sprachen nie über diese Möglichkeit. Eine unerklärliche Scheu hielt mich zurück, vor Holmes von Mary zu sprechen, und auch er erwähnte ihren Namen nie.
Es war ein seltsamer Abend. Holmes spielte Geige, ein nervöses Andante von Mozart, während ich dem Regen zusah, der in dichten Fäden vor der Scheibe niederrauschte. Die Zeitung hatte ich längst beiseite gelegt. Es schien, als ob wir beide auf etwas warteten. Dann trat Mrs. Hudson ein. Sie öffnete den Mund, aber ehe sie sprechen konnte, sagte Holmes: „Führen Sie die junge Dame herein.“ Er nahm die Geige vom Kinn und legte sie ohne Eile in ihren schwarzen Kasten.
„Es waren die Schritte“, erklärte er, obwohl er meinen überraschten Blick nicht hatte sehen können, da er mir den Rücken zukehrte. „Sie ist jung, Mitte zwanzig und modern gekleidet.“
Ich wartete, aber Holmes schien nicht in der Stimmung für eine weitere Kostprobe seines unglaublichen Intellekts. Ich fragte mich, ob seine ungewöhnliche Schweigsamkeit etwas mit dem heutigen Datum zu tun hatte, doch dann wurde meine Aufmerksamkeit von unserem Gast abgelenkt.
Die Frau war tatsächlich jung, und sie war extrem hübsch. Auf Holmes machte das keinen Eindruck. Ich will damit nicht sagen, dass er es nicht bemerkte, es änderte nur nichts an seinem Benehmen.
„Bitte nehmen Sie Platz, Miss…“ Er deutete auf einen Stuhl. Die junge Dame breitete mit Anmut ihre Röcke aus und ließ sich niedersinken.
„Brown“, sagte sie mit einem herzzerreißenden kleinen Lächeln. „Mrs. Louisa Brown. Mr. Holmes, Sie müssen mir helfen. Sie sind meine letzte Hoffnung.“
Sogar mir war bewusst, dass es sich um einen falschen Namen handeln musste, aber sie hatte so reizende Grübchen, dass ich nicht verstehen konnte, wie Holmes sie so unbeteiligt, ja kühl mustern konnte. Er legte die Hände vor der Nasenspitze zusammen, und sein Blick war stechend.
„Nun, Mrs. Brown, wie können wir Ihnen behilflich sein?“
Das entzückende Geschöpf zupfte ihr Taschentuch aus dem Ärmel und tupfte sich über die Augen.
„Mein Mann ist verschwunden. Ich… fürchte, er ist schlechte Gesellschaft geraten.“
Sie senkte die Augen und errötete sanft.
„Und in welche Gesellschaft ist er geraten?“ fragt Holmes. Ich habe nie die Meinung vertreten, dass mein Freund ein Frauenfeind ist, aber diese Bemerkung fand ich entschieden unzart. Sie beugte sich tief über den rosenfarbenen Pompadour, der ihr am Handgelenk baumelte, und streckte Holmes dann ein viereckiges Päcken mit weißem Pulver entgegen.
„Ich glaube… ich habe gedacht“, stammelte sie hilflos. Dann hob sie ihre veilchenblauen Augen, in denen Tränen schwammen. „Ich glaube, es sind Drogen“, flüsterte sie.
Ich zuckte heftig zusammen und warf Holmes einen Blick zu. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber ich wusste, dass er sich sein „geistiges Stimulans“, wie er es nannte, bereits seit Wochen wieder spritzte. Wir sprachen damals schon lange nicht mehr über seine Kokainabhängigkeit, die er ohnehin leugnete. Mary gegenüber hatte ich sie nie erwähnt, aber plötzlich fragte ich mich, ob sie vielleicht doch von Holmes Schwäche wusste. Seine Hand war ruhig, als er das Päckchen auf den Schreibtisch legte.
„Und wo haben Sie das gefunden, Mrs. Brown?“
„In seinem Schreibtisch. Es waren auch Briefe dabei. Briefe von einer Frau…“
Als sie zögerte, hob mein Freund eine fragende Augenbraue.
„Ich habe sie verbrannt“, gestand Mrs. Brown mit blitzenden Augen. „Ich konnte es nicht ertragen. Mein Mann… wir haben uns doch einmal geliebt. Ich konnte nicht… ich…“
„Natürlich“, sagte Holmes, und blickte sie über seine tintenfleckigen Fingerspitzen hinweg an. „Gibt es sonst noch etwas, was Sie uns sagen können, Mrs. Brown?“
Sie schüttelte das gesenkte Köpfchen, aber ich konnte einen seltsamen Glanz, fast wie Verärgerung in den Tiefen ihrer Augen erkennen. Sie erhob sich abrupt.
„Werden Sie sich bei mir melden? Bitte?“
„Natürlich, Mrs. Brown“, sagte Holmes und überließ es mir, die Dame aus dem Zimmer zu begleiten.

Als ich zurückkehrte, wandte er mir wieder den Rücken zu. Das ominöse Päckchen lag aufgeschlitzt auf dem Schreibtisch. Ich streifte den Inhalt mit einem unbehaglichen Blick. Der Regen hatte sich in Eisregen verwandelt, der gegen die Scheibe prasselte, während London sich in weiches Dämmerblau kleidete. Das Schweigen zog sich in die Länge.
„Mycroft muss mich für einen Trottel halten“, sagte Holmes endlich ohne erkennbaren Ärger.
„Mycroft?“ wiederholte ich. „Wie kommst du auf Mycroft?“
Holmes drehte sich um. Sein Gesicht blieb im Schatten, und als ich die Hand nach der Lampe ausstreckte, machte er eine abwehrende Geste.
„Ich kenne das Rasierwasser meines geschätzten Bruders. Er hat es mehr als reichlich hinterlassen… auf dem Mehl.“
„Mehl?“ wiederholte ich verständnislos.
Holmes machte eine wegwerfende Handbewegung und starrte mich an. Unter seinem durchdringenden Blick wurde mir unbehaglich. Etwas schien zwischen uns im Raum zu stehen. Holmes brach den Bann als erster.
„Nun, Watson, was sagst du zu dem Fall des Ehemanns, der in der schlechte Gesellschaft geraten ist?“
Er war ruhig und bei aller Ruhe seltsam gereizt. Ich hatte ihn nie so erlebt, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.
„Ihr Name ist offensichtlich falsch – ich meine, wer heißt schon Brown - aber das kann man ja auch verstehen. Immerhin hat ihr Mann sie sitzen gelassen und das wegen einer andern Frau.“
„Hast du darauf geachtet, ob die Dame einen Ehering trug, mein lieber Watson?“, erkundigte sich Holmes, während er nach der Zeitung griff und sie mit mehr als flüchtigem Interesse durchblätterte. Sein Benehmen störte mich nicht wirklich. Wir waren zu alte Freunde, um auf Etikette zu pochen. Ich schüttelte den Kopf.
„Wenn sie keinen trug, und davon gehe ich nach deiner Frage aus, dann gibt es dafür viele Gründe.“
„Natürlich gibt es die“, stimmte Holmes zu. „Interessant ist nur, dass sie nie einen getragen hat. Sie hatte den gebräunten Teint einer Dame, die gerade aus Indien zurückgekehrt ist. Ein Ring hätte einen weißen Streifen an ihrem Finger hinterlassen müssen. Und was den Rest der Geschichte angeht, mein lieber Watson, solltest gerade du nicht wissen, wie echte Angst um einen geliebten Menschen klingt?“
Ich dachte an Mary und fühlte, wie ich rot wurde. Holmes schien es nicht zu bemerken. Sein Blick war gespannt auf den Gesellschaftsteil der Times gerichtet. Ohne den Kopf zu heben, setzte er hinzu: „Alles in allem, mein lieber Watson, haben wir es mit einer schlechten Schauspielerin zu tun, und ich frage mich, was Mycroft zu dieser Schmierenkomödie veranlasst hat.“
„Und es ist wirklich Mehl?“, fragte ich und deutete auf das Päckchen.
„Vertrau meinem Urteil in diesem speziellen Fall“, lächelte er. Wieder wurde ich rot, und wieder wurde ich ignoriert, nachdem die Spitze getroffen hatte.
„Eine schlechte Schauspielerin bringt mir Mehl und behauptet, es seien Drogen. Warum?“
„Ein Giftanschlag der Bäckerinnung“, platzte ich lachend heraus.
Holmes sah mich durchdringend an. Ich senkte den Blick, und er fuhr fort: „Du hast in gewisser Weise natürlich recht, Watson, Mycroft will mir eine Botschaft zukommen lassen, oder auch eine Warnung. Nur glaube ich nicht, dass es mit - Backwaren zu tun hat.“ Sein Blick war noch immer auf die Zeitung gerichtet, als er aufstand. „Ich würde vorschlagen, wir gehen zum Diogenes Club. Dort werden wir des Rätsels Lösung finden.“
Da war er wieder, der alte Holmes: Ganz Konzentration, ganz Energie. Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen. Im Vorbeigehen streifte mein Blick die aufgeschlagene Seite der Times: „Erzbischof im Liebes…“
Kopfschüttelnd dachte ich, dass die Times mehr und mehr zum Schmutzblatt verkam.

Draußen wurden gerade die Gaslaternen entzündet. Ich sah zu, wie der alte Mann zusammengekrümmt gegen den harten Regen seinen langen Stab balancierte, an dessen geschütztem Ende das Flämmchen wie ein Elmsfeuer tanzte. Wir schwiegen, während unsere Droschke durch die leergefegten Straßen rumpelte. Die Kälte drang durch unsere Mäntel, und ich sah Holmes frösteln. In der milchigen Abendbeleuchtung schien er mir noch magerer als sonst. Die Haut spannte sich dünn über seine Wagenknochen, und zum ersten Mal bemerkte ich, dass seine Schläfen weiß waren. Ich erschrak, gleichzeitig erinnerte ich mich an Marys Worte, die mir seit unserem letzten Streit ständig in den Ohren hallten. „Du kannst nicht ewig sein Kindermädchen spielen, Johnny. Du hast Besseres verdient als der Schatten dieses Egomanen zu sein.“
Holmes Augen schienen im Regen etwas zu suchen.
„Es geht dir doch gut, Holmes?“
„Natürlich, Watson, natürlich.“ Sein Gesicht war kreidebleich – ich fragte mich, wie viel von seinem „Stimulans“ er wirklich konsumierte.
„Denkst du manchmal an die Zukunft, Watson?“
Diese Frage traf mich vollkommen unerwartet.
„Ja, natürlich. Manchmal.“
Er lehnte den Kopf gegen das Polster und blickte mich an. „Ich nicht. Warum auch? Dein Fall liegt natürlich anders. Wie geht es der reizenden Miss Simmons. Mary, nicht wahr?“
„Gut. Sehr gut… ja…“
„Weißt du eigentlich, dass heute…“ Er brach ab und starrte wieder in den Regen, aus dem jetzt die Lichter des Diogenes Clubs auftauchten.

Es war schon spät, aber Holmes machte sich keine Sorgen, abgewiesen zu werden. Das waren Bedenken geringerer Sterblicher. Ich habe bis heute nicht verstanden, wie das Verhältnis zwischen ihm und seinem Bruder wirklich geartet war, aber es faszinierte mich, wie ähnlich sie sich trotz aller Unterschiede sahen, als sie sich in dem konservativ eingerichteten Clubraum gegenüberstanden. Das Licht einer einzelnen Kerze fiel schräg auf Mycrofts fülliges Gesicht und malte die gleichen Schatten darauf, die – was? – in Holmes Züge gegraben hatte.
„Du siehst schlecht aus“, sagte Mycroft unverblümt. „.Kann es sein dass du alt wirst?“
Holmes tat, als habe er den brüderlichen Anwurf nicht gehört. Er blickte stirnrunzelnd in die Kerzenflamme, dann auf das Gesicht seines Bruders.
„Was macht die hohe Politik?“
Mycroft lächelte unschuldig und nahm ein Glas Portwein von dem Tablett auf der Anrichte. „Lauter dumme kleine, peinliche Vorfälle. Nichts, was mit der Faszination von Mord und Totschlag konkurrieren könnte. Dein Metier, lieber Bruder.“
„Warum hast du mir heute das Mehl geschickt? Und bevor du leugnest: Dein Rasierwasser ist so abscheulich wie unverkennbar.“
Mycroft zog eine Augenbraue hoch. „Vielleicht wollte ich die verehrte Mrs. Hudson auffordern, dir wieder einmal einen Kuchen zu backen, Sherlock.“
Holmes starrte Mycroft mit verengten Augen an. „Ich kenne dich, Mycroft, du bist machthungrig und… lassen wir das. Du würdest dich niemals mit Nebensächlichkeiten abgeben. Also, warum wolltest du, dass ich komme?“
„Nenn es Sehnsucht. Im Alter werden wir alle etwas sentimental.“
„Sehr amüsant, Mycroft“, sagte Holmes kühl. „Du entschuldigst, wenn ich dich deiner Kontemplation über die Zeit überlasse, ich habe mit der meinen besseres anzufangen. Kommst du, Watson.“

„Das war ja nun nicht sehr… Holmes, warum lächelst du so? Wir haben nichts erfahren. Oder etwa doch?“
„Letzteres, lieber Watson, oder etwa doch. Es haben sich alle meine Vermutungen bestätigt.“
Wir saßen wieder in der Baker Street. Aus Holmes Pfeife kräuselte sich bläulicher Rauch, und zum ersten Mal seit langer Zeit sah ich ihn vollkommen gelöst und zufrieden mit sich und der Welt. Es war mir vollkommen unmöglich, still sitzen zu bleiben.
„Ist dir etwas aufgefallen im Diogenes Club?“, fragte Holmes.
„Äh… nein?“
„Ach, Watson“, lächelte Holmes. „Du bist... rührend. Hast du wenigstens die Zeitung gelesen?“
„Du meinst den Artikel über den Erzbischof im Liebesnest?“
Mein Freund klatschte leicht in die Hände. „Bravo, mein lieber Watson. Genau den meine ich. Und du weißt natürlich, dass der Erzbischof ein enger Freund des Kronprinzen ist. Und auch, wie unsere verehrte Königin zu derlei Eskapaden steht. Watson, hier geht es um Macht, Moral… und Erpressung. Um die hohe Politik eben, mit der sich der Diogenes Club befasst.“
„Und das alles schließt du daraus, dass Mycroft... nichts gesagt hat?“
„Watson, Watson, hältst du mich für einen derartigen Dilettanten? Natürlich nicht. Aber ist dir die Kerze nicht aufgefallen? Eine einzelne Kerze, obwohl der Raum durch den Kronleuchter hell erleuchtet war.“
„Ein weiteres Zeichen also?“ Ich wollte tatsächlich etwas ironisch klingen. Mary hatte recht: Manchmal konnte einem Holmes Überlegenheit wirklich auf die Nerven gehen. Er lächelte nur und griff in die Tasche wie in Zauberkünstler am Covent Garden.
„Du hast die Kerze mitgehen lassen?“, fragte ich entgeistert.
„Ich hatte das Gefühl, dass Mycroft sie für mich aufgestellt hatte. Und ich hatte Recht.“
„Wie immer“, hörte ich Marys Stimme in meinem Hinterkopf.
Er hielt mir den dicken weißen Wachsstumpf hin. Ich schluckte. In der Unterseite sah ich die dunklen Umrisse eines Schlüssels.
„Und ich nehme an, du weißt auch, zu welcher Türe dieser Schlüssel gehört.“
„Es ist eine Kerze, wie man sie auf dem Hochaltar von Kirchen findet.“
„Es gibt einige Kirchen her in London. Einige Hundert“, sagte ich schwach.
Holmes warf mir einen seltsamen Blick zu. „Mycroft hat viel über alte Zeiten gesprochen. Ich denke, ich weiß, welche Kirche er für unser geheimes Treffen ausgewählt hat.“
„Ein geheimes Treffen… Holmes…“ Ich schwitzte plötzlich trotz der eisigen Nachtluft. „Du erwartest wirklich, den Erzbischof zu sehen?“
Mein Freund warf mir einen überraschten Blick zu. „Den Erzbischof? Aber nicht doch. Die Frau. Hast du es nicht gerochen?“
„Was denn?“
„Den feinen Hauch von Parfum im Clubraum. Und der Club ist für Frauen verboten.“

„Diese Kirche“, sagte Holmes mit leiser Stimme und blickte abwesend in den sinkenden Abend, „es ist eigentlich keine Kirche mehr. Sie ist vor langer Zeit geschlossen worden. Heute steht sie leer. Sie birgt nur noch… Erinnerungen.“
Er schwieg. Mit diesen wenigen Worten hatte Holmes mehr über seine Kindheit erzählt hatte als je zuvor. Ich hoffte, er würde weitersprechen, aber er tat es nicht, und so blieb es mir überlassen die verwinkelte Kirche, die vor uns aus dem Nebel auftauchte, mit den Augen zweier intelligenter, phantasiebegabter Jungen zu betrachten. Ob er in diesem Augenblick daran dachte, welcher Tag heute war? In seinen Augen konnte ich nicht lesen, aber als er aus der Kutsche sprang, geschah es mit jugendlichem Elan. Ich folgte zögernd. Rechts und links von uns standen Kreuze wie schweigende Zeugen des Todes und der Vergänglichkeit.
„Holmes“, keuchte ich, denn ich hatte Mühe, seinem lautlosen Sturmschritt zu folgen, „Was, wenn… es keine Verschwörung gibt… wenn…“
„Mein lieber Watson, du sollst wirklich gelernt haben, mir zu vertrauen. Ich vertraue dir doch auch.“
In diesem Augenblick hätte ich sprechen können. Ich tat es nicht. Schweigend sah ich zu, als er den Schlüssel in das Schloss steckte und die Türe öffnete. Das Kirchenschiff war hell erleuchtet.

„ÜBERRASCHUNG!“

Ich werde nie diesen Ausdruck entsetzlicher Hilflosigkeit auf Holmes Gesicht vergessen. Er blickte in die Gesichter der Menschen und auf die riesige Geburtstagstorte und versuchte zu verstehen, was er sah. Mycroft und Mary waren da, und ihre Freundin Louisa, frisch zurückgekehrt aus Indien. Die anderen Gratulanten waren an der Komödie nicht beteiligt gewesen.
Holmes fand irgendwie zu seinem Lächeln zurück. Er ließ es zu, dass Mary ihm die Kerze aus der Hand nahm und sie oben auf der Torte platzierte. Ihr Parfum wehte uns vertraut in die Nase.
„Ich gratuliere, Mr. Holmes.“
Er verbeugte sich leicht. „Ich glaube, ich habe zu gratulieren.“ Sein Blick streifte mich. „Du hast es gewusst, Watson, nicht wahr? Von Anfang an. Ich hätte nicht gedacht, dass du es fertig bringen würdest zu schweigen. Nicht du, mein alter Freund.“
Und bevor ich etwas sagen konnte, hatte er mich stehen gelassen. Er machte durchaus den Eindruck, dass er es genoss, sich feiern zu lassen. Holmes war es gewöhnt, im Mittelpunkt zu stehen.
Aber als wir später in unsere Wohnung zurückkehrten, hatte sich etwas verändert.
Drei Monate später verließ ich die Baker Street und heiratete Mary.

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