Mein Gott, was die hier allein schon für Wasserhähne haben. Mit Lichtschranke. Man muss nur die Hand drunter halten und schon geht’s los. Sitzt meine Krawatte? Natürlich nicht. Ich trage sonst nie eine. Aber heute muss es sein – weiß gar nicht, wie man die umbindet. Hat meine Freundin für mich gemacht. Ich war vorher erst einmal in der Zentrale der Securitas-Versicherungs-AG. Beim Vorstellungsgespräch. Vor über zwölf Jahren. Meine Chefin ist krank. Ausgerechnet jetzt beim jährlichen Treffen der Filialleiter in der Zentrale. Und ich muss sie vertreten. Ich werde Herrn Dieter treffen. Mein Gott, den leibhaftigen Geschäftsführer. Von dem ich sonst nur gerüchteweise aus weiter Ferne etwas höre. Meine Krawatte ist ein Witz. Und meine Hände sind feucht, ohne dass ich sie unter den Wasserhahn gehalten habe.
Herr Dieter trägt immer Fliegen. Eine Art Macke von ihm. Und natürlich auch heute. Grandios, wie sie sitzt. Perfekt. Das ist ein Mann von Welt. Einer, der in die Securitas-Zentrale passt. Einer mit eisgrauen Haaren. Unglaublich seriös. Nicht so einer wie ich mit meinem schiefen Schlips. Ich setze mich an den riesenhaften, runden Konferenztisch. Dorthin, wo das große Pappschild mit der Aufschrift „Kirchhausen“ steht. Ich vertrete mit feuchten Händen die Filiale Kirchhausen. In der Zentrale der Securitas-Versicherungs AG. Man kann sagen, ich habe es zu etwas gebracht im Leben.
„Meine Damen und Herren, wie Sie wissen, dient diese jährliche Konferenz vor allem dazu, unsere Marketing-Aktionen des vergangenen Jahres Revue passieren zu lassen und den gemeinsamen Fahrplan für das nächste Jahr festzulegen“, beginnt Herr Dieter die Sitzung.
Ich schaue auf die vielen kleinen Fläschchen vor mir auf dem Tisch: Apfelschorle, Orangensaft, Mineralwasser, Traubensaft, Cola, ein Kännchen Kaffee, Flaschenöffner, Tasse mit Untertasse und direkt vor mir eine lederne Schreibmappe mit großem Securitas-Emblem und dazu passendem Stift. Jawoll, das hat Stil.
Herr Dieter blättert umständlich in seiner Mappe. Sie ist noch eine Spur edler als unsere. Ganz in schwarz mit silbernem Rand und einem noch größeren Securitas-Emblem. „Also, was mich zuallererst interessieren würde, wäre, wie unser großes Seifenkistenrennen in Hundehausen im vergangenen Jahr gelaufen ist.“
Der Kollege in Hundehausen sitzt direkt neben mir. Er blickt überrascht auf. „Ja, es ist so, dass das Seifenkistenrennen von Hundehausen in diesem Jahr – ich meine natürlich im letzten Jahr – ohne meine Beteiligung vonstatten ging, weil ein unaufschiebbarer Urlaub just in diese Zeit fiel. Deswegen sehe ich mich außerstande, Ihnen Details zu berichten. Aber dem Vernehmen nach war es sehr unzureichend organisiert.“
Herr Dieter blickt überrascht von seiner seriösen Mappe auf und sieht den Kollegen jetzt streng an. „Was, unsere Paradeveranstaltung war schlecht organisiert?“
„Nun“, fährt der Kollege fort, „wie Sie wissen, hat uns der Mitbewerber die Organisation des Hundehauser Seifenkistenrennens vor fünf Jahren aus der Hand genommen. „Man kann sagen, dass es seitdem mit den Seifenkisten bergab geht.“ Ein paar Konferenzteilnehmer grinsen wegen der Doppeldeutigkeit dieses Satzes, die dem Kollegen aus Hundehausen gar nicht bewusst ist.
Herr Dieter mit seiner perfekt sitzenden Fliege und dem seriös wirkenden eisgrauen Haar blättert jetzt ziemlich viel in seiner schönen Mappe. „Richtig, meine Frage zielte auch mehr in die Richtung, wie das Rennen denn jetzt so bei der Konkurrenz läuft. Nicht gut sagen Sie. Das ist schön! Dann besteht sicherlich eine reelle Chance, den Veranstalter davon zu überzeugen, das 27. Hundehauser Seifenkistenrennen im nächsten Jahr wieder mit uns zu organisieren?“
„Davon bin ich überzeugt. Wie ich gehört habe, will sich der Mitbewerber im nächsten Jahr von der Veranstaltung ganz zurückziehen.“
Herr Dieter zieht die seriös wirkenden Augenbrauen hoch. Auch seine Fliege zittert dabei ein wenig.
„Es waren nur zwei Seifenkisten am Start. Sie sind deswegen auf dem vom Bezirksvorsteher Hundehausen gestifteten Pokal für den Drittplazierten sitzengeblieben, was peinlich war, weil der Herr für die Überreichung und zu erwartendem Pressefoto eigens seinen Sommerurlaub abgebrochen hatte.“
„Wir halten fest“, schließt Herr Dieter diesen Tagesordnungspunkt, „dass die Konkurrenz keine Veranstaltungen organisieren kann und dass das Hundehauser Seifenkistenrennen im nächsten Jahr wieder in unseren Händen ist. Eine erfreuliche Feststellung. Ich danke dem Kollegen aus Hundehausen.“
Mein Nachbar lehnt sich zufrieden zurück. Er weiß, dass ihn das Thema Hundehauser Seifenkistenrennen nun für mindestens sechs Monate nicht mehr beschäftigen wird. Wahrscheinlich sogar für länger, wenn er sich wieder zur rechten Zeit Urlaub nimmt. Und bis zur nächsten Filialleiterkonferenz ist es noch lang.
Nächstes Thema sind die beliebten Aktionen „Bei uns in ...“ Herr Dieter sagt: „Wir hatten im abgelaufenen Jahr „Bei uns in ...“-Aktionen in Wippersbach, Steinsrode und Kallenfürth. Ich bitte die entsprechenden Kollegen um kurze Berichterstattung.“
Die 63-jährige Filialleiterin aus Steinsrode zum Beispiel erläutert: „Ich war im vergangenen Jahr der Ansicht, bei unserer „Bei uns in Steinsrode“-Aktion nicht so sehr auf die unmittelbaren Zahlen der verkauften Versicherungen schauen zu wollen, sondern lieber auf einen langfristigen Imagegewinn der Securitas-AG.“
Beifälliges Nicken von Herrn Dieter.
„Deswegen habe ich mich dazu entschieden, selbst in diesem Jahr etwas in den Hintergrund zu treten und der Jugend den Vortritt zu lassen, um ein unbefangenes Von Jugend-zu-Jugend-Gespräch zu ermöglichen.“ Und mit etwas lauterer Stimme: „Die Jugendlichen sind schließlich unsere Kunden von morgen.“
Herr Dieter nickt jetzt noch eifriger und lächelt die Kollegin aus Steinsrode an.
„Wir haben“, fährt sie nach kurzem Zögern fort „durchaus wohlwollende Reaktionen auf dieses neue Konzept erhalten.“ Dabei wirft sie einen kurzen Blick auf mich, und ihre Stirn wirft einige Falten.
Wir arbeiten eng mit der Filiale in Steinsrode zusammen. Daher weiß ich, dass die „Bei uns in Steinsrode“-Aktion ausgerechnet auf den heißesten Tag im Jahr mit über 35 Grad gefallen war. Es galt, samstagsmorgens vier Stunden lang an einem Securitas-Stand auf einem Supermarktparkplatz zu stehen und mit möglichst vielen Leuten ins Gespräch zu kommen. Die Kollegin hatte uns einen Tag vorher sehr direkt erklärt: „Ich bin doch nicht bekloppt und stell mich in die pralle Sonne. Ich schick unsere Praktikantin.“ Die Praktikantin war 18, äußerst drall gebaut und hielt nicht viel von allzu viel Kleidung – besonders nicht am heißesten Tag des Jahres. Von Versicherungen hatte sie keinerlei Ahnung. Die einzige „wohlwollende Reaktion“ stand wenige Tage später auf einer vergammelten Postkarte ohne Absender, aber mit Telefonnummer: „Wow, ich wusste gar nicht, dass Ihr so geile Biester bei Euch beschäftigt habt. Würde mit der Dame gerne mal bei mir zu Hause ne Versicherung oder auch anderes abschließen oder aufmachen.“
Herr Dieter schließt auch diesen Tagesordnungspunkt: „Wir halten fest, dass unsere „Bei uns in ...“-Aktionen auch im 17. Jahr ihres Bestehens erfolgreich verlaufen ist und wir sie demnach auch im nächsten Jahr beibehalten sollten.“
Es gibt weitere Tagesordnungspunkte und Marketing-Aktionen. Die Filiale Kirchhausen, die ich vertrete, wird nicht erwähnt, und auch sonst fällt mir nicht ein, was ich zur Diskussion beitragen könnte. Aber es wäre dumm, bei einer einzigartigen Gelegenheit wie dieser, bei der ich mich in der Zentrale präsentieren kann, nicht auf mich aufmerksam zu machen, um mich für höhere Aufgaben zu empfehlen. Also melde ich mich kurz vor Schluss der Sitzung und frage: „Wird es im nächsten Jahr in Kirchhausen auch wieder eine Hufeisen-Aktion geben?“
„Ahh, die Hufeisen-Aktion.“ Herr Dieter ist begeistert. „Fast hätten wir sie vergessen. Ich danke dem Kollegen aus Kirchhausen außerordentlich, dass er uns daran erinnert.“
Ich strahle. Mein Kommen hat sich gelohnt.
„Sicherlich wird es wieder eine Hufeisenaktion geben. Wir haben noch“, er blättert wieder in seiner luxuriösen Mappe, „239 Hufeisen auf Lager. Die werden wir an den Mann und an die Frau bringen.“ Er schlägt dabei sanft mit flacher Hand auf den Tisch.
Bei der Hufeisenaktion werden Hufeisen im gesamten Filialgebiet versteckt. Die Kunden müssen sie suchen. Und wenn sie eins gefunden haben, bekommen sie dafür in der Filiale einen Preis. Sinn der Aktion ist, auf diese Weise Menschen in die Filiale zu locken, die diese zuvor noch nie betreten haben. Bei der Aktion im letzten Jahr ist ein einziges Hufeisen zurückgekommen, gebracht von einem 70-jährigen Mütterchen, das ohnehin schon bis über beide Ohren von uns versichert war. Ihr Preis war ein batteriebetriebener, knallbunter Tacker. Ungemein nützlich. Die anderen 19 Hufeisen müssen jetzt noch in irgendwelchen Büschen vor sich hinrosten.
Herr Dieter schließt die jährlich stattfindende Filialleiterkonferenz: „Meine Damen und Herren, ich halte fest, dass das Hundehauser Seifenkistenrennen wieder in unsere Hände übergeht, dass wir mit neuen Konzepten bei unserer „Bei uns in ...“-Aktion die Jugend erreichen und wir auf diesem durch die Kollegin in Steinsrode eingeschlagenen Weg weitermachen sollten und dass die Hufeisenaktion weitergeht. Warum sollten wir Erfolgreiches abschaffen?! Ich danke für Ihr Engagement und wünsche Ihnen einen guten Heimweg.“
Vor mir stehen viele leere Fläschchen und ein leeres Kaffeekännchen. Mir ist im Magen etwas flau, aber ich bin stolz, für Securitas arbeiten zu dürfen. Es gibt einem Auftrieb, mal in der Zentrale gewesen zu sein und mit Herrn Dieter höchstpersönlich gesprochen zu haben.