„Dem Angeklagten wird zur Last gelegt, am 27. August 2002, um 23.00 Uhr, auf der Autobahn 25 zwischen Hamburg und Geesthacht die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h um 40 km/h überschritten und damit gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen zu haben. Angeklagter, haben Sie dazu etwas zu sagen?“
„Ich bin unschuldig.“
Rudolf Landauer, schon in die Jahre gekommen und ergraut, schaute die Richterin trotzig an. Dabei zerdrückte er nervös seine Mütze, die er in den Händen hielt.
„Angeklagter, es ist erwiesen, dass Sie an besagtem Tage 140 km/h gefahren sind. Die Polizeibeamten Wienke und Kleinschmidt sind an diesem Abend eine Weile hinter Ihnen hergefahren, haben Sie dann angehalten und Sie vor Ort darauf aufmerksam gemacht. Ihnen ist ordnungsgemäß eine Anzeige zugestellt worden. Geben Sie zu, dass Sie am 27. August 140 km/h gefahren sind?“
„Jawoll, Frau Richterin, das ist richtig.“
Rudolf Landauer straffte seinen Rücken und legte die Hände an die Hosennähte. Seine Mütze fiel zu Boden.
„Bleiben Sie locker, Angeklagter, wir sind hier nicht beim Militär.“ Die Richterin blickte ihn von unten herauf über ihre Brillengläser an.
„Jawoll, locker bleiben.“ Rudolf Landauer hob seine Mütze rasch auf.
„Nun“, sprach sie weiter, „was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“
„Ja, es ist richtig, dass ich 140 km/h gefahren bin. Aber …“, und er machte eine bedeutungsvolle Pause, „unter dem Geschwindigkeitsbegrenzungsschild war ein Zusatzschild.“ Er kostete dieses Wort förmlich aus und ließ es auf der Zunge zergehen.
„Aha? Und was stand darunter?“
Herr Landauer räusperte sich und zog ein Büchlein aus seiner Hosentasche.
„Wissen Sie, Frau Richterin, ich habe seit fünfzig Jahren meinen Führerschein. Ich bin zwar schon zweiundsiebzig Jahre, aber noch fit im Kopf, dass können Sie mir glauben, und ich bilde mich ständig weiter. So auch in der Straßenverkehrsordnung. Ja, was glauben Sie, wie oft sich da etwas ändert?“ Rudolf Landauer klemmte seine Mütze unter die Achseln und schlug das Büchlein auf.
„Schauen Sie, nur zum Verständnis, wie kompliziert unsere Straßenverkehrsordnung ist. Vor zwei Jahren hat man eine Schnellstraße direkt vor meinen Hof gebaut. Nun muss ich meine Kühe morgens auf die gegenüberliegende Weide treiben und abends wieder zurück. Eine Kuh haben sie mir schon totgefahren, wegen der Raserei dort.“
Rudolf Landauer senkte in stiller Trauer seinen Kopf.
„Die Elsa, meine beste Milchkuh. Gott hab sie selig.“
„Und dann?“ Die Richterin beugte sich nach vorn.
„Nun haben die Herren vom Amt Schilder aufgestellt. Wissen Sie, dieses rotumrandete Dreieck mit der Kuh drauf. Das ist Zeichen 140 und heißt „Viehtrieb“. Gleich zwei Schilder haben sie aufgestellt, eines rechts und eines links.“
„Gleich zwei Schilder?“ Die Richterin faltete nachdenklich ihre Hände.
„Jo, das muss sein.“ Herr Landauer machte eilig ein paar Schritte nach vorn zum Richterpult und zeigte sein Büchlein.
„Schauen Sie, auf die rechte Fahrbahnseite muss ein Schild stehen, wo die Kuh von rechts nach links und auf die linke Fahrbahnseite eines, wo die Kuh von links nach rechts läuft.“
„Kuh von rechts nach links und von links nach rechts.“ Die Richterin nickte und schaute Rudolf Landauer wieder über ihre Brillengläser an.
„Jo, das ist wichtig. Sonst hätte ich meine Kühe nur vom Stall auf die Weide treiben können und nicht wieder zurück. Verstehen Sie das?“
„Hm, ich verstehe. Zwei Schilder.“
„Nein vier Schilder. Für die Gegenfahrbahn auch zwei Schilder, aber seitenverkehrt. Na ja, es ist ein Kreuz mit den Schildern. Es gibt weit über zweihundert davon, die man sich alle merken muss, aber ich bin immer auf dem aktuellen Stand.“
„Das bezweifeln wir auch nicht, Herr Landauer.“ Die Richterin sah den alten Herrn leicht lächelnd an. „Aber nun verraten Sie mir mal, was gab es auf der Autobahn für ein Zusatzschild?“
Herr Landauer schaute demĂĽtig zu Boden und knetete seine MĂĽtze.
„Lärmschutz“, sagte er leise.
„Ja, dann ist doch alles klar. Dann hätten Sie auch nur 100 km/h fahren dürfen.“
„Nein, nein. Nicht ganz so“, erwiderte Herr Landauer bescheiden. „Schauen Sie, hier steht: „Das Schild „Zulässige Höchstgeschwindigkeit“ verbietet, schneller als mit einer bestimmten Geschwindigkeit zu fahren. Ein Zusatzschild schränkt dies ein. So zum Beispiel, wenn darunter steht „bei Nässe“ oder „über 7,5 t“ oder …“.“
„Herr Landauer, aber das, was Sie hier anführen, stand nicht darunter, oder?“
„Nein, aber Lärmschutz“, entgegnete Herr Landauer leutselig.
„Nun, Angeklagter, dann hatten Sie dieses Gebot auch einzuhalten“, ermahnte ihn die Richterin. „Damit geben Sie also zu, die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten zu haben?“
„Nein, auch nicht ganz.“ Herr Landauer blickte sie treuherzig an. „Wissen Sie, Frau Richterin, es gab gar keinen Lärm an diesem Abend. Hätte unter dem Schild „bei Nässe“ gestanden und die Straße wäre nass gewesen, dann wäre ich bestimmt auch nur hundert gefahren. Oder hätte „über 7,5 t“ darauf gestanden und ich wäre mit meinem Lastauto unterwegs gewesen, auch dann hätte ich mich daran gehalten. Sehen Sie“, und er tippte auf sein rechtes Ohr, „ich habe an diesem Abend extra noch mein Hörgerät eingeschaltet und es überprüft, um sicher zu gehen, dass kein Lärm war. Es war mucksmäuschen still da draußen. Man konnte sogar die Grillen zirpen hören.“
„Sie haben keinen Lärm gehört?“ Die Richterin war irritiert.
„Nein, ganz gewiss nicht. Ich habe Ihnen extra die Berta mitgebracht. Das ist die Wirtin aus unserer Dorfkneipe. Sie wohnt direkt an der Autobahn. Sie kann Ihnen bestätigen, dass es in dieser Nacht keinen Lärm gab. Und der Wachtmeister Kleinschmidt ist ebenfalls hier, der wo auch mein Kegelbruder ist. Der hat noch an Ort und Stelle festgestellt, dass an diesem Abend kein Lärm war.“
„Also kein Lärm!“, stellte die Richterin fest und notierte dies.
„No, und schauen Sie, warum sollte ich dann das Schild beachten? Es war eine ruhige, laue Sommernacht. Es gab nachweislich keinen Lärm, den ich hätte schützen können.“
„Aber Sie hätten die Geschwindigkeitsbeschränkung einhalten müssen“, erwiderte die Richterin lahm.
„Aber Frau Gerichtspräsidentin! Ein paar hundert Meter weiter gibt es zum Beispiel noch eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf achtzig. Auch mit einem Zusatzschild.“
„Und was steht darauf?“ Die Richterin war nun leicht verwirrt.
„Gefahr unerwarteter Glatteisbildung“, erwiderte Herr Landauer listig. „Aber schauen Sie, gnädigen Frau“, Rudolf Landauer holte tief Luft und sagte mit einem Augenzwinkern, „doch nicht Ende August in unserer Region.“