Der himmelblaue Schmengeling
Der himmelblaue Schmengeling
Glück ist für jeden etwas anderes. Unter der Herausgeberschaft von Katharina Joanowitsch versuchen unsere Autoren 33 Annäherungen an diesen schwierigen Begriff.
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März 2003
Harte Zeiten
von Frank Hoese


Letzten Samstag kurz vor Ladenschluss fiel mir auf, dass der Kaffee knapp wurde. Was ist ein Wochenende ohne Kaffee? „Bring noch ein Pfund Gehacktes mit, dann machen wir Spaghetti“, hatte meine Frau gesagt, und ich hielt es für eine prima Idee. War schon wieder fast eine Woche her, dass wir Spaghetti gehabt hatten. Fröhlich pfeifend schlenderte ich zum Supermarkt.
Was für ein schöner Tag. Was für geräumige Einkaufswagen sie hier hatten. Leider waren alle vergriffen. Nun, meine Mutter hat keinen Idioten aufgezogen. Ich näherte mich einem Bärtigen, der gerade seinen Einkauf verstaute, und legte mir eine leidlich witzige Formulierung zurecht, um seinen Wagen abzustauben, da sauste etwas im Persianer an mir vorbei. Die Dame hatte ihren Lenz um ein paar Tage überschritten, war aber noch unglaublich beweglich. Ohne lange zu fackeln, riss sie dem verdutzten Einkäufer den Wagen weg, kaum dass er seine letzte Dose weiße Bohnen in die Hand genommen hatte, drehte sich auf dem Absatz um und stampfte mit ihrem Raub von dannen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie tatsächlich knurren gehört habe. Als sie mit der Wucht und Entschlossenheit der „Admiral Graf Spee“ an mir vorbeizog, schenkte sie mir ein Lächeln, in dem mehr Zähne vorkamen als in allen drei Teilen von „Der weiße Hai“.
Ich bewundere resolute Menschen. Na gut, sollte sie ihren Wagen haben; ein Pfund Gehacktes und ein Päckchen Kaffee würde ich auch ohne Einkaufswagen durch den Laden bekommen. Vielleicht hatte die Dame mir ja sogar einen Gefallen getan - ohne so ein Riesending vor dem Bauch war ich ja viel beweglicher. Immerhin war der Laden zum Brechen voll. Nun musste sie sich mit dem blöden Einkaufswagen herumärgern. He he he. Mit einem Hüftschwung, um den mich Elvis beneidet hätte, kurvte ich um die behäbigen Vehikel herum, fühlte mich wie ein Skater in einem Fünf-Uhr-Stau und badete in den neidischen Blicken der Deppen, die so dämlich gewesen waren, sich einen Einkaufswagen ans Bein zu binden. Würden sicher alle ein paar Stunden nach mir zuhause sein.

Als ich wenige Minuten später an der Fleischtheke ankam, bepackt mit ein paar Kleinigkeiten, die mir im Kühlregal, beim Gemüse und im Gebäcksortiment aufgefallen waren, sah ich in der Ferne den Persianer von Frau Gräfin Spee aufblitzen. Sie musste gute Ellenbogen haben, denn sie teilte die Menge vor sich wie weiland Moses das Rote Meer. Vor mir stand noch etwa ein Dutzend Leute an, also hatte ich Muße, das Schauspiel zu beobachten.
Sie war gut. In wenigen Sekunden hatte sie die Fleischtheke erreicht. Zu meinem Entsetzen kam sie auf mich zu - aha, sie lief neben der Schlange auf und ab und spähte durch die Glasscheiben auf all das schweinerne und rinderne Zeug, das in der Auslage zu sehen war. Offensichtlich wollte sie sich eine Meinung bilden, bevor sie sich anstellte - sehr vernünftig, dann würde sie denen, die hinter ihr standen, nicht mit stundenlangem Hü und Hott die Zeit stehlen. Wie gesagt, ich bewundere resolute Menschen. Fast beneidete ich die, die das Privileg hatten, hinter so einer entschlussfreudigen Person anzustehen.
Da passierte es. Sie tat so, als würde sie mit höchster Konzentration einen Haufen Bratwürste studieren. Dann schob sie sich ein wenig näher heran und drängelte ein bisschen. Nun stand sie wie zufällig zwischen denen, die sich wie brave Staatsbürger angestellt hatten. Kein Kriminalkommissar hätte sie noch von denen unterscheiden können, die sich ihr Recht, ein wenig Fleisch zu kaufen, redlich erstanden hatten. Von den Damen hinter der Fleischtheke zu schweigen. Ich stöhnte innerlich, denn nun stand sie zwei Plätze vor mir. Auf das freundliche „Was darf’s sein?“ der Verkäuferin tat sie mit der größten Selbstverständlichkeit so, als gehöre sie da hin, die falsche Schlange, und antwortete wie aus der Pistole geschossen:
„Drei Kilo Rinderhack.“
Die, die hinter ihr standen, knirschten vernehmlich mit den Zähnen, aber es half nichts. Niemand erhob seine Stimme, um Gräfin Spee auf ihren Platz (hinter mir) zu verweisen. Drei Kilo, Donnerwetter. Ich dachte an die Zähne, die ich gesehen hatte. Wahrscheinlich warteten zuhause vier Generationen zahnbewehrter Mäuler darauf, mit Rinderhack gestopft zu werden. Noch während ich mir den Berg Buletten vorstellte, den sie miteinander vernichten würden, fuhr mir die Erwiderung der Verkäuferin durch Mark und Bein:
„Nur noch zweieinhalb da.“
„Na, is egal. Ich nehm alles. Mehr ham Sie ja wohl auch nicht.“
Das Blut gefror mir in den Adern. Es war kurz vor Feierabend. Niemand würde mehr für mich und meine hungernde Familie ein bisschen Rind durch den Wolf drehen. Was sollte ich meiner Frau erzählen?
Ich blickte auf meine Hände. War mir noch nie aufgefallen, wie stark die Adern hervortraten. Nun, die Dame hatte mir zum zweiten Mal an diesem Tag einen Gefallen getan: Ich brauchte nicht mehr anzustehen.
„Was kostet das Filet? Ist das auch mager? Zeigen Sie mir mal das Stück - nee, das da“, begann sie gerade, als ich mich auf den Weg zum Tiefkühlregal machte. Es hörte sich an wie der Beginn von etwas Längerem. Eigentlich war Pizza eine feine Sache, viel besser als Spaghetti. Wo war doch gleich das Tiefkühlregal? Ah ja. Man soll ohnehin nicht so viel Fleisch essen. All diese Futtermittelskandale, das Cholesterin, und für die Tiere ist es ja auch nicht so schön. Ich würde die Persianerin in mein Nachtgebet einschließen. Sie war eine Heilige, die mein sündiges Cholesterin auf sich nahm. Wenn ich dem Herzinfarkt entging, dann war es überhaupt ihr Verdienst. Am Zeitschriftenregal blieb ich kleben und versank ein paar Minuten lang in einem Comic (ich weiß, ich weiß, aber meine Jugend), meinen Einkauf irgendwie auf dem linken Arm balancierend.

Ein Ruck, ein heftiger Schmerz in der Hüfte. Mein Einkauf verteilte sich über das Zeitschriftenregal. Ich fuhr herum und blickte in das heimtückische Fuchsgesicht der Persianerin; halb geduckt kauerte sie hinter ihrem Einkaufswagen (eigentlich war es ja meiner) und funkelte mich aus zusammengekniffenen Augen böse an. Sie spuckte mir ein paar Silben entgegen, halb gemurmelt, halb gezischt, und ich glaubte, „im Weg rumstehen“ herauszuhören.
„Tomaten auf den Augen helfen auch nicht gegen Falten“, konterte ich, da meine Geduld ein klein wenig zu wanken begann, „zumal im Endstadium. Hau ab!“
Sie bleckte die Zähne und stampfte an mir vorbei, zwischen ihren Zähnen - waren sie wirklich spitz zugefeilt? - Flüche und Verwünschungen zerkauend. Die Umstehenden grinsten hämisch. Wahrscheinlich hassten sie uns beide. Beruhte auf Gegenseitigkeit.
Aber immerhin war ich nicht hier, um mich zu amüsieren. Ich klaubte mein Zeug zusammen, ließ ein oder zwei zermatschte Joghurtdesserts zwischen den Tageszeitungen zurück und kletterte über zwei Einkaufswagen, die zwei ältere Herren quer in den Gang gestellt hatten, um besser plaudern zu können. Einer stellte mir ein Bein, aber ich wich ihm aus. Bin ja nicht von gestern. Ich glaube, er hat erst an der Kasse gemerkt, dass ich mit voller Absicht über seine Mandarinen gelatscht war. Geschah ihm recht.
Allmählich wurde die Stimmung etwas unfreundlich. Ich gebe ja zu, ich drängle und schubse auch gelegentlich, wenn mir jemand im Weg steht. Himmel, immerhin hatte ich meine hungrige Familie satt zu machen. Kaffee musste ich auch noch haben. Oh, den dicken Mittdreißiger hatte ich nicht richtig erwischt. Ich lief ihm nach und schubste ihn noch einmal. Er zeterte brav und lief purpurrot an. Goldiges Kerlchen, vielleicht etwas nah am Schlaganfall gebaut. Aber halt -
Ich sah es. Sie sah es auch.
Unsere Blicke trafen sich.
Die Zeit gefror in einem kristallenen Augenblick.
Es war nur noch ein einziges einsames Paket Krönung da, exakt in der Mitte zwischen ihr und mir. Ich ließ meinen Krempel fallen und lief los. Die Zeit dehnte sich zäh wie Gummi. Sie kam mir in großen Sätzen entgegengeflogen, wie in Zeitlupe sah ich sie ausholen und den Arm nach vorn schleudern, eine reife Birne flog mir entgegen, winzig erst, dann größer, eine feucht explodierende Großaufnahme. Ich bekam Drift, verlor den Halt und purzelte in eine Pyramide aus Dosen.

Als sich die Sterne langsam wieder verzogen, sah ich dort, wo mein letzter Triumph hätte geboren werden sollen, nur eine Lücke klaffen. Gräfin Spee war mit meinem Kaffee, meinem Fleisch und meinem Einkaufswagen zu neuen Raubzügen abgedampft. Ich blieb allein zurück, erniedrigt, mit Birnenmus besudelt. Eine junge Frau lachte schadenfroh und trat mir im Vorbeigehen in die Seite. Ich hatte es verdient.
Nach einigen Minuten raffte ich die Reste meiner Würde zusammen, klaubte auf, was von meinen Waren übrig war und überlegte, was ich tun konnte. Mit zwei, drei Dosen Bärenmarke würde ich das Aas umnieten können, wenn ich gut zielte. Da rumpelte und pumpelte es in der Lautsprecheranlage, ein Räuspern, ein Pfeifen. „Wir machen in fünf Minuten zu“, nuschelte eine gleichgültige Stimme, „wer dann noch nicht an der Kasse ist, hat Pech gehabt.“
Gut, dass wir in einem zivilisierten Land leben, wo die Leute Manieren und Disziplin mit der Muttermilch einsaugen. Ich hechtete zu den Kassen und kloppte einen Halbstarken um, der mir mit seiner Ladung Bierbüchsen in die Bahn geriet. Schon kamen die Kassen in Sicht, da griff mich die Persianerin von links mit meinem eigenen Einkaufswagen an. Sie hatte ihren Stockschirm wie eine Art Rammsporn darin festgekeilt und zielte auf mein Herz. Ich wich aus, zog ihr einen Rettich über den Kopf und nutzte die Gunst des Augenblicks, um Gehacktes und Kaffee aus dem Wagen zu klauen. Den Wagen zündete ich an und kippte ihn um, und sie stürzte darüber. Ihr Wutgeheul blieb hinter mir zurück, als ich über die Köpfe der Anwesenden hinweg turnte, die mir im Weg standen.
An den Kassen tobte eine veritable Schlacht. Kranke, Alte und Schwächlinge hatten hier keine Chance. Ich verlor meine Waren und raffte mir neue zusammen. Jemand rammte mir einen Pfennigabsatz in die Stirn, aber ich war so voller Adrenalin, dass ich nicht bemerkte, wie mir das Blut übers Gesicht lief. Die Zielgerade lag vor mir als eine Wolke aus wirbelnden Armen, Beinen, Fäusten. Ich benutzte den Rücken einer hysterischen Fünfzehnjährigen als Sprungbrett, und während ich mit einem zweifachen Salto über die Köpfe der Menge flog, umklammerte ich meine Trophäen. Die Kassiererin schoss mit einer großkalibrigen Flinte nach mir, traf aber nicht. Ich landete auf den Füßen, warf eine Handvoll Scheine und Münzen in die rasende Meute und entfesselte damit ein kreischendes Tohuwabohu, das ich zur Flucht nutzte. Vorher riss ich mir das Hemd auf, paukte auf meine Brust ein und ließ einen markigen Siegesschrei hören.

Winselnd und meine Wunden leckend hinkte ich heim, das kostbare Fleisch fest an mich gepresst.
„Oh je“, machte meine Frau, als ich endlich heimkam. „War’s schlimm?“
„Wie immer“, röchelte ich. „Du kennst das ja. Aber ich habe das Fleisch.“ Triumphierend schwenkte ich den kleinen Plastikbeutel.
Harte Zeiten, was?


(C) Frank Hoese 2003



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