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März 2003
MS Megamedia
von Lutz Schafstädt


Die New Economy war eine Armada prächtiger und stolzer Schiffe. Man sagte ihr atemberaubende Fähigkeiten nach, sprach über bevorstehende Expeditionen, tuschelte über unentdeckte Strände und maßlosen Reichtum, der nur aufgelesen werden wollte. Schon bald würde die Regatta beginnen! Überall machte man sich bereit für den Aufbruch in märchenhafte Zeiten.

Auch unser beschaulicher Hafen wurde zur Werft. Ein stählerner Koloss wuchs unaufhaltsam aus dem seichten Hafenbecken und beeindruckte die bodenständigen Fischer. Fast über Nacht war das Schiff plötzlich bereit für die zerschellende Champagnerflasche und wurde MS Megamedia getauft. Einen Stapellauf brauchte die MS Megamedia nicht, denn sie war das Kind einer völlig neuen, geheimnisvollen Technologie.
Ich stand vor dem strahlend weißen Schiff, den Kopf im Nacken, und hielt, feierlich bewegt, den Atem an. Ich wusste von ihrem Versprechen, auf neuen Routen Glück und Erfolg zu suchen und dabei alles Bisherige hinter sich zu lassen. Geballte Kraft und konzentriertes Selbstbewusstsein. Ich konnte es spüren. Da wollte ich dabei sein.

Ich erinnere mich genau, als ich, die Einladung zum Vorstellungsgespräch in der Tasche, auf die MS Megamedia zuging. Mit jedem Schritt reckte sie sich weiter in den Himmel und machte mich klein. Die Bordwand schien sich über die gesamte Länge des Hafens hinzustrecken. Ich sah die armdicken Trossen, die das Schiff an die Kaimauer fesselten. Sie waren gespannt, wie die Saiten eines Instruments und ächzten leise. Ich spürte, die große Fahrt stand unmittelbar bevor, das Schiff zerrte bereits ungeduldig an den Tauen.
Ich war ergriffen. Ich genoss den Duft frischer Farbe, strich mit der Hand über die glatte Stahlhaut. Ich zögerte, den nächsten Schritt zu setzen. Ich sprach mir noch einmal Mut zu, betrat die Freitreppe, die mich zu einem Zwischendeck hinaufführte und ich jubelte, als ein Federstrich mich in die Crew aufnahm und ein Handschlag mich an Bord willkommen hieß.

Ich lebte mich schnell ein und hatte nicht sonderlich viel zu tun. Konkrete Aufgaben, so hatte ich mir erklären lassen, würden sich finden, wenn sich meine Stärken offenbart hätten. Jetzt ging es erst einmal darum flexibel und auf alles vorbereitet zu sein, was die Zukunft an Überraschungen bereit hielt. Die Mehrheit der Besatzung war diesem Stadium noch nicht entwachsen und sah sich mal als Maschinist, Steuermann oder Steward durch die Gänge flitzen. Insgeheim jedoch war jeder Kapitän.

Das Gefühl von Ehrfurcht beim Anblick des Schiffes wich, als ich begriff, dass eine gewisse Abgeklärtheit des Blickes nicht nur üblich, sondern auch hilfreich war. Schnell wurde es mir zur Gewohnheit, jeden Morgen an den Trossen halt zu machen, fachmännisch mit der Hand deren Spannung zu prüfen und mit gehobenen Brauen ihrem Stöhnen zu lauschen. Es lag mir viel daran, vor der MS Megamedia nicht nur gesehen, sondern auch als wichtiger Bestandteil mit ihr in Zusammenhang gebracht zu werden.

Ich lernte den Zunftjargon kennen und lieben. Seeleute haben bekanntlich ihr eigenes Vokabular, das aber entsprechend differenzierter Anforderungen stark variieren kann. Die wichtigste Anforderung an unsere Sprache war ihre Funktionalität. Nicht in kommunikativer Hinsicht, sondern als Effekt. Sie sollte wirken, und zwar gleichzeitig innovativ, kreativ, souverän, professionell, akademisch und welterfahren. Und wie immer, wenn die Meßlatte derart hoch gesteckt wird, kommt etwas Englisches dabei heraus. Also bestanden unsere Reisepläne aus „Crossmedia Solutions“ und die Ausflugsziele „Landmarks“. Gehobene Unterhaltung war „Edutainment“, das Promenadendeck ein „Community Environment“, das Kino der „Virtual Cyberspace“. Wer bei uns Kunde sein wollte, geriet in ein „Interactive Network“ und reiste mit unserem „Corporate Behavior“ ins „Digital Age“. Das klang geheimnisvoll, modern und verlockend. Und genau dafür war es erdacht. Wir alle waren immer wieder schwer beeindruckt von unseren Prospekten und Katalogen und ließen den Vorwurf von Oberflächlichkeit oder gar Kauderwelsch nicht gelten. Sollten alle anderen ruhig an ihren alten Vollkornsemmeln kauen; wir liebten unsere Brötchen mit viel Luft in der Mitte.

Zu meinen ersten Aufgaben an Bord gehörte es, die Vorbereitung von Simulationen zu unterstützen, die gern auch „Case Studies“ genannt wurden. Sie dienten offiziell dem Ziel, dem Begriff Kreuzfahrt eine Bedeutung auf höherer Stufe zu geben. Das war notwendig, weil unsere Klientel immer noch sehr konventionellen Vorstellungen verhaftet war und durch intensive Kleinarbeit von diesem Ballast befreit werden musste. In Wahrheit war die Zielgruppe der Reiseveranstalter jedoch einer späteren Phase vorbehalten. Zuerst ging es darum, potentiellen Geldgebern, den „Venture Capitalists“, zu demonstrieren, wie es uns gelingen würde, den Reisemarkt fortan mit revolutionären Ideen aufzumischen.

Wir setzen als These voraus, das sich die Erwartungen der Passagiere grundlegend gewandelt hätten. Sie wollten nicht mehr einfach nur in die Karibik schippern, in Luxus schwelgen, sich zerstreuen lassen, sich erholen. Nein, sie sehnten sich nach dem ultimativen Erlebnis, wollten überrascht, einbezogen, beeindruckt werden. Wer dies nicht erkannte, würde den entscheidenden Wettbewerbsfaktor verspielen und bald auf jämmerlichen Kähnen vom Fahrwasser der Konkurrenz verschaukelt werden.
Aus dieser Sicht der Dinge wurden Probleme abgeleitet, die nach einer Lösung drängten. Die Zielgruppe sollte spüren, wie gut wir sie verstanden, wie gründlich wir uns in ihr „Business“ einfühlen konnten und wie kompetent wir an ihre Seite traten.
Was tun, wenn die Passagiere sich am Atlantik sattgesehen haben? Wenn in Havanna am Tag des Landausflugs trübes Wetter herrscht? Wenn die Delphine sich einfach nicht sehen lassen? Wenn die Gefahr tropischer Infektionskrankheiten besteht?
Wir hatten die Antwort. Wir nahmen die neuen technischen Möglichkeiten wie einen Strauß Sommerblumen zusammen und überreichten ihn mit strahlendem Lächeln: Wir konnten etwas dagegen tun, wenn die berühmte Burg an der Hafeneinfahrt enttäuschend marode aussah. Wir wollten Stürme und Katastrophen, zum Zeitvertreib, entstehen lassen. Wir konnten die Gäste durch den Schiffsboden auf versunkene Schätze blicken lassen. Wir verwandelten uns in die Titanic, machten Dinosaurier lebendig, luden Poseidon zu Besuch ...
Wir fanden uns großartig und wir demonstrierten es in unseren Simulationen. Dafür gab es den großen Show-Raum im Bauch des Schiffes, der gern auch „Holodeck“ genannt wurde, wenn der emotionale Pegel des zu betörenden Gastes es erlaubte.

Die gesamte Crew war in die Vorbereitung dieser virtuellen Inszenierungen einbezogen, die bald ausschließlich unser Tagwerk bestimmten. Man nannte sie unverzichtbare Vorleistungen und es fanden sich ab und an sogar Interessenten, die eine kleine Szenerie in Auftrag gaben, um sie auf Messen zu präsentieren. Wir interpretierten dies als sicheres Zeichen, auf dem richtigen Weg zu sein. Wir sahen schon Passagiere in Strömen den Laufsteg heraufdrängen und fertigten eine Simulation dazu an, die nur für interne Zwecke vorgeführt und als wichtigste Zutat für ein späteres „Making Of“ aufbewahrt wurde: Dreidimensional. Interaktiv. Bombastisch.

Peinlich wurde darauf geachtet, dass die MS Megamedia immer den Anschein erweckte, in der nächsten Minute ablegen zu wollen. Betriebsamkeit auf den Fluren wurde organisiert, damit die angekündigten Besucher sich in einen Ameisenstaat versetzt fühlten. Manche Besatzungsmitglieder schmunzelten über das ewige Getue. Ich verstand jedoch, dass alles Teil einer Vision war. Und die Visionen waren Sache des Kapitäns.

Unser Kapitän bekannte offen, dass er mit den Funktionen eines Schiffes nicht sonderlich vertraut war, aber wir stimmten alle darin überein, das dies seine Fantasie auch nur unnötig einengen würde. Er war ein echtes Naturtalent, das uns und unsere Geschäftspartner mir immer neuen Ideen in seinen Bann zog. Er träumte vom Reisen und das Schiff war dabei für ihn nur ein notwendiges Vehikel. Es ging um das Erleben und pure Emotion. Wer schert sich da um Seekarten!
Unser Kapitän konnte mit betuchten Gästen in den Fahrstuhl steigen und hatte, wenn sich nach seinem „Elevator Pitch“ die Türen wieder öffneten, eine neuen Hasen aus dem Hut gezaubert. Er nannte das "Anpassung an veränderte Bedingungen" und wir ließen alles aus den Händen fallen, fingen das Häschen ein und sperrten es in eine neue Simulation, von der auch nicht feststand, ob wir sie würden beenden können. Solcherart Hakenschläge waren wir gewohnt und niemand verübelte sie offen.
Denn seine als strategisch bezeichneten Visionen waren unser eigentliches Lebenselixier: Sie pumpten uns den begehrten, finanziellen Treibstoff in die Tanks, von dem wir täglich Unmengen verbrauchten. Sie begeisterten Investoren, zerstreuten Bedenken, richteten ihren Blick über die Risiken hinweg auf die sagenhaften Reichtümer ferner Zeiten.
In den Visionen sah man unser Schiff bereis hinter dem Horizont verschwinden - wenn nur schon alle Vorräte an Bord wären.

Immer wieder machten wir uns ans Werk und zerlegten die aktuell gültigen Visionen in überschaubare Portionen. Wir entwickelten daraus Konzepte und Szenarien. War ein Angebot fertig, sollte daraus ein Projekt werden. Wir luden annähernd jeden zu uns ein, der als Geldgeber in Betracht kam, und präsentierten uns um Kopf und Kragen.
Wir inszenierten die Traumreise bis ins Detail, vom Routenplan über die Menüfolge, dem Unterhaltungsprogramm bis hin zum Tagesausflug. Dann ging es auf das „Holodeck“, und selbst wir waren uns nicht mehr sicher, wo Traum und Wirklichkeit ihre Nahtstelle hatten. Fast spürte man den Schiffskörper auf den Wellen tanzen. Das Erlebnis war total! Wozu brauchte es eigentlich noch Schiffe? Liebevoll hatten wir in die Platzdeckchen die Logos potentieller Kunden einsticken lassen und wollten sie als Parameter maßgeschneiderter Lösungen verstanden wissen. Wir waren gnadenlos und warfen alles in die Schlacht, dessen wir habhaft wurden: Nur für den Fall, dass uns bei der aufwändigen Recherche nach Argumenten vielleicht ein Kundenbedürfnis entgangen war. Die „volle Breitseite“ zog sich stets über Stunden hin und führte die Zuhörer an den Rand der Erschöpfung. Genau der richtige Zeitpunkt, sich zu Verhandlungen zurückzuziehen.
Wie wir die Kabinen mit Passagieren füllen werden? Interaktiv, murmelten wir geheimnisvoll und zeigten, wie wir auf Knopfdruck unser Schiff mit Scheinwerfern und Laserlicht in eine „magische Laterne“ verwandeln konnten. Publikumswirkung pur und der Rest wäre dann nur noch ein Kinderspiel.
Die Besucher äußerten sich regelmäßig begeistert, versprachen eine baldige Fortsetzung des Gespräches und eilten, manchmal unangemessen hastig, davon. Einige baten sogar höflich, das Konzept für sie weiter zu verfeinern. Doch Kunden wurden auch sie nicht. Wir beharrten aber darauf, sie weiterhin so zu bezeichnen und verfügten bald über eine ansehnliche Kundenliste, die bei jedem Investor eine Art pawlowschen Effekt auslöste: Gier stieg ihnen in die Augen und die Gehirne dahinter überschlugen schon immer mal den zu erwartenden Profit.

Leider wurde unsere angebliche Erfolglosigkeit allmählich publik. Auch unser Kapitän erkannte das als Problem, denn seine Gespräche mit Partnern gestalteten sich immer schwieriger und hin und wieder ging uns der Treibstoff bedenklich zur Neige.
„Kein Grund zur Sorge“, ermunterte er uns und entschied, zur "Anpassung an veränderte Bedingungen", vom Kreuzfahrtgeschäft auf den Fährverkehr als zweites Standbein umzusteigen. Zweifelsfrei erkannten wir dies als neue Vision. Niemand widersprach ihm, aber als er die traurigen Blicke um sich herum bemerkte, erklärte er uns, wie weit wir der Zeit voraus und wie unreif der Markt noch war. Wir verstanden, dass aus diesem Grund die Probleme wuchsen und es nur eine Zeitspanne zu überbrücken galt, bis man uns an eine direkte Pipeline klemmen würde und die Sorge um den Geldnachschubschub ein für alle Male ausgestanden war. Also legten wir uns ins Zeug. Neben der Erarbeitung neuer Simulationen veranstalteten wir Konzerte und Kongresse, eröffneten ein Restaurant, boten Schulungen an, machten Filmvorführungen, vermieteten komplette Decks und bastelten schließlich sogar Souvenirs. Es entstanden neue Geschäftsbereiche, die Zahl der Besatzungsmitglieder erhöhte sich sprunghaft, die Kundengespräche wurden intensiviert.

Dann hörten wir, dass, trotz aller Bemühungen, die Vorräte erschöpft waren. Auch das sei normal, erklärte unser Kapitän. Wir wären sehr schnell gewachsen und verbrauchten dementsprechend mehr Energie. Aber es stünden Gespräche mit öffentlichen Stellen an. Zur Bewilligung erneuter Fördermittel. Eine inzwischen so große Besatzung würde das Land nie im Stich lassen. Vielleicht fände sich ja auch noch ein Gönner, der einfach Steuern sparen möchte. Wir hätten sehr gute Karten und sollten doch einmal unseren Blick über die Reling hinaus werfen um zu sehen, wie abgewirtschaftet die anderen Schiffe der Flotte in den Seilen hingen.

Ja, wir wussten, dass viele, einst als leuchtendes Beispiel gehandelte Schiffe der „New Economy“, in beklagenswertem Zustand waren. Und das, obwohl noch keines sich wirklich ernsthaft auf das offene Meer gewagt hatte.
In unseren Köpfen entstanden Bilder wie auf Schlachtengemälden:
Buchten voller Schiffsleiber. Schiffe mit schwerer Schlagseite werfen verzweifelt Ballast ab, der in rauer See mit den Armen fuchtelt. Kleine Booten voller wütender Gläubiger versuchen, ihre Investition ins Fahrwasser zu bringen. Zwischen den aus dem Wasser ragenden Aufbauten noch dampfender Wracks treiben, wie Farbtupfer, die Rettungswesten. Ein kleiner Teil der Flotte scheint fliehen und sich verstecken zu wollen, doch die übergroßen, trägen Dampfer behindern sich gegenseitig, rammen einander und fügen sich schwere Schäden zu.
Nur gut, dass wir im sicheren Hafen lagen!

Doch auch wir blieben nicht verschont.
Fast alle Ressourcen waren verbraucht und dem Kapitän fiel nichts mehr ein, als ein schmerzliches Abmustern auszurufen. Die Crew verringerte sich rasant und jeder duckte sich, um übersehen zu werden.
Kaum war die Mannschaft verkleinert, fasst der Kapitän neuen Übermut und erklärte allen noch an Bord verbliebenen, er habe noch einen Joker im Ärmel und keiner müsse sich Sorgen machen. Unser Schiff sei sicher an der Kaimauer vertäut und Überlebenshilfe schon unterwegs.
Wir entwarfen unterdessen ein neues, optimistisches „Mission Statement“ und hissten es weithin sichtbar an den Fahnenmast.

Mit tropfnassen Kleidern kamen krisenerfahrene Hoffnungsträger an Bord und sollten das Schicksal wenden. Sie waren von ihren versunkenen Managerposten auf kürzestem Weg zu uns herüber geschwommen, stürmten auf die Brücke und taten das wenige, das sie konnten: Sie strukturierten um, erfanden Checklisten und beriefen Meetings ein. Augenscheinlich nahmen sie sich der Krise an und stellten die gewohnte Geschäftigkeit wieder her. Trotz allem blieb ich beunruhigt.

Als auch uns die Gläubiger immer ungeduldiger zu bedrängen begannen, sahen wir alle nur einen Ausweg:
„Wir müssen ablegen“, riet auch ich. „Vor der Hafenausfahrt können wir wieder vor Anker gehen und die Zeit für uns arbeiten lassen.“
Doch der Kapitän schien völlig hilflos. Er zog den Kopf ein und erklärte halblaut, das es nicht ginge. Wir wussten, dass er keinen Schimmer davon hatte ein Schiff zu führen, aber die Brücke wimmelte inzwischen von gestrandeten Wirtschaftskapitänen, die als „High Potentials“ gehandelt wurden. Irgendwer davon musste doch wissen wie es geht.
Alle blickten erwartungsvoll auf die frisch angeheuerten Retter, denen doch schon eine viel härtere Brise um die Ohren geweht war. Aber auch sie hoben die Schultern, zögerten kurz und sagten uns dann:
„Ihr müsst endlich die Wahrheit erfahren. Die MS Megamedia ist nicht seetüchtig! Sie war es nie. Im Grunde ist sie nicht einmal ein Schiff.“
Wir warfen gleichzeitig, wie auf Kommando, die Arme flehend in die Luft. Was für verblödete Experten hatten wir uns da geholt? Jetzt waren wir wirklich verloren!

Plötzlich begann der Boden unter uns zu wanken. Der stählerne Koloss brüllte auf und sackte langsam zur Seite.
„Die Party ist vorbei“, stellte jemand lakonisch fest. Wir hangelten uns die geneigten Seitenwänden entlang durch die Gänge ins Freie. Immer drohender hörte ich, wie das Wasser hereingurgelte und mir folgte.
Als ich tropfnass und erschöpft auf die Kaimauer kletterte, lag die MS Megamedia bereits, wie müde hingestreckt, im Hafenbecken. Ihr Heck ragte aus dem Wasser. Eine schwarze Öffnung markierte die Stelle, wo ich eine Schiffsschraube vermutet hätte. Zerfranste Tauenden lagen zu meinen Füßen.
Ich musste wehmütig daran denken, wie ich täglich ihre Spannung geprüft hatte, ohne zu ahnen, dass nur sie die MS Megamedia aufrecht hielten. Nun, durch einen schlichten Schnitt, war sie plump in sich zusammengesunken.
„Da schau mal!“, sagte ich zu dem Kollegen neben mir. „Jemand hat mit einem Messer die Trossen durchtrennt.“
„Vermutlich wollte ein Investor seinen Pott endlich mal schwimmen sehen.“
Ich war Teil einer gigantischen Simulation, begriff ich, und saß nun an der Bruchlinie zwischen Traum und Wirklichkeit.


Lutz Schafstädt, 2003


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