Burgturm im Nebel
Burgturm im Nebel
"Was mögen sich im Laufe der Jahrhunderte hier schon für Geschichten abgespielt haben?" Nun, wir beantworten Ihnen diese Frage. In diesem Buch.
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März 2003
Kleiner Scheißer
von Birgit Erwin


Diese Frauen kannten nur die Schattenseite des Lebens. Sie starrten in den Regen und vergaßen für die Dauer eines Traumes, dass das Geschäft schlecht und der Hunger bitter war. Im Flüsterton erzählten sie einander von der goldenen Zukunft, die sie erwartete, ganz bestimmt. Von einem Heim träumten sie, von Kindern. Meistens war es die Schwarze Annie, die als erste in Lachen ausbrach. Das klang rau und endete immer öfter in einem qualvollen Hustenanfall. Manchmal war Blut dabei. Schwarze Annie hieß sie nicht nur wegen ihres dicken dunklen Haares sondern auch wegen ihres Galgenhumors und – so sagten einige ihrer Freier – wegen ihrer schwarzen Seele. In ihrem Gesicht waren immer noch Spuren der Frau erkennbar, die sie einmal gewesen war, aber alle wussten, dass Annie im Sterben lag. Um das zu erkennen, brauchten sie keinen teuren Arzt. Ihre Medizin war der Gin, und den schluckte Annie in großen Mengen.
„Für uns ändert sich nie was, Schwestern“, pflegte sie zu sagen. So wie sie Schwestern sagte, formte sie ein Band, und das machte vieles erträglicher. Ohne Annie waren sie Treibgut, mit ihr eine Gemeinschaft.
„Männer sind ja solche Scheißkerle“, stöhnte Kate. Der Sommer hatte seinen Höhepunkt überschritten und neigte sich in den Herbst. Der Regen brachte keine Abkühlung in Pollys Loch in der Thrawl Street. Nichts brachte Linderung in Whitechapel. Whitechapel ist der innerste Kreis der Hölle, hatte Kate einmal gesagt. Kate wusste ziemlich viel, nicht nur, wie man einem Kerl in die Hose fasste. Sie saß in ihrem schmuddeligen Unterrock auf einer umgestürzten Kiste und legte den Kopf in den Nacken. „Ist denen nicht klar, dass wir auch was verdienen müssen? Huren müssen auch bei Regen essen.“
„Und trinken“, murmelte Annie und stieß ein bellendes Lachen aus. Wortlos griff Mary in ihre Schürze und hielt ihr eine Flasche hin. Sie war das Nesthäkchen der Gruppe, war hübsch und blond. Annie trank gierig.
„Wo bleibt Polly?“, fragte sie und wischte sich den Mund. Kate kratzte hingebungsvoll die entzündete Tätowierung auf ihrem Oberarm: „TC“. Wofür das stand, hatte sie nie verraten. Draußen rauschte der Regen auf das schmutzige Pflaster.
Ganz leise begann Mary zu singen. Sie sang immer das gleiche. „A Violet from Mother’s Grave“. Das Lied das einzige, was sie von der Grünen Insel mitgebracht hatte. Wenn sie sang wurde ihre Stimme süß und traurig. Annie rückte näher und legte ihr den Arm um die Schultern. Immer wenn sie dieses Liedchen hörte, wurde ihr seltsam mütterlich zu Mute. Sie dachte dann an ihren verstorbenen Mann, der gar nicht so schlimm gewesen war, und an ihre Kinder. Zwei waren tot, die Älteste verschollen. Annie starrte auf ihre Hände und hörte nicht, wie die Türe geöffnet wurde. Erst als Mary verstummte, hob sie den Kopf.
„Mädels“, sagte Polly und nickte in die Runde. Ihr ergrauendes Haar klebte am Kopf. Auch sie hatte einen Ehemann fünf Kinder geboren, aber das sah man ihr kaum an.
„Hab Glück gehabt. Was man so Glück nennt bei uns.“ Sie warf ein Päckchen auf das Bett. Ihre Freundinnen fielen darüber, während Polly die Brandyflasche mit ihren gelblichen Zähnen entkorkte und in langen Zügen trank.
„Danke“, flüsterte Mary schließlich und wischte sich über den Mund, um auch die letzten Brotkrümel von ihren Fingerspitzen zu picken. Long Liz, die bisher geschwiegen hatte, hob den Kopf. Sie redete nie viel, und ihre Worte hatten umso mehr Gewicht.
„Anständig von dir, Pol.“
Polly winkte ab. „Der war auch anständig, der Kerl, den ich gehabt hab. Dumm wie ein Zaunpfahl, aber er hat mir genug gegeben, dass es für uns alle gereicht hat.“
„Hier.“ Kate warf Polly ihr Zigarettenetui zu. Sie tat sich schwer mit dem Danken. Polly fing es aus der Luft und betrachtete es nachdenklich. Endlich nahm sie eine Zigarette heraus, drehte sie zwischen den Fingern und zündete sie an. Ihre Augen zuckten kurz über ihre Freundinnen, dann grinste sie plötzlich breit.
„Also, so ist er zu mir gekommen.“ Sie ging breitbeinig und ein wenig schwankend durch das Zimmer. Mary stieß ein leises Kichern aus. Polly ignorierte sie.
„He, Mädel“, intonierte sie in breitem Cockney. „Außen biste doch schon feucht. Kannst es gleich auch innen werdn.“
Sie hatten Pollys Verwandlung schon unzählige Male miterlebt, aber es war immer wieder erstaunlich. Sie sah noch aus wie Polly. Es waren ihre Gesichtszüge, ihr Haar, ihre Augen, aber gleichzeitig war sie ein Mann, bärenhaft und irgendwie lächerlich. Sie machte eine Geste, als stieße sie eine Frau gegen die Wand.
„Na, magst du meinen Freund? Meinen kleinen großen Freund?“ Polly bewegte das Becken wie eine Pumpe und stöhnte.
„Er mag dich, der Schlingel. Ja... ja…“ Sie stieß eine sehr kurze Folge obszöner Grunzlaute aus und sank dann pantomimisch über der unsichtbaren Frau zusammen. Dann drehte sie sich um und lächelte. Plötzlich war sie wieder Polly.
Die vier Frauen applaudierten begeistert. Annie wischte sich roten Speichel von den Lippen und griff nach der Flasche. Ihre Hand zitterte.
„He, Polly“, keuchte sie, „Gib uns noch mal den kleinen Scheißer.“
Es wird den Mädels gut tun, dachte sie. Die Untätigkeit, die Hitze trotz des monotonen Regens, das alles drückte auf die Gemüter. Es tut ihnen gut, über die Schweine zu lachen, die uns jede Nacht benutzen. Und denen tuts nicht mal weh.
Polly knickste wie eine richtige Schaupielerin im Drury Lane. Ihre Wangen waren gerötet, ihre Augen blitzten. Der Applaus hatte sie zu Höchstleistungen angefeuert. Sie wölbte die Schultern vor, kniff die Augen zusammen und zeigte mit einem hektischen Finger auf Mary.
„Du. Ja.. du…“
Mary kollabiert beinahe vor Lachen. Sie war Annie dankbar für ihren Einfall. Vor dem, den sie untereinander nur den kleinen Scheißer nannten, hatte sie ein bisschen Angst. Aber es war unmöglich, Angst zu haben, wenn Polly ihn spielte. Vielleicht würde sie auch über ihn lachen können, wenn er sie das nächste Mal nahm. Mit kurzen, hektischen Schritten kam Pol näher.
„Komm h-her, S-süße.“ Sie lispelte und stotterte, dass es zum Erbarmen war. „Willst du ein p-paar Trauben?“ Sie machte eine anzügliche Pause und griff sich in den Schritt. „Ein p-paar wirklich… kleine Trauben?“
Liz prustete vor Lachen.
„Anders erträgt man ja deinen Mundgeruch nicht, kleiner Scheißer!“, grölte Kate.
Polly fuhr herum. „D-das s-sollst du nicht sagen. Du sollst dich nicht über mich lustig machen. Frauen sind b-böse. Ich habe dir v-verboten zu lachen. K-komm jetzt.“
Sie riss Mary grob auf die Füße.
„Leg dich da hin und w-warte auf mich!“, fistelte sie und zeigte auf das Bett. „Ich muss erst meinen Schwanz suchen, das k-kann dauern. Aber fang nicht ohne mich an.“
Polly gab Mary einen Stoß und schielte in den Gurt ihres Rockes, während sie hektisch darin herumtastete. „Irgendwo muss er doch sein“, heulte sie. „Ich bin ganz sicher, dass ich heute schon gepinktelt habe.“
Annie musste so sehr husten, dass es sie zerriss. Ihre Brust brannte. Sie bereute beinahe, die Idee mit dem kleinen Scheißer gehabt zu haben. Aber nur beinahe, die Mädels hatten so viel Spaß. Sie presste beide Hände vor den Mund und krümmte sich.
„Ich k-k-k-komme!“, kreischte Polly in diesem Augenblick und landete mit einem Satz auf Mary. Das Mädchen und das altersschwache Bettgestell quietschten um die Wette. Einen Augenblick lang sah man nur wirbelnde Beine und Röcke, während Polly unzusammenhängend schrie: „Ich hab ihn gefunden. Ich hab ihn.“
Mit hochrotem Kopf tauchte sie aus den Kissen auf und hielt einen dürren Stift in die Höhe, mit dem sie in der Luft herumstocherte.
„Ich…“
Ihre Augen wurden groß. Sie klappte den Mund zu, und das Stäbchen sackte in ihren schlaffen Fingern nach unten. Die Frauen schrien vor Lachen. Es dauerte eine Weile, ehe sie begriffen, dass Polly nicht mehr spielte. Sie drehten sich um, eine nach der anderen.
Ein Mann stand in der Türe. Tränen brannten in seinen Augen.
„D-das war b-böse von euch“, lispelte er hasserfüllt. „G-ganz böse.“
Annie war aufgestanden, aber auch sie wusste nichts zu sagen. Der Mann starrte sie noch einmal an, jede einzelne, als wolle er sich ihre Gesichter genau einprägen, dann drehte er auf dem Absatz um und rannte in den Regen.
„Der war mal wütend“, sagte Liz betroffen. Die anderen schwiegen, als stünden sie immer noch unter dem Bann der kleinen, wässrigen Augen. Mary zitterte.
„Der tut uns schon nichts“, murmelte Polly und legte dem Mädchen die Hand auf die Schulter.
„Blöder kleiner Scheißer“, schnaubte Kate nach einer langen Pause. Sie sprang auf und rannte ans Fenster. Die Straße war menschenleer.
„Jackie ist ein blöder kleiner Scheißer!“, brüllte sie in den Regen. „Du bist ein schwarzloser Bastard, Jack. Wir haben keine Angst vor Jack the Shitter!“
Sie drehte sich um und starrte trotzig in die blassen Gesichter ihrer Freundinnen. „Wir haben keine Angst. Wir haben nichts Schlimmes getan“, wiederholte sie. „Haben wir doch nicht. Oder?“

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